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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kanarische Kiefer

Erst wenn der Weg in die Höhe steigt, sich in Ser­pen­ti­nen hin­auf­schwingt, beginnt es, grün zu wer­den. Die Bäu­me hier tra­gen lan­ge Nadeln, viel län­ge­re als die Kie­fern, die wir uns zum Jah­res­en­de ins Wohn­zim­mer stel­len. Und sie sind wohl auch die Ursa­che (oder Fol­ge), wes­halb sie nur auf den Ber­gen und nicht in der Ufer­zo­ne wach­sen. In die­ser Höhe zie­hen Wol­ken über die Inseln, und die auch Pini­en genann­ten Bäu­me fil­tern die Nebel mit ihren Nadeln, mel­ken gleich­sam das Was­ser, wel­ches sie und die zu ihren Füßen wach­sen­den Pflan­zen zum Leben benö­ti­gen. Die Kie­fern ste­hen auf fel­si­gen Eilan­den vor der West­kü­ste Afri­kas und sind ende­misch, weil sie nur hier vorkommen.

Wir fah­ren hin­auf nach Vil­a­flor. Das Dorf sei das auf Tene­rif­fa höchst­ge­le­ge­ne, heißt es. Die Häu­ser zie­hen sich bei etwa andert­halb­tau­send Metern am Hang hin, flan­kiert von Kak­teen, Äckern und Wein­fel­dern. Die mei­sten Anwe­sen befin­den sich in einem anse­hens­wer­ten Zustand. Nur am zen­tra­len Platz, den eine Kir­che und eine Kapel­le krö­nen, ste­hen zwei Gebäu­de, an der die Denk­mal­pfle­ge noch eini­ges zu tun hat. In der Kir­che, die nach einem im Ort gebo­re­nen Zie­gen­hir­ten benannt ist, sind die Restau­ra­to­ren gera­de dabei, Fres­ken unter meh­re­ren Farb­schich­ten frei­zu­le­gen. Die­se stam­men wohl aus dem 17. Jahr­hun­dert, als das Got­tes­haus errich­tet wur­de, also aus jener Zeit, als der Zie­gen­hir­te Her­ma­no Pedro über den Gro­ßen Teich fuhr und in Gua­te­ma­la mis­sio­nier­te, wofür ihn Papst Johan­nes Paul II. hei­lig­sprach. Seit­her – im kom­men­den Som­mer zum zwan­zig­sten Male – fei­ert all­jähr­lich Vil­a­flor sie­ben Tage lang den ersten Hei­li­gen der Kana­ren. Ein Teil eines ver­bor­ge­nen Wand­bil­des in San Pedro ist bereits frei­ge­legt, und an eini­gen ande­ren Stel­len der Kir­chen­wand – offen­kun­dig auf der Suche nach wei­te­ren Wand­bil­dern – sind qua­drat­zen­ti­me­ter­gro­ße Schich­ten abge­tra­gen, mit fort­lau­fen­den Zif­fern beschrif­tet, dane­ben, eben­falls mit Blei­stift ver­merkt, die Schich­ten 0 bis 3 auf­ge­führt. Mit­hin: Die Restau­ra­to­ren müs­sen mit ihrem Besteck vor­sich­tig drei Farb­be­deckun­gen abtra­gen, um ein Bild auf Ebe­ne Null zu ent­decken. Nicht alle Gra­bungs­ver­su­che för­der­ten Farb­li­ches zuta­ge, wie ich sehe, manch­mal ist nur der blan­ke Putz auf dem Grund zu erkennen.

An der Kir­che geht die Stra­ße vor­bei, die zum eigent­li­chen Anlass unse­res Auf­stiegs führt: die höch­ste und dick­ste Kie­fer des gan­zen Archi­pels, Pino Gordo genannt. Der Weg ist schmal und steil und macht, dass der Atem bald kür­zer geht. Dank­bar quit­tie­ren wir, dass uns ein Rie­sen­la­ster den Weg ver­sperrt und wir ver­har­ren kön­nen. Der Sat­tel­zug fährt rück­wärts an eine über­dach­te Lade­ram­pe von Fuen­te­al­ta, die Abfüll­an­la­ge der hie­si­gen Quel­le, die ver­mut­lich in erheb­li­chem Maße zum sicht­ba­ren Wohl­stand des Dor­fes bei­trägt. Das ist gro­ße Kunst, wie der Fah­rer ohne Schram­men die Ein­fahrt nimmt, wel­che ihm nur weni­ge Zen­ti­me­ter Manö­vrier­raum erlaubt. Respekt. Dann rauscht das Werk­tor hin­un­ter und das Mine­ral­was­ser ver­nehm­lich in den Kes­seln. Es braucht drei­ßig Jah­re von oben, vom Tei­de, bis hier­her zur Quel­le, wo es auf Fla­schen gezo­gen wird.

Wir schnau­fen wei­ter hin­auf, pas­sie­ren Los Lava­de­ros, das ein­sti­ge Wasch­haus. Vor­mals, also noch bevor man auf den Trich­ter kam, das Berg­was­ser zu trin­ken und zu ver­kau­fen, trieb es eine Was­ser­müh­le und floss durch stei­ner­ne Trö­ge, an denen die Frau­en im Kol­lek­tiv die Wäsche rub­bel­ten. Die Wasch­bret­ter aus Stein, ein histo­ri­sches Zeug­nis aus ver­flos­se­nen Jahr­hun­der­ten, über­deckt heu­te ein Dach, damit es der Nach­welt noch lan­ge zur Ansicht erhal­ten bleibt.

Und dann, end­lich, nach einer wei­ten Schlei­fe, reckt sich El Pino Gordo fast fünf­zig Meter in die Höhe. Er über­ragt alle ande­ren Pini­en, die neben ihm wach­sen. Wuch­tig der Stamm, aus dem die gewal­ti­gen Äste abge­hen, asym­me­trisch und kei­nem Bau­plan fol­gend. Eigent­lich so wirr wie die im Inter­net ver­brei­te­ten Anga­ben über das Alter des Natur­denk­mals. Die Schät­zun­gen schwan­ken zwi­schen zwei­hun­dert und acht­hun­dert Jah­ren, die einen spre­chen von der älte­sten kana­ri­schen Kie­fer, die ande­ren gar von der älte­sten Kie­fer der Welt. Egal, es ist ein gewal­ti­ger Baum, der beein­druckt. Der Stamm, am Fuß an die zehn Meter im Umfang, wird von schrun­di­ger Bor­ke umhüllt, die Ris­se sind zen­ti­me­ter­tief. Die Demut, die unser­ei­ner emp­fin­det, wird augen­schein­lich nicht von allen geteilt. Mit spit­zen Gegen­stän­den fei­er­te der Fre­vel Urständ, Idio­ten aller Län­der hin­ter­lie­ßen in der jahr­hun­der­te­al­ten Rin­de ihre unle­ser­li­chen Namen. Pino Gordo erträgt es mit Wür­de und wird auch das überleben.

Die Kraft, die die­sen Bäu­men inne­wohnt, ihr Über­le­bens­wil­le ist bemer­kens­wert. Die Insel bedecken vie­le Lava­fel­der, Hin­ter­las­sen­schaft unzäh­li­ger Vul­kan­aus­brü­che – die letz­te Erup­ti­on erfolg­te vor reich­lich hun­dert Jah­ren, Wie­der­ho­lung ist jeder­zeit mög­lich. Doch unauf­ge­regt kehrt die Natur zurück. Wur­zeln von Kie­fern umkral­len mit­un­ter die schwar­zen und brau­nen Brocken, bil­den bizar­re Gebil­de im Zusam­men­wir­ken, die einen Stau­nen machen. Viel­leicht ist es die Ehr­furcht vor dem Leben, dass auf der Insel sich nie­mand zu Weih­nach­ten eine Kie­fer für eine kur­ze Zeit ins Wohn­zim­mer stellt, um sie anschlie­ßend als Müll zu ent­sor­gen. Die Insu­la­ner beschen­ken sich am Drei­kö­nigs­tag, dem 6. Janu­ar, und erfreu­en sich an den all­ge­gen­wär­ti­gen Instal­la­tio­nen, die Sze­nen aus der Bibel nach­ge­stellt sind.