Erst wenn der Weg in die Höhe steigt, sich in Serpentinen hinaufschwingt, beginnt es, grün zu werden. Die Bäume hier tragen lange Nadeln, viel längere als die Kiefern, die wir uns zum Jahresende ins Wohnzimmer stellen. Und sie sind wohl auch die Ursache (oder Folge), weshalb sie nur auf den Bergen und nicht in der Uferzone wachsen. In dieser Höhe ziehen Wolken über die Inseln, und die auch Pinien genannten Bäume filtern die Nebel mit ihren Nadeln, melken gleichsam das Wasser, welches sie und die zu ihren Füßen wachsenden Pflanzen zum Leben benötigen. Die Kiefern stehen auf felsigen Eilanden vor der Westküste Afrikas und sind endemisch, weil sie nur hier vorkommen.
Wir fahren hinauf nach Vilaflor. Das Dorf sei das auf Teneriffa höchstgelegene, heißt es. Die Häuser ziehen sich bei etwa anderthalbtausend Metern am Hang hin, flankiert von Kakteen, Äckern und Weinfeldern. Die meisten Anwesen befinden sich in einem ansehenswerten Zustand. Nur am zentralen Platz, den eine Kirche und eine Kapelle krönen, stehen zwei Gebäude, an der die Denkmalpflege noch einiges zu tun hat. In der Kirche, die nach einem im Ort geborenen Ziegenhirten benannt ist, sind die Restauratoren gerade dabei, Fresken unter mehreren Farbschichten freizulegen. Diese stammen wohl aus dem 17. Jahrhundert, als das Gotteshaus errichtet wurde, also aus jener Zeit, als der Ziegenhirte Hermano Pedro über den Großen Teich fuhr und in Guatemala missionierte, wofür ihn Papst Johannes Paul II. heiligsprach. Seither – im kommenden Sommer zum zwanzigsten Male – feiert alljährlich Vilaflor sieben Tage lang den ersten Heiligen der Kanaren. Ein Teil eines verborgenen Wandbildes in San Pedro ist bereits freigelegt, und an einigen anderen Stellen der Kirchenwand – offenkundig auf der Suche nach weiteren Wandbildern – sind quadratzentimetergroße Schichten abgetragen, mit fortlaufenden Ziffern beschriftet, daneben, ebenfalls mit Bleistift vermerkt, die Schichten 0 bis 3 aufgeführt. Mithin: Die Restauratoren müssen mit ihrem Besteck vorsichtig drei Farbbedeckungen abtragen, um ein Bild auf Ebene Null zu entdecken. Nicht alle Grabungsversuche förderten Farbliches zutage, wie ich sehe, manchmal ist nur der blanke Putz auf dem Grund zu erkennen.
An der Kirche geht die Straße vorbei, die zum eigentlichen Anlass unseres Aufstiegs führt: die höchste und dickste Kiefer des ganzen Archipels, Pino Gordo genannt. Der Weg ist schmal und steil und macht, dass der Atem bald kürzer geht. Dankbar quittieren wir, dass uns ein Riesenlaster den Weg versperrt und wir verharren können. Der Sattelzug fährt rückwärts an eine überdachte Laderampe von Fuentealta, die Abfüllanlage der hiesigen Quelle, die vermutlich in erheblichem Maße zum sichtbaren Wohlstand des Dorfes beiträgt. Das ist große Kunst, wie der Fahrer ohne Schrammen die Einfahrt nimmt, welche ihm nur wenige Zentimeter Manövrierraum erlaubt. Respekt. Dann rauscht das Werktor hinunter und das Mineralwasser vernehmlich in den Kesseln. Es braucht dreißig Jahre von oben, vom Teide, bis hierher zur Quelle, wo es auf Flaschen gezogen wird.
Wir schnaufen weiter hinauf, passieren Los Lavaderos, das einstige Waschhaus. Vormals, also noch bevor man auf den Trichter kam, das Bergwasser zu trinken und zu verkaufen, trieb es eine Wassermühle und floss durch steinerne Tröge, an denen die Frauen im Kollektiv die Wäsche rubbelten. Die Waschbretter aus Stein, ein historisches Zeugnis aus verflossenen Jahrhunderten, überdeckt heute ein Dach, damit es der Nachwelt noch lange zur Ansicht erhalten bleibt.
Und dann, endlich, nach einer weiten Schleife, reckt sich El Pino Gordo fast fünfzig Meter in die Höhe. Er überragt alle anderen Pinien, die neben ihm wachsen. Wuchtig der Stamm, aus dem die gewaltigen Äste abgehen, asymmetrisch und keinem Bauplan folgend. Eigentlich so wirr wie die im Internet verbreiteten Angaben über das Alter des Naturdenkmals. Die Schätzungen schwanken zwischen zweihundert und achthundert Jahren, die einen sprechen von der ältesten kanarischen Kiefer, die anderen gar von der ältesten Kiefer der Welt. Egal, es ist ein gewaltiger Baum, der beeindruckt. Der Stamm, am Fuß an die zehn Meter im Umfang, wird von schrundiger Borke umhüllt, die Risse sind zentimetertief. Die Demut, die unsereiner empfindet, wird augenscheinlich nicht von allen geteilt. Mit spitzen Gegenständen feierte der Frevel Urständ, Idioten aller Länder hinterließen in der jahrhundertealten Rinde ihre unleserlichen Namen. Pino Gordo erträgt es mit Würde und wird auch das überleben.
Die Kraft, die diesen Bäumen innewohnt, ihr Überlebenswille ist bemerkenswert. Die Insel bedecken viele Lavafelder, Hinterlassenschaft unzähliger Vulkanausbrüche – die letzte Eruption erfolgte vor reichlich hundert Jahren, Wiederholung ist jederzeit möglich. Doch unaufgeregt kehrt die Natur zurück. Wurzeln von Kiefern umkrallen mitunter die schwarzen und braunen Brocken, bilden bizarre Gebilde im Zusammenwirken, die einen Staunen machen. Vielleicht ist es die Ehrfurcht vor dem Leben, dass auf der Insel sich niemand zu Weihnachten eine Kiefer für eine kurze Zeit ins Wohnzimmer stellt, um sie anschließend als Müll zu entsorgen. Die Insulaner beschenken sich am Dreikönigstag, dem 6. Januar, und erfreuen sich an den allgegenwärtigen Installationen, die Szenen aus der Bibel nachgestellt sind.