Wer kennt sie nicht, die farbigen Bändchen mit den schön gestalteten Umschlägen und dem unverwechselbaren Titelschildchen? Es gibt zahllose Sammler der ästhetisch ansprechenden Insel-Bücherei, die 1912 durch den Verleger Anton Kippenberg (in Zusammenarbeit mit Stefan Zweig) gegründet wurde. Am 2. Juli 1912 wurden die ersten zwölf Bände in die Buchhandlungen geliefert. Die Auftaktband enthielt die Prosadichtung »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, deren Verlagsrechte Kippenberg kurz zuvor erworben hatte. Ende 1913 waren bereits über 90 Titel im Handel verfügbar, und ein Jahr später hatte die Insel-Bücherei die Gesamtauflage von 1 Million Exemplaren überschritten.
Während des Ersten Weltkrieges machte die allgemeine Kriegsbegeisterung auch nicht vor der Insel-Bücherei Halt, was sich in vielen kriegsbezogenen Bänden zeigte. Ende der 1920er Jahre wurden viele dieser Bandnummern mit neuen Titeln belegt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mussten viele Titel jüdischer und nicht genehmer AutorInnen aus dem Verlagsprogramm zurückgezogen werden, u. a. Stefan Zweig und Heinrich Heine. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt der Insel Verlag eine Genehmigung zum Vertrieb von Lagerbeständen und zum Nachdruck älterer Titel. Erst mit der Verlagslizenz 1947 konnte man wieder neue Titel veröffentlichen. Während der Existenz der beiden Staaten führte der Insel-Verlag Zweigstellen in Ost und West (Leipzig und Wiesbaden/Frankfurt am Main), die beide die Buchreihe weiterführten. So wurde 1974 in Leipzig mit »Ich will wirken in dieser Zeit – Druckgraphik in der DDR« Band 1000 der Insel-Bücherei herausgeben; erst vier Jahre später folgte Frankfurt am Main mit dem Jubiläumsband »›Das Tagebuch‹ Goethes und Rilkes ›Sieben Gedichte‹«. Nach der Wiedervereinigung wurden die beiden Teilverlage wieder zusammengeführt; doch der Verlag firmierte weiter unter den beiden Verlagsorten, wobei Leipzig nur als Niederlassung geführt wurde. Seit 2010 hat der Insel Verlag seinen Sitz in Berlin.
2012 zum 100. Jubiläum der Buchreihe wurden bereits 1.365 Nummern gezählt. In diesem Jahr stand nun ein weiteres Jubiläum an: Band 1500. Der herausgehobene Jubiläumsband wurde dem 150. Geburtstag des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922) gewidmet, der vor allem durch sein Hauptwerk, den monumentalen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, bekannt ist. Der Insel-Band »Briefe an seine Nachbarin« präsentiert 26 undatierte Briefe aus den Jahren 1908 bis 1916, die Proust, der damals in einem Haus am Pariser Boulevard Haussmann 102 wohnte, an seine Nachbarin Madame Williams, die Gattin eines amerikanischen Zahnarztes, gerichtet hat. Die Wohnung der Williams und die Zahnarztpraxis liegen direkt über seiner Wohnung und so leidet der kränkelnde und hochsensible Proust, der hier wesentliche Teile seines Jahrhundertwerkes schuf, häufig unter Lärm. Die Angst vor Lärm ist so groß, dass er seine Wände und Decken mit Korkplatten verkleiden lässt.
In diesen nun zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlichten Briefen bittet er seine Nachbarn z. B., keinen Lärm zu den von ihm angegebenen Zeiten zu machen (»Darf ich für morgen um Gnade bitten?«). Der Ton in den Briefen bleibt aber stets freundschaftlich. Leider sind die Antworten von Madame Williams nicht erhalten. Aber aus Prousts Zeilen lässt sich erahnen, dass sich seine Nachbarin für dessen Werk interessiert. Also macht er sich die Mühe und erklärt ihr vieles. Ein literarischer und doch kurioser Briefwechsel über Jahre hinweg; dabei hätte man ja einfach ein paar Treppenstufen hoch- oder runtergehen können. Trotzdem sind »Briefe an seine Nachbarin« ein wunderbares und überraschendes Buch – nicht nur für Proust-Fans.