Zu den Errungenschaften, die mit der Wiedervereinigung über uns gekommen sind, gehörten vor den Jahren auch einige Praktiken, die nach zwei Jahrzehnten schon wieder mal einer Erwähnung wert sind. Dazu zählen die zumindest mir vorher nicht geläufigen jahresendlichen Rundbriefe – eine wunderbare Erfindung. Als Ossi, der sich früher mit individuellen Grüßen und Wünschen zum Jahreswechsel fast die Finger wundgeschrieben oder plattgetippt hat, ein wahrer Segen!
Dasselbe Schreiben für 147 Verwandte, Freunde und Bekannte. Wahnsinn! Niemand kann sich unterbewertet oder übervorteilt fühlen, jeder erhält haargenau dieselben Informationen, und der RBV, also der Rundbrief-Verfasser, spart massenhaft Zeit. Es kann auch nicht mehr vorkommen, dass man in familiären oder bekanntschaftlichen Hader gerät, weil man nicht mehr weiß, was man an wen über wen geschrieben hat – ein nicht zu unterschätzender Garant des Familien- und Weltfriedens.
Mitbürgern, die an diese Segnung der modernen Kommunikation noch zögerlich herangehen und der Überzeugungskraft Erfahrener bedürfen, sei das folgende Muster empfohlen:
Liebe Ariane, lieber Heribert,
endlich ist es wieder so weit. Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, die lang ersehnten Tage der Besinnung und inneren Einkehr rücken näher, und ihr, liebe Verwandte und Freunde, wartet gewiss schon voller Ungeduld auf unsere jahresendlichen Nachrichten.
Es geht uns, von Onkel Arturs links wieder aufgetretenem Fußpilz abgesehen, gottlob gut.
Maurice-Berthold durfte beim Weihnachtssingen im Apostel-Koriander-Refugium eigenhändig einen Refräng zelebrieren, und Großtante Adelheid liefen die Tränen der Bewunderung noch Tage später aus dem offenen Mund.
Die Religionslehrerin von Agnes-Adelgunde hat erst neulich wieder auf die ungewöhnliche Begabung unseres Nesthäkchens für die Nuklearmedizin hingewiesen. Und dabei ist Gundi äußerst sensibel und spielt Einsteins 6. Sinfonie auf dem Triangel schon fast auswendig!
In der Vorsaison waren wir wieder mal mit den Kindern auf Roberto Blanko. Das Hotel hatte zwar keine Gardinen, aber das Personal sprach gut deutsch. Nur das Zimmermädchen hatte immer so ulkige Versprecher. Wir haben viel gelacht. Verena hat sie dann korrigiert und ihr unseren Sprachführer geschenkt. Sie war sehr dankbar dafür, und wir brauchen ihn ja sowieso nicht.
Im Oktober waren wir dann noch mal auf dem Reiterhof in Stutenhausen, aber nur von Montag bis Donnerstag, da ist es preiswerter. Verena hatte leider einen bösen Unfall. Sie ist beim Hindernisreiten arg unter den Falben gestürzt, weil der Reitlehrer, ein Zivi, das Pferd zu früh losgelassen hatte. Sie hat einen Hüftaufschwung erlitten und sich die Hypophyse geprellt, aber jetzt geht sie schon wieder zum Faszinieren zum King Peng Dong.
In unserem Wintergarten blüht es wie eh und je in der trüben Jahreszeit. Die Mitternachtsneurose, nein, nicht die rote, sondern die gestreifte, hat diesmal schon an Heiligabend gestreut. Unsere neue Hilfe, nein, nicht die Rumänin, diese Person haben wir entlassen müssen, weil, die hat unseren Husky unsittlich berührt, nein, die Slowakin, vielleicht lernt ihr sie noch kennen, wenn ihr euren Besuch nicht zu lange hinausschiebt, die hat eine glückliche Hand für die Exoten. Onkel Artur sagt das auch.
Für die Kultur haben wir in diesem Jahr viel getan. Einmal waren wir in der Oper, es war sehr schön, mit langen Kleidern und Brillanten und so. Die Sängerin kam aus der Ukraine und soll auch schon im New Yorker Metronom gesungen haben, sehr hoch. Jetzt hat sie ein Apartemang in Berlin, aber nur einmal in der Woche, an den anderen Tagen macht sie bei Studienrat Fürchtegott sauber. Daher kennen wir sie ja auch. Ich war nur in der ersten Halbzeit im Zuschauerraum, ich hatte in der Pause meine Brasil nicht geschafft. Zum Schluss bin ich aber wieder hineingegangen, zum Applaudieren, die Künstler brauchen das ja.
Das Orchester soll übrigens nächstes Jahr mit den »Böhsen Onkelz« fusionieren, weil, die Substitutionen werden gekürzt. So wird die Kultur kaputt gemacht, es ist alles sehr traurig.
Verena hat im Sommer auch wieder ein Buch angefangen, das Britta-Marlén Konopke im Fernsehen empfohlen hat. Ein sehr gutes Buch, über 300 Seiten. Es kam aber immer wieder was dazwischen. Früher hatten die Leute eben mehr Zeit.
Apropos früher: Oma Brigitte hat ihr Faltboot endlich doch verkauft. Was soll sie auch damit, seitdem Opa Erich nicht mehr ist, und im Wohnzimmer nimmt es nur Platz weg. Trotzdem:
Oft denken wir an ihre lustigen Schilderungen über die Paddelfahrten durch die Berliner Abwasserkanäle zurück. Was haben wir da gegluckert! Ja, alles Schöne geht einmal zu Ende.
Jetzt wünschen wir euch erholsame und gesunde Feiertage im Kreise eurer Lieben und einen guten Rutsch und vor allem Frieden! Schlimm, was man so in der Zeitung über Kriege überall in der Welt liest, hoffentlich bleibt wenigstens bei uns alles ruhig.
Und die armen hungrigen Kinder in der Welt, schade, dass man nicht überall helfen kann! Wir werden beim Gänsebraten gewiss an sie denken!
Man möchte gar nicht mehr das Fernsehen anschalten, so nervig ist das alles!
Übrigens hat unsere Hilfe den Grünkohl zum Gänsebraten diesmal zwei Tage lang köcheln lassen, mit Schweinefett, etwas Knoblauch und Thymian. Super, sag’ ich euch!
Aber es muss ja auch nicht immer Tafelspitz sein! Manchmal tut es auch ein Eintopf wie an den Sonntagen in meiner Kindheit! Und jeder hat halt einen anderen Geschmack, und Birne Helene mit Vanille-Eis nach dem Braten ist auch nicht jedermanns Sache. Voriges Jahr musste ich danach mehrmals aufstoßen. Man ist halt auch nicht mehr der Jüngste, und der Ärger mit dem Betriebsrat geht mir auf den Magen. Jeder hat eben ein anderes schwaches Glied!
Wir denken oft an euch, ihr Lieben, und umarmen euch! Passt nur um Christi willen gut auf euch auf!
Euer Karl-Bernfried sowie Verena nebst Maurice-Berthold und Agnes-Adelgunde sowie Kater Mozart und Onkel Artur