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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Israel in Venedig

Nicht alles ist Lüge oder Pro­pa­gan­da, was ein Land der Welt über sich selbst erzählt. Aber kein Land mag der Welt gern über sei­ne Kri­sen, Kämp­fe und Ver­bre­chen erzäh­len. Die Regie­run­gen las­sen ande­re für sich spre­chen, von denen sie wis­sen, dass sie unab­hän­gig und krea­tiv von den eige­nen gro­ßen Sor­gen und Pro­ble­men ablen­ken. Kunst und Kul­tur sind die gro­ßen Kom­mu­ni­ka­to­ren, die alle­mal glaub­haf­ter erzäh­len als eine Regie­rung. Und so finan­zie­ren alle Regie­run­gen mit ihrer Kul­tur­po­li­tik die Erzäh­lun­gen, die ihr gefal­len, ohne den Makel einer Regie­rungs­er­klä­rung zu tra­gen. So etwa, wie es die israe­li­schen Regie­run­gen seit Jahr­zehn­ten in Vene­dig hal­ten. Sie besit­zen seit 1980 in den Giar­di­ni, dem Aus­stel­lungs­ge­län­de der jähr­lich alter­nie­ren­den Kunst- und Archi­tek­tur-Bien­na­le, einen Pavil­lon gleich neben dem Pavil­lon der USA. Sie laden Künst­le­rin­nen und Künst­ler ein, dies­mal unter dem Mot­to der 17. Archi­tek­tur-Bien­na­le »Wie wir leben wol­len«, ihre Geschich­te von Isra­el zu erzäh­len – finan­ziert von der Regierung.

Der Auf­trag wur­de an ein Team von fünf Kura­to­rin­nen und Kura­to­ren ver­ge­ben, die wie­der­um zahl­rei­che (18) Künst­le­rin­nen und Künst­ler beauf­trag­ten, ein Kon­zept für die Aus­stel­lung zu ent­wickeln. Sie nann­ten es »Land. Milk. Honey«. Anknüp­fend an Got­tes Ver­hei­ßung aus dem bren­nen­den Busch an Moses, das Volk »in ein Land, wo Milch und Honig flie­ßen«, zu füh­ren, lie­ßen sie aller­dings das Volk bei­sei­te und wid­me­ten sich aus­schließ­lich dem Land, in das sie zogen, um es zum Blü­hen zu brin­gen, sei­ner Fau­na und Flo­ra. Sie begrün­de­ten das mit dem Bekennt­nis: »Indem wir die Geschich­te des Lan­des und sei­ner Tie­re erzäh­len, wol­len wir uns von der men­schen­zen­trier­ten Welt­sicht lösen, die in den Berei­chen Archi­tek­tur, Geschich­te und Poli­tik so vor­herr­schend ist, und eine kri­ti­sche Ana­ly­se der viel­fäl­ti­gen räum­li­chen Pro­zes­se vor­le­gen, die in einem umstrit­te­nen Land inner­halb einer rela­tiv kur­zen Zeit­span­ne von etwa 150 Jah­ren statt­ge­fun­den haben.« Sie ergän­zen das mit einem Zitat von Ben Guri­on, dem Grün­der Isra­els und ersten Pre­mier­mi­ni­ster: »Es gibt nichts wich­ti­ge­res und wert­vol­le­res für den Men­schen, als einen ver­wü­ste­ten Ort zum Blü­hen zu brin­gen, und das kann mit Wil­len, Arbeit und wis­sen­schaft­li­chen Mit­teln gesche­hen.« Denn das Land, in das sie seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert gezo­gen kamen, war elend und abwei­send. So schil­dern das in der Tat zahl­rei­che Berich­te von Rei­sen in das Otto­ma­ni­sche Palä­sti­na, die in der Aus­stel­lung ein­zu­se­hen sind. Etwa der von Geor­ge Pitt, einem eng­li­schen Rei­sen­den im 19. Jahr­hun­dert, mit dem Resü­mee: »Unter allen Län­dern ist Palä­sti­na jetzt ver­wü­stet, unwirt­lich und verflucht.«

Und so illu­striert die Aus­stel­lung die alte Geschich­te der Kolo­ni­sie­rung eines her­un­ter­ge­kom­me­nen und lee­ren Lan­des, die »räum­li­che und bio­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on« eines ärm­li­chen Lan­des in ein »Land der Fül­le«: »Das zio­ni­sti­sche Pro­jekt der Fül­le, wel­ches im letz­ten Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts begann und bis zu die­sen Tagen andau­ert, ist ein kom­ple­xer Satz von Welt­sich­ten, Ideo­lo­gien und Moti­va­tio­nen, es ist ein poli­tisch-natio­na­les Pro­jekt, ein wirt­schaft­li­ches Unter­neh­men, eine Zuflucht vor der Ver­fol­gung und eine Vari­an­te kolo­nia­ler Prak­ti­ken. Neben all die­sem ist der Zio­nis­mus eine näh­ren­de Pflan­ze – eine syste­ma­ti­sche Agen­da, um das bei­spiel­lo­se Wachs­tum, wel­ches wäh­rend des 20. Jahr­hun­derts statt­fand, zu unter­stüt­zen (von 157.000 Men­schen, die 1922 zwi­schen dem Jor­d­an­fluss und dem Mit­tel­meer leb­ten, auf mehr als 13 Mio. heu­te. 2050 wird die Bevöl­ke­rung 20 Mio. errei­chen).« Wohl­ge­merkt nur die jüdi­sche Bevölkerung.

Die Aus­stel­lung ver­weist auf den »Bericht über Ein­wan­de­rung, Besied­lung und Ent­wick­lung« von John Hope Simpson, der 1930 im Auf­trag der bri­ti­schen Regie­rung in Palä­sti­na unter­wegs war. So aus­führ­lich der Bericht über Boden, Land­wirt­schaft, Bewäs­se­rung etc. zitiert wird, dar­über, wie der Bericht­erstat­ter die Poli­tik der Land­käu­fe ein­schätzt, erfährt man nichts. Dabei hat er sich über die­se Poli­tik durch­aus Gedan­ken dar­über gemacht: »Das Resul­tat der Land­käu­fe in Palä­sti­na durch den Jüdi­schen Natio­nal­fonds ist, dass das Land extra-ter­ri­to­ri­al gewor­den ist. Es hat auf­ge­hört, Land zu sein, aus dem der Ara­ber jetzt oder in Zukunft Vor­teil zie­hen kann. Es ist nicht damit getan, dass er nie­mals mehr hof­fen kann, das Land zu pach­ten oder zu bebau­en, son­dern er wird für immer von jeder Beschäf­ti­gung auf die­sem Land aus­ge­schlos­sen. Auch ist es unmög­lich, die­ses Land zurück­zu­kau­fen und der all­ge­mei­nen Benut­zung wie­der zur Ver­fü­gung zu stel­len. Das Land ist unver­käuf­lich und unver­äu­ßer­lich. Es ist das ein Grund, dass die Ara­ber die zio­ni­sti­schen Bekun­dun­gen von Freund­schaft und gutem Wil­len bezwei­feln; denn die Poli­tik, die die Zio­ni­sti­sche Orga­ni­sa­ti­on bewusst ange­nom­men hat, wider­spricht die­sen Bekun­dun­gen. (…) Das Prin­zip des stän­di­gen und über­leg­ten Boy­kotts ara­bi­scher Arbeit in den zio­ni­sti­schen Sied­lun­gen wider­spricht nicht nur den Bestim­mun­gen des Arti­kels 6 des Man­dats, son­dern ist dar­über hin­aus eine andau­ern­de und sich ver­stär­ken­de Quel­le der Gefahr im Land« (Gre­at Bri­tain, Pal­e­sti­ne…, Sir John Hope Simpson, 1930, S. 54 f.).

Obwohl sich die Aus­stel­lung in ihren drei Kapi­teln »Land«, »Milch und Honig« und »Hoch­was­ser« vor allem mit der Züch­tung einer hebräi­schen Kuh, der Milch­in­du­strie als Basis der Kolo­ni­sie­rung Palä­sti­nas, der Ansied­lung von Bie­nen und den Was­ser­büf­feln in den Sümp­fen im Nor­den des Jor­dan­tals beschäf­tigt, kann sie die ara­bi­sche Bevöl­ke­rung nicht voll­kom­men über­se­hen. Im Gegen­satz zum Sied­ler, der »die Wild­nis erblü­hen« lässt, wird der Ara­ber in einem Aus­zug aus der Palä­sti­nen­si­schen Post vom 11. Okto­ber 1934 unter dem Titel: »Der Ara­ber, die Zie­ge und das Kamel« gemein­sam mit den Tie­ren als »die Zer­stö­rer der Wüste« vor­ge­stellt: »Indem sie den gewöhn­li­chen, durch die Wit­te­rung ver­ur­sach­ten Ver­schleiß aus­zu­bes­sern glaub­ten und mut­wil­lig alles zer­stör­ten, wofür sie kei­ne unmit­tel­ba­re Ver­wen­dung fin­den konn­ten, haben die Ara­ber das Land in die Ver­wü­stung zurück­glei­ten las­sen, aus der es vor ihrer Ankunft eine kräf­ti­ge­re Ras­se zurück­ge­won­nen hat­te. Bei die­sem Feld­zug der Zer­stö­rung wur­de der Ara­ber von die­sen bei­den Tie­ren – dem Kamel und der Zie­ge – treu unter­stützt, die bei­de Van­da­len und Phi­li­ster des ersten Was­sers sind.«

Freund­li­che­re Wor­te fin­den die Aus­stel­lungs­ma­cher und -mache­rin­nen auch im Jahr 2021 nicht über ihre Nach­barn, außer dass die Palä­sti­nen­si­sche Post noch zu berich­ten weiß, dass Rechts­strei­tig­kei­ten die gro­ße Lei­den­schaft der Ara­ber sei­en, die alles ande­re über­schat­te. Selbst in dem mit »Bun­ker« über­schrie­be­nen Epi­log der Aus­stel­lung gibt es zu dem Mot­to der Bien­na­le »Wie wir leben wol­len« kei­ne Per­spek­ti­ve für die ara­bi­sche Bevöl­ke­rung. Die Rei­se führt zum Jor­dan, dort­hin, wo die Israe­li­ten den Fluss auf ihrer »Rück­kehr aus Ägyp­ten in das Land Cana­an« über­quert haben sol­len und Jesus von Johan­nes dem Täu­fer getauft wor­den sein soll. Die Land­schaft mit etli­chen Klö­stern war noch geprägt von alten ver­fal­le­nen Mili­tär­an­la­gen, wo sich tau­sen­de von ägyp­ti­schen Frucht-Fle­der­mäu­sen ange­sie­delt hat­ten. Anfang der sech­zi­ger Jah­re betrieb man ihre Ver­nich­tung mit dem Ner­ven­gas Lind­an, um die Pil­ger­schaft zu schüt­zen und einer mög­li­chen Pest vorzubeugen.

Erst lan­ge nach dem Besuch die­ses düste­ren Pavil­lons begrei­fe ich den meta­pho­ri­schen Schrecken die­ses Epi­logs. »Wie wir leben wol­len« erschöpft sich auch für die­se Gene­ra­ti­on jun­ger jüdi­scher Israe­lis in dem Kampf um Land und der noch lan­ge nicht been­de­ten Auf­ga­be, eine Wüste erblü­hen zulas­sen und vor der Pest zu bewah­ren. In der gna­den­lo­sen Bekämp­fung von Gefah­ren, ob von Fle­der­mäu­sen oder Ara­bern, kommt die abgrund­tie­fe Ver­ach­tung gegen­über den Men­schen zum Aus­druck, mit denen sie nicht gemein­sam leben wollen.

Sie scheu­en sich aller­dings, die wah­re Iden­ti­tät des zio­ni­sti­schen Pro­jek­tes zu erzäh­len, wie es Woche für Woche die UN-Orga­ni­sa­ti­on of the Coor­di­na­ti­on of Human Affairs (UN OCHA) tut: »Heu­te, am 7. Juli, kehr­te die israe­li­sche Zivil­ver­wal­tung (ICA), beglei­tet vom Mili­tär, zum ersten Mal seit dem 22. Febru­ar in die palä­sti­nen­si­sche Hir­ten­ge­mein­de Hum­sa-Al Bqai›a im Jor­dan­tal zurück. Die ICA zer­stör­te 27 Wohn- und Vieh­ge­bäu­de sowie Was­ser­tanks und kon­fis­zier­te Lebens­mit­tel­pa­ke­te und nicht zusam­men­ge­bau­te Gebäu­de, so dass die Gemein­de ohne Nah­rung und Was­ser dastand. Sie kon­fis­zier­ten auch alle per­sön­li­chen Gegen­stän­de, ein­schließ­lich Lebens­mit­tel, Milch für die Kin­der, Klei­dung, Hygie­ne­ma­te­ri­al und Spiel­zeug. Auch ihr Vieh wur­de ohne Fut­ter und Was­ser zurück­ge­las­sen. Elf Haus­hal­te mit rund 70 Per­so­nen, dar­un­ter 36 Kin­der, wur­den erneut ver­trie­ben und sind in erhöh­ter Gefahr, zwangs­um­ge­sie­delt zu wer­den. (…) Etwa 11 der heu­te abge­ris­se­nen oder beschlag­nahm­ten Struk­tu­ren waren als huma­ni­tä­re Reak­ti­on auf ähn­li­che Mas­sen­zer­stö­run­gen am 3., 8. und 22. Febru­ar bereit­ge­stellt wor­den, bei denen 55 Struk­tu­ren abge­ris­sen oder beschlag­nahmt wor­den waren.«

Davon, von die­ser Wirk­lich­keit im nur »gelob­ten« Land, weiß die Aus­stel­lung »Land. Milk. Honey« im israe­li­schen Pavil­lon in Vene­dig rein gar nichts zu erzäh­len. Mehr über die­se Wirk­lich­keit steht Woche für Woche in den Berich­ten von UN OCHA.