Nicht alles ist Lüge oder Propaganda, was ein Land der Welt über sich selbst erzählt. Aber kein Land mag der Welt gern über seine Krisen, Kämpfe und Verbrechen erzählen. Die Regierungen lassen andere für sich sprechen, von denen sie wissen, dass sie unabhängig und kreativ von den eigenen großen Sorgen und Problemen ablenken. Kunst und Kultur sind die großen Kommunikatoren, die allemal glaubhafter erzählen als eine Regierung. Und so finanzieren alle Regierungen mit ihrer Kulturpolitik die Erzählungen, die ihr gefallen, ohne den Makel einer Regierungserklärung zu tragen. So etwa, wie es die israelischen Regierungen seit Jahrzehnten in Venedig halten. Sie besitzen seit 1980 in den Giardini, dem Ausstellungsgelände der jährlich alternierenden Kunst- und Architektur-Biennale, einen Pavillon gleich neben dem Pavillon der USA. Sie laden Künstlerinnen und Künstler ein, diesmal unter dem Motto der 17. Architektur-Biennale »Wie wir leben wollen«, ihre Geschichte von Israel zu erzählen – finanziert von der Regierung.
Der Auftrag wurde an ein Team von fünf Kuratorinnen und Kuratoren vergeben, die wiederum zahlreiche (18) Künstlerinnen und Künstler beauftragten, ein Konzept für die Ausstellung zu entwickeln. Sie nannten es »Land. Milk. Honey«. Anknüpfend an Gottes Verheißung aus dem brennenden Busch an Moses, das Volk »in ein Land, wo Milch und Honig fließen«, zu führen, ließen sie allerdings das Volk beiseite und widmeten sich ausschließlich dem Land, in das sie zogen, um es zum Blühen zu bringen, seiner Fauna und Flora. Sie begründeten das mit dem Bekenntnis: »Indem wir die Geschichte des Landes und seiner Tiere erzählen, wollen wir uns von der menschenzentrierten Weltsicht lösen, die in den Bereichen Architektur, Geschichte und Politik so vorherrschend ist, und eine kritische Analyse der vielfältigen räumlichen Prozesse vorlegen, die in einem umstrittenen Land innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne von etwa 150 Jahren stattgefunden haben.« Sie ergänzen das mit einem Zitat von Ben Gurion, dem Gründer Israels und ersten Premierminister: »Es gibt nichts wichtigeres und wertvolleres für den Menschen, als einen verwüsteten Ort zum Blühen zu bringen, und das kann mit Willen, Arbeit und wissenschaftlichen Mitteln geschehen.« Denn das Land, in das sie seit dem späten 19. Jahrhundert gezogen kamen, war elend und abweisend. So schildern das in der Tat zahlreiche Berichte von Reisen in das Ottomanische Palästina, die in der Ausstellung einzusehen sind. Etwa der von George Pitt, einem englischen Reisenden im 19. Jahrhundert, mit dem Resümee: »Unter allen Ländern ist Palästina jetzt verwüstet, unwirtlich und verflucht.«
Und so illustriert die Ausstellung die alte Geschichte der Kolonisierung eines heruntergekommenen und leeren Landes, die »räumliche und biologische Transformation« eines ärmlichen Landes in ein »Land der Fülle«: »Das zionistische Projekt der Fülle, welches im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann und bis zu diesen Tagen andauert, ist ein komplexer Satz von Weltsichten, Ideologien und Motivationen, es ist ein politisch-nationales Projekt, ein wirtschaftliches Unternehmen, eine Zuflucht vor der Verfolgung und eine Variante kolonialer Praktiken. Neben all diesem ist der Zionismus eine nährende Pflanze – eine systematische Agenda, um das beispiellose Wachstum, welches während des 20. Jahrhunderts stattfand, zu unterstützen (von 157.000 Menschen, die 1922 zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer lebten, auf mehr als 13 Mio. heute. 2050 wird die Bevölkerung 20 Mio. erreichen).« Wohlgemerkt nur die jüdische Bevölkerung.
Die Ausstellung verweist auf den »Bericht über Einwanderung, Besiedlung und Entwicklung« von John Hope Simpson, der 1930 im Auftrag der britischen Regierung in Palästina unterwegs war. So ausführlich der Bericht über Boden, Landwirtschaft, Bewässerung etc. zitiert wird, darüber, wie der Berichterstatter die Politik der Landkäufe einschätzt, erfährt man nichts. Dabei hat er sich über diese Politik durchaus Gedanken darüber gemacht: »Das Resultat der Landkäufe in Palästina durch den Jüdischen Nationalfonds ist, dass das Land extra-territorial geworden ist. Es hat aufgehört, Land zu sein, aus dem der Araber jetzt oder in Zukunft Vorteil ziehen kann. Es ist nicht damit getan, dass er niemals mehr hoffen kann, das Land zu pachten oder zu bebauen, sondern er wird für immer von jeder Beschäftigung auf diesem Land ausgeschlossen. Auch ist es unmöglich, dieses Land zurückzukaufen und der allgemeinen Benutzung wieder zur Verfügung zu stellen. Das Land ist unverkäuflich und unveräußerlich. Es ist das ein Grund, dass die Araber die zionistischen Bekundungen von Freundschaft und gutem Willen bezweifeln; denn die Politik, die die Zionistische Organisation bewusst angenommen hat, widerspricht diesen Bekundungen. (…) Das Prinzip des ständigen und überlegten Boykotts arabischer Arbeit in den zionistischen Siedlungen widerspricht nicht nur den Bestimmungen des Artikels 6 des Mandats, sondern ist darüber hinaus eine andauernde und sich verstärkende Quelle der Gefahr im Land« (Great Britain, Palestine…, Sir John Hope Simpson, 1930, S. 54 f.).
Obwohl sich die Ausstellung in ihren drei Kapiteln »Land«, »Milch und Honig« und »Hochwasser« vor allem mit der Züchtung einer hebräischen Kuh, der Milchindustrie als Basis der Kolonisierung Palästinas, der Ansiedlung von Bienen und den Wasserbüffeln in den Sümpfen im Norden des Jordantals beschäftigt, kann sie die arabische Bevölkerung nicht vollkommen übersehen. Im Gegensatz zum Siedler, der »die Wildnis erblühen« lässt, wird der Araber in einem Auszug aus der Palästinensischen Post vom 11. Oktober 1934 unter dem Titel: »Der Araber, die Ziege und das Kamel« gemeinsam mit den Tieren als »die Zerstörer der Wüste« vorgestellt: »Indem sie den gewöhnlichen, durch die Witterung verursachten Verschleiß auszubessern glaubten und mutwillig alles zerstörten, wofür sie keine unmittelbare Verwendung finden konnten, haben die Araber das Land in die Verwüstung zurückgleiten lassen, aus der es vor ihrer Ankunft eine kräftigere Rasse zurückgewonnen hatte. Bei diesem Feldzug der Zerstörung wurde der Araber von diesen beiden Tieren – dem Kamel und der Ziege – treu unterstützt, die beide Vandalen und Philister des ersten Wassers sind.«
Freundlichere Worte finden die Ausstellungsmacher und -macherinnen auch im Jahr 2021 nicht über ihre Nachbarn, außer dass die Palästinensische Post noch zu berichten weiß, dass Rechtsstreitigkeiten die große Leidenschaft der Araber seien, die alles andere überschatte. Selbst in dem mit »Bunker« überschriebenen Epilog der Ausstellung gibt es zu dem Motto der Biennale »Wie wir leben wollen« keine Perspektive für die arabische Bevölkerung. Die Reise führt zum Jordan, dorthin, wo die Israeliten den Fluss auf ihrer »Rückkehr aus Ägypten in das Land Canaan« überquert haben sollen und Jesus von Johannes dem Täufer getauft worden sein soll. Die Landschaft mit etlichen Klöstern war noch geprägt von alten verfallenen Militäranlagen, wo sich tausende von ägyptischen Frucht-Fledermäusen angesiedelt hatten. Anfang der sechziger Jahre betrieb man ihre Vernichtung mit dem Nervengas Lindan, um die Pilgerschaft zu schützen und einer möglichen Pest vorzubeugen.
Erst lange nach dem Besuch dieses düsteren Pavillons begreife ich den metaphorischen Schrecken dieses Epilogs. »Wie wir leben wollen« erschöpft sich auch für diese Generation junger jüdischer Israelis in dem Kampf um Land und der noch lange nicht beendeten Aufgabe, eine Wüste erblühen zulassen und vor der Pest zu bewahren. In der gnadenlosen Bekämpfung von Gefahren, ob von Fledermäusen oder Arabern, kommt die abgrundtiefe Verachtung gegenüber den Menschen zum Ausdruck, mit denen sie nicht gemeinsam leben wollen.
Sie scheuen sich allerdings, die wahre Identität des zionistischen Projektes zu erzählen, wie es Woche für Woche die UN-Organisation of the Coordination of Human Affairs (UN OCHA) tut: »Heute, am 7. Juli, kehrte die israelische Zivilverwaltung (ICA), begleitet vom Militär, zum ersten Mal seit dem 22. Februar in die palästinensische Hirtengemeinde Humsa-Al Bqai›a im Jordantal zurück. Die ICA zerstörte 27 Wohn- und Viehgebäude sowie Wassertanks und konfiszierte Lebensmittelpakete und nicht zusammengebaute Gebäude, so dass die Gemeinde ohne Nahrung und Wasser dastand. Sie konfiszierten auch alle persönlichen Gegenstände, einschließlich Lebensmittel, Milch für die Kinder, Kleidung, Hygienematerial und Spielzeug. Auch ihr Vieh wurde ohne Futter und Wasser zurückgelassen. Elf Haushalte mit rund 70 Personen, darunter 36 Kinder, wurden erneut vertrieben und sind in erhöhter Gefahr, zwangsumgesiedelt zu werden. (…) Etwa 11 der heute abgerissenen oder beschlagnahmten Strukturen waren als humanitäre Reaktion auf ähnliche Massenzerstörungen am 3., 8. und 22. Februar bereitgestellt worden, bei denen 55 Strukturen abgerissen oder beschlagnahmt worden waren.«
Davon, von dieser Wirklichkeit im nur »gelobten« Land, weiß die Ausstellung »Land. Milk. Honey« im israelischen Pavillon in Venedig rein gar nichts zu erzählen. Mehr über diese Wirklichkeit steht Woche für Woche in den Berichten von UN OCHA.