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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Iran hat gewählt?

Noch weni­ge Wochen vor den Prä­si­dent­schafts- und Kom­mu­nal­wah­len in Iran war von dem bevor­ste­hen­den, wie man­che mein­ten, schick­sal­haf­ten Ereig­nis kaum etwas zu spü­ren. Es war nicht allein die Epi­de­mie, die die Men­schen in Iran beschäf­tig­te, es war auch eine resi­gna­ti­ve Unlust, eine Gleich­gül­tig­keit, die den Wah­len ent­ge­gen­ge­bracht wur­de. Denn das Ergeb­nis stand von vorn­her­ein fest. Wozu die Wahl? Ich kann den Aus­gang eh nicht bestim­men, wer­den wohl vie­le gedacht haben.

Tat­säch­lich sind die Wah­len in Iran eine Far­ce. Ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung ist von poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen aus­ge­schlos­sen. Wer sich außer­halb des isla­mi­schen Lagers befin­det und zum säku­la­ren Teil der Bevöl­ke­rung zählt, bekommt kei­ne Mög­lich­keit, sei­ne Mei­nung zu äußern, geschwei­ge denn, an poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen betei­ligt zu werden.

Macht­kämp­fe, Kon­kur­renz und poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen fin­den inner­halb des isla­mi­schen Lagers statt, das Jahr für Jahr klei­ner wird. Und je enger der Kreis wird, desto mas­si­ver wird die Gewalt gegen Andersdenkende.

Bei den ver­gan­ge­nen Prä­si­dent­schafts­wah­len ist die über­wie­gen­de Mehr­heit, trotz aller Ein­schrän­kun­gen und Mani­pu­la­tio­nen, noch zur Wahl gegan­gen, weil zumin­dest immer ein Kan­di­dat dabei war, von dem man sich Ände­run­gen erhoff­te. Zuletzt war es Hassan Roha­ni, der ver­sprach, eine rasche wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung in Gang zu set­zen, das Land nach Innen und Außen zu öff­nen, die Zen­sur zu mil­dern und die Rech­te der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, auch die der Min­der­hei­ten, zu akzep­tie­ren. Davon wur­de kaum etwas eingelöst.

Aber die­ses Mal war es anders. Das Wahl­er­geb­nis stand auf­grund der »Vor­wahl«, die der für die Zulas­sung der Kan­di­da­ten zustän­di­ge Wäch­ter­rat getrof­fen hat­te, bereits fest. Der Rat hat­te unter 592 Bewer­bern nur sie­ben als geeig­net ein­ge­stuft. Bei den sie­ben han­del­te es sich um fünf Erz­kon­ser­va­ti­ve und zwei Gemä­ßig­te. Der Ein­zi­ge unter den sie­ben Kan­di­da­ten, der die Chan­ce hat­te, gewählt zu wer­den, war der amtie­ren­de Justiz­chef Ebra­him Rai­si. Damit hat­te der Wäch­ter­rat fak­tisch den Prä­si­den­ten gewählt, bevor die Wäh­ler zu den Urnen gehen konnten.

Offen­bar woll­ten die Macht­ha­ber die­ses Mal kein Risi­ko ein­ge­hen. Sie gin­gen bei der Aus­wahl sogar so weit, dass sie jeman­den wie den ein­fluss­rei­chen Ali Larid­scha­ni, der 12 Jah­re lang Par­la­ments­prä­si­dent war, als unge­eig­net ein­stuf­ten. Auch die Bewer­bun­gen des amtie­ren­den Vize­prä­si­den­ten Eshagh Dscha­h­an­gi­ri oder des frü­he­ren Staats­prä­si­den­ten Mah­mud Ahma­di­ned­schads wur­den abgelehnt.

Die Reak­ti­on auf die­se Miss­ach­tung des Wahl­rechts waren Auf­ru­fe zum Wahl­boy­kott. Grup­pen und Orga­ni­sa­tio­nen, auch bekann­te Per­sön­lich­kei­ten for­der­ten die Bevöl­ke­rung auf, die »Wah­len« zu igno­rie­ren. Das war das ein­zi­ge Mit­tel, um sich gegen die Arro­ganz der Macht zur Wehr zu set­zen. Und die Auf­ru­fe zeig­ten Wir­kung. Selbst das staat­li­che Fern­se­hen, das alles, was den isla­mi­schen Staat betrifft, schön­zu­fär­ben ver­sucht, ver­öf­fent­lich­te eine Umfra­ge über die mög­li­che Wahl­be­tei­li­gung. Dem­nach erklär­ten 52 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten, sie wer­den an der Wahl nicht teil­neh­men. Nur 32 Pro­zent beab­sich­tig­ten ihre Teil­nah­me. Der Rest war noch unentschieden.

Die Refor­mer, die bei der letz­ten Wahl eine Koali­ti­on mit gemä­ßig­ten Kon­ser­va­ti­ven ein­ge­gan­gen waren, befan­den sich in einer miss­li­chen Lage. Soll­ten sie an der Wahl teil­neh­men und dem ein­zi­gen Kan­di­da­ten, dem bis vor kur­zem amtie­ren­den Chef der Zen­tral­bank, Abdol­nas­ser Hem­ma­ti, der als mode­rat galt, ihre Stim­me geben, wür­den sie damit die Wah­len legi­ti­mie­ren. Wür­den sie die Teil­nah­me ver­wei­gern und zum Wahl­boy­kott auf­ru­fen, wür­den sie für lan­ge Jah­re weit mehr an den Rand des poli­ti­schen Gesche­hens gedrängt, als sie es ohne­hin schon waren. Damit schien ihre Lage aus­weg­los. Selbst bei den Bewer­bern für die Kom­mu­nal­wah­len, die im gan­zen Land gleich­zei­tig mit der Prä­si­den­ten­wahl statt­fan­den, waren die mei­sten Kan­di­da­ten der Refor­mer aus­ge­siebt wor­den. Die­se Bedeu­tungs­lo­sig­keit, in die sie gera­ten waren, war der Preis für all das, was sie ver­säumt hat­ten, als sie in der Bevöl­ke­rung eine brei­te Basis hat­ten. Auch jetzt waren sie nicht in der Lage, ein­heit­lich zu han­deln. Eini­ge folg­ten dem Auf­ruf zum Wahl­boy­kott, ande­re gaben ihre Stim­me ab.

Das Haupt­ziel der Refor­mer war, wie von ihnen bereits vor mehr als einem Jahr­zehnt ange­kün­digt, den Wider­spruch, der seit der Grün­dung der Isla­mi­schen Repu­blik zwi­schen einem isla­mi­schen und einem repu­bli­ka­ni­schen Staat besteht, nach und nach durch Refor­men zugun­sten eines repu­bli­ka­ni­schen Systems auf­zu­he­ben. Dafür gab es eini­ge Gele­gen­hei­ten, die die Refor­mer aber ver­strei­chen lie­ßen, weil sie um jeden Preis an der Macht betei­ligt blei­ben woll­ten. Mit dem Wahl­sieg von Rai­si und der damit ein­her­ge­hen­den Mono­po­li­sie­rung der gesam­ten Staats­macht durch Ultras und Erz­kon­ser­va­ti­ve ist die Ära der Refor­mer nun zu Ende.

Ebra­him Rai­si konn­te mit 61,9 Pro­zent der abge­ge­be­nen Stim­men die abso­lu­te Mehr­heit für sich ver­bu­chen. Die ande­ren Kan­di­da­ten lagen weit dahin­ter zurück. Zwei­ter wur­de Mohs­sen Resai mit 11,79 Pro­zent der Stim­men, Abdol­nas­ser Hem­ma­ti bekam 8,38 Pro­zent und Gha­sis­a­deh Hasche­mi 3,45 Pro­zent der Stimmen.

Span­nend bei die­ser Wahl war nicht die Fra­ge, wer als Sie­ger her­vor­ge­hen wird, son­dern die Fra­ge, wie hoch die Wahl­be­tei­li­gung sein wür­de. Tat­säch­lich fiel die Wahl­be­tei­li­gung so nied­rig aus wie noch nie in der 42-jäh­ri­gen Geschich­te der Isla­mi­schen Repu­blik. Sie lag bei 48,8 Pro­zent. In der Haupt­stadt Tehe­ran gin­gen nach Anga­ben des Innen­mi­ni­ste­ri­ums ledig­lich 26 Pro­zent der Wäh­ler zu den Wahl­ur­nen, das heißt von je vier Per­so­nen boy­kot­tier­ten drei die Wahl. Bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len vor vier Jah­ren lag die Wahl­be­tei­li­gung noch bei über 70 Prozent.

Zu den Wahl­ver­wei­ge­rern kamen noch jene Wäh­ler hin­zu, deren Stimm­zet­tel ungül­tig waren. Die Zahl der ungül­ti­gen Stim­men lag bei 3,7 Mil­lio­nen. Das ist sogar höher als die Zahl der Stim­men, die für den zwei­ten Kan­di­da­ten, Mohs­sen Resai, abge­ge­ben wur­den. Bei die­sen Wäh­lern han­delt es sich zumeist wohl um sol­che, die zwar aus Furcht vor den Fol­gen eines Wahl­boy­kotts gewählt, aber aus Pro­test ihren Stimm­zet­tel ungül­tig gemacht haben.

Die nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung und die hohe Zahl der ungül­ti­gen Stim­men sind für die Macht­ha­ber nie­der­schmet­ternd. Hat­te doch Revo­lu­ti­ons­füh­rer Ali Cha­men­ei vor nicht all­zu lan­ger Zeit noch über west­li­che Demo­kra­tien gespot­tet: In die­sen Staa­ten käme man bei Wah­len nicht über 50 Pro­zent Wahl­be­tei­li­gung hin­aus, wäh­rend in der Isla­mi­schen Repu­blik die Wahl­be­tei­li­gung noch nie unter 70 Pro­zent gewe­sen sei.

Pein­lich für die Macht­ha­ber ist auch, dass die Wahl ihre schma­le Basis in der Bevöl­ke­rung für jeder­mann sicht­bar mach­te. Zählt man die Wahl­ver­wei­ge­rer, die ungül­ti­gen Stim­men und die fast neun Pro­zent der Stim­men, die für den mode­ra­ten Kan­di­da­ten Abdol­nas­ser Hem­ma­ti abge­ge­ben wur­den, zusam­men, kommt man auf rund 70 Pro­zent. Das bedeu­tet, dass die Macht­ha­ber im besten Fall von 30 Pro­zent der Bevöl­ke­rung unter­stützt werden.

Den­noch sprach Cha­men­ei am Tag nach der Wahl von »einem gro­ßen Sieg« des ira­ni­schen Vol­kes. »Es hat sich aber­mals gezeigt, dass die Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne­rie der Fein­de und die trü­ge­ri­schen Gedan­ken der Zyni­ker nichts aus­rich­ten konn­ten«, sag­te er. »Das Volk hat sich wie­der ein­mal erho­ben und hat mit­ten im poli­ti­schen Herz des Lan­des Prä­senz gezeigt.«

Der frisch gewähl­te Prä­si­dent, Ebra­him Rai­si, ist weder cha­ris­ma­tisch noch beson­ders beliebt. Sei­nen Sieg ver­dankt er einer insze­nier­ten Ernen­nung. Er trägt einen schwar­zen Tur­ban, weil er angeb­lich von dem Pro­phe­ten Moham­med abstammt. Man­che behaup­ten, er habe nur die Grund­schu­le abge­schlos­sen, er selbst gibt an, pro­mo­vier­ter Jurist zu sein.

Wie vie­le Geist­li­che mach­te Rai­si im Zuge der isla­mi­schen Revo­lu­ti­on von 1979 rasch Kar­rie­re. 1960 in der hei­li­gen Stadt Maschad gebo­ren, wur­de er schon als 20-Jäh­ri­ger zum Gene­ral­staats­an­walt der Stadt Karadsch ernannt. Sei­ne Akti­vi­tä­ten und sein har­tes Vor­ge­hen in den Revo­lu­ti­ons­ge­rich­ten zeug­ten von abso­lu­ter Loya­li­tät gegen­über den Grund­sät­zen und Zie­len der Isla­mi­schen Repu­blik. Inner­halb weni­ger Jah­re stieg er zum Gene­ral­staats­an­walt von Tehe­ran auf, wur­de dann zum Vize­ju­stiz­chef ernannt, danach zum ira­ni­schen Gene­ral­staats­an­walt. Auf eine poli­ti­sche Kar­rie­re deu­te­te bis dahin wenig hin.

Erst als der Revo­lu­ti­ons­füh­rer Ali Cha­men­ei Rai­si zum Ver­wal­ter der reli­giö­sen Stif­tun­gen in der hei­li­gen Stadt Maschad ernann­te, eine Stel­lung, die ihm nicht nur reli­gi­ös, son­dern auch wirt­schaft­lich und poli­tisch gro­ße Macht ver­lieh, zeich­ne­te sich eine Wen­de in sei­nem beruf­li­chen Leben ab. In die­ser neu­en Posi­ti­on konn­te er sich erlau­ben, nach dem zweit­höch­sten Amt des Staa­tes zu grei­fen. Doch bei der Wahl des Prä­si­den­ten vor vier Jah­ren schei­ter­te er im Wett­be­werb gegen Hassan Rohani.

In Rai­sis Bio­gra­fie gibt es vie­le dunk­le, ja pech­schwar­ze Flecken. Er gehör­te jener 1988 von dem dama­li­gen Revo­lu­ti­ons­füh­rer Aya­tol­lah Cho­mei­ni ernann­ten vier­köp­fi­gen Grup­pe an, die als »Gre­mi­um des Todes« bezeich­net wird. Ihre Auf­ga­be war, die Gefäng­nis­se zu »säu­bern«. Das tat die Grup­pe auch gründ­lich und ließ meh­re­re tau­send poli­ti­sche Gefan­ge­ne hin­rich­ten. Die­ser Mas­sen­mord ist der größ­te Schand­fleck in der mehr als vier­zig­jäh­ri­gen Geschich­te der Isla­mi­schen Repu­blik. Selbst der damals desi­gnier­te Nach­fol­ger Cho­mei­nis, Aya­tol­lah Mon­ta­se­ri, ermahn­te die Grup­pe: »Ihr wer­det als schlimm­ste Ver­bre­cher in die Geschich­te eingehen.«

Auch für zahl­rei­che poli­ti­sche Gefan­ge­ne, die danach hin­ge­rich­tet wur­den, ist Rai­si mit­ver­ant­wort­lich. Beim Wahl­kampf vor vier Jah­ren erin­ner­te Roha­ni an die­se Taten und sag­te: »Die Wäh­ler in Iran wer­den nie­mals Men­schen akzep­tie­ren, die 38 Jah­re lang nichts ande­res gekannt haben als Hin­rich­tung und Gefäng­nis. Sie leh­nen Leu­te ab, die am Schreib­tisch Todes­ur­tei­le fäl­len.« Auf den Vor­wurf erwi­der­te Rai­si, er sei »stolz dar­auf, gegen Ver­rat und Ver­der­ben und für die Idea­le der Revo­lu­ti­on« gekämpft zu haben.

Als Rai­si zum Ver­wal­ter der reli­giö­sen Stif­tun­gen wur­de, mein­ten vie­le poli­ti­sche Beob­ach­ter, Grund die­ser Ernen­nung sei mög­li­cher­wei­se der Plan, ihn als Nach­fol­ger des Revo­lu­ti­ons­füh­rers auf­zu­bau­en. Sei­ne Wahl zum Prä­si­den­ten bestärkt die­se Ver­mu­tung. Auch Cha­men­ei war Staats­prä­si­dent, als er vom Exper­ten­rat zum Nach­fol­ger Aya­tol­lah Cho­mei­nis gewählt wurde.

Die Isla­mi­sten haben mit der Erobe­rung der Exe­ku­ti­ve sämt­li­che Instan­zen mono­po­li­siert. Doch der geball­ten Macht ste­hen die Zwän­ge der Zeit und ein Volk gegen­über, das in sei­ner über­wie­gen­den Mehr­heit nach Frei­heit, Gerech­tig­keit und kul­tu­rel­ler Ent­fal­tung dur­stet. Es ist erstaun­lich, wie weit Staat und Gesell­schaft sich inzwi­schen von­ein­an­der ent­fernt haben. Der Wahl­sieg des Hard­li­ners Rai­si wird die­se Ent­fer­nung verstärken.

Bah­man Nir­um­and, einst eine prä­gen­de Figur der west­deut­schen 68er-Bewe­gung, ist Jour­na­list und Autor zahl­rei­cher Bücher. Seit 20 Jah­ren ver­fasst er den monat­lich erschei­nen­den »Iran-Report« der Heinrich-Böll-Stiftung.