Noch wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Kommunalwahlen in Iran war von dem bevorstehenden, wie manche meinten, schicksalhaften Ereignis kaum etwas zu spüren. Es war nicht allein die Epidemie, die die Menschen in Iran beschäftigte, es war auch eine resignative Unlust, eine Gleichgültigkeit, die den Wahlen entgegengebracht wurde. Denn das Ergebnis stand von vornherein fest. Wozu die Wahl? Ich kann den Ausgang eh nicht bestimmen, werden wohl viele gedacht haben.
Tatsächlich sind die Wahlen in Iran eine Farce. Ein Großteil der Bevölkerung ist von politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Wer sich außerhalb des islamischen Lagers befindet und zum säkularen Teil der Bevölkerung zählt, bekommt keine Möglichkeit, seine Meinung zu äußern, geschweige denn, an politischen Entscheidungen beteiligt zu werden.
Machtkämpfe, Konkurrenz und politische Auseinandersetzungen finden innerhalb des islamischen Lagers statt, das Jahr für Jahr kleiner wird. Und je enger der Kreis wird, desto massiver wird die Gewalt gegen Andersdenkende.
Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen ist die überwiegende Mehrheit, trotz aller Einschränkungen und Manipulationen, noch zur Wahl gegangen, weil zumindest immer ein Kandidat dabei war, von dem man sich Änderungen erhoffte. Zuletzt war es Hassan Rohani, der versprach, eine rasche wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen, das Land nach Innen und Außen zu öffnen, die Zensur zu mildern und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, auch die der Minderheiten, zu akzeptieren. Davon wurde kaum etwas eingelöst.
Aber dieses Mal war es anders. Das Wahlergebnis stand aufgrund der »Vorwahl«, die der für die Zulassung der Kandidaten zuständige Wächterrat getroffen hatte, bereits fest. Der Rat hatte unter 592 Bewerbern nur sieben als geeignet eingestuft. Bei den sieben handelte es sich um fünf Erzkonservative und zwei Gemäßigte. Der Einzige unter den sieben Kandidaten, der die Chance hatte, gewählt zu werden, war der amtierende Justizchef Ebrahim Raisi. Damit hatte der Wächterrat faktisch den Präsidenten gewählt, bevor die Wähler zu den Urnen gehen konnten.
Offenbar wollten die Machthaber dieses Mal kein Risiko eingehen. Sie gingen bei der Auswahl sogar so weit, dass sie jemanden wie den einflussreichen Ali Laridschani, der 12 Jahre lang Parlamentspräsident war, als ungeeignet einstuften. Auch die Bewerbungen des amtierenden Vizepräsidenten Eshagh Dschahangiri oder des früheren Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschads wurden abgelehnt.
Die Reaktion auf diese Missachtung des Wahlrechts waren Aufrufe zum Wahlboykott. Gruppen und Organisationen, auch bekannte Persönlichkeiten forderten die Bevölkerung auf, die »Wahlen« zu ignorieren. Das war das einzige Mittel, um sich gegen die Arroganz der Macht zur Wehr zu setzen. Und die Aufrufe zeigten Wirkung. Selbst das staatliche Fernsehen, das alles, was den islamischen Staat betrifft, schönzufärben versucht, veröffentlichte eine Umfrage über die mögliche Wahlbeteiligung. Demnach erklärten 52 Prozent der Wahlberechtigten, sie werden an der Wahl nicht teilnehmen. Nur 32 Prozent beabsichtigten ihre Teilnahme. Der Rest war noch unentschieden.
Die Reformer, die bei der letzten Wahl eine Koalition mit gemäßigten Konservativen eingegangen waren, befanden sich in einer misslichen Lage. Sollten sie an der Wahl teilnehmen und dem einzigen Kandidaten, dem bis vor kurzem amtierenden Chef der Zentralbank, Abdolnasser Hemmati, der als moderat galt, ihre Stimme geben, würden sie damit die Wahlen legitimieren. Würden sie die Teilnahme verweigern und zum Wahlboykott aufrufen, würden sie für lange Jahre weit mehr an den Rand des politischen Geschehens gedrängt, als sie es ohnehin schon waren. Damit schien ihre Lage ausweglos. Selbst bei den Bewerbern für die Kommunalwahlen, die im ganzen Land gleichzeitig mit der Präsidentenwahl stattfanden, waren die meisten Kandidaten der Reformer ausgesiebt worden. Diese Bedeutungslosigkeit, in die sie geraten waren, war der Preis für all das, was sie versäumt hatten, als sie in der Bevölkerung eine breite Basis hatten. Auch jetzt waren sie nicht in der Lage, einheitlich zu handeln. Einige folgten dem Aufruf zum Wahlboykott, andere gaben ihre Stimme ab.
Das Hauptziel der Reformer war, wie von ihnen bereits vor mehr als einem Jahrzehnt angekündigt, den Widerspruch, der seit der Gründung der Islamischen Republik zwischen einem islamischen und einem republikanischen Staat besteht, nach und nach durch Reformen zugunsten eines republikanischen Systems aufzuheben. Dafür gab es einige Gelegenheiten, die die Reformer aber verstreichen ließen, weil sie um jeden Preis an der Macht beteiligt bleiben wollten. Mit dem Wahlsieg von Raisi und der damit einhergehenden Monopolisierung der gesamten Staatsmacht durch Ultras und Erzkonservative ist die Ära der Reformer nun zu Ende.
Ebrahim Raisi konnte mit 61,9 Prozent der abgegebenen Stimmen die absolute Mehrheit für sich verbuchen. Die anderen Kandidaten lagen weit dahinter zurück. Zweiter wurde Mohssen Resai mit 11,79 Prozent der Stimmen, Abdolnasser Hemmati bekam 8,38 Prozent und Ghasisadeh Haschemi 3,45 Prozent der Stimmen.
Spannend bei dieser Wahl war nicht die Frage, wer als Sieger hervorgehen wird, sondern die Frage, wie hoch die Wahlbeteiligung sein würde. Tatsächlich fiel die Wahlbeteiligung so niedrig aus wie noch nie in der 42-jährigen Geschichte der Islamischen Republik. Sie lag bei 48,8 Prozent. In der Hauptstadt Teheran gingen nach Angaben des Innenministeriums lediglich 26 Prozent der Wähler zu den Wahlurnen, das heißt von je vier Personen boykottierten drei die Wahl. Bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren lag die Wahlbeteiligung noch bei über 70 Prozent.
Zu den Wahlverweigerern kamen noch jene Wähler hinzu, deren Stimmzettel ungültig waren. Die Zahl der ungültigen Stimmen lag bei 3,7 Millionen. Das ist sogar höher als die Zahl der Stimmen, die für den zweiten Kandidaten, Mohssen Resai, abgegeben wurden. Bei diesen Wählern handelt es sich zumeist wohl um solche, die zwar aus Furcht vor den Folgen eines Wahlboykotts gewählt, aber aus Protest ihren Stimmzettel ungültig gemacht haben.
Die niedrige Wahlbeteiligung und die hohe Zahl der ungültigen Stimmen sind für die Machthaber niederschmetternd. Hatte doch Revolutionsführer Ali Chamenei vor nicht allzu langer Zeit noch über westliche Demokratien gespottet: In diesen Staaten käme man bei Wahlen nicht über 50 Prozent Wahlbeteiligung hinaus, während in der Islamischen Republik die Wahlbeteiligung noch nie unter 70 Prozent gewesen sei.
Peinlich für die Machthaber ist auch, dass die Wahl ihre schmale Basis in der Bevölkerung für jedermann sichtbar machte. Zählt man die Wahlverweigerer, die ungültigen Stimmen und die fast neun Prozent der Stimmen, die für den moderaten Kandidaten Abdolnasser Hemmati abgegeben wurden, zusammen, kommt man auf rund 70 Prozent. Das bedeutet, dass die Machthaber im besten Fall von 30 Prozent der Bevölkerung unterstützt werden.
Dennoch sprach Chamenei am Tag nach der Wahl von »einem großen Sieg« des iranischen Volkes. »Es hat sich abermals gezeigt, dass die Propagandamaschinerie der Feinde und die trügerischen Gedanken der Zyniker nichts ausrichten konnten«, sagte er. »Das Volk hat sich wieder einmal erhoben und hat mitten im politischen Herz des Landes Präsenz gezeigt.«
Der frisch gewählte Präsident, Ebrahim Raisi, ist weder charismatisch noch besonders beliebt. Seinen Sieg verdankt er einer inszenierten Ernennung. Er trägt einen schwarzen Turban, weil er angeblich von dem Propheten Mohammed abstammt. Manche behaupten, er habe nur die Grundschule abgeschlossen, er selbst gibt an, promovierter Jurist zu sein.
Wie viele Geistliche machte Raisi im Zuge der islamischen Revolution von 1979 rasch Karriere. 1960 in der heiligen Stadt Maschad geboren, wurde er schon als 20-Jähriger zum Generalstaatsanwalt der Stadt Karadsch ernannt. Seine Aktivitäten und sein hartes Vorgehen in den Revolutionsgerichten zeugten von absoluter Loyalität gegenüber den Grundsätzen und Zielen der Islamischen Republik. Innerhalb weniger Jahre stieg er zum Generalstaatsanwalt von Teheran auf, wurde dann zum Vizejustizchef ernannt, danach zum iranischen Generalstaatsanwalt. Auf eine politische Karriere deutete bis dahin wenig hin.
Erst als der Revolutionsführer Ali Chamenei Raisi zum Verwalter der religiösen Stiftungen in der heiligen Stadt Maschad ernannte, eine Stellung, die ihm nicht nur religiös, sondern auch wirtschaftlich und politisch große Macht verlieh, zeichnete sich eine Wende in seinem beruflichen Leben ab. In dieser neuen Position konnte er sich erlauben, nach dem zweithöchsten Amt des Staates zu greifen. Doch bei der Wahl des Präsidenten vor vier Jahren scheiterte er im Wettbewerb gegen Hassan Rohani.
In Raisis Biografie gibt es viele dunkle, ja pechschwarze Flecken. Er gehörte jener 1988 von dem damaligen Revolutionsführer Ayatollah Chomeini ernannten vierköpfigen Gruppe an, die als »Gremium des Todes« bezeichnet wird. Ihre Aufgabe war, die Gefängnisse zu »säubern«. Das tat die Gruppe auch gründlich und ließ mehrere tausend politische Gefangene hinrichten. Dieser Massenmord ist der größte Schandfleck in der mehr als vierzigjährigen Geschichte der Islamischen Republik. Selbst der damals designierte Nachfolger Chomeinis, Ayatollah Montaseri, ermahnte die Gruppe: »Ihr werdet als schlimmste Verbrecher in die Geschichte eingehen.«
Auch für zahlreiche politische Gefangene, die danach hingerichtet wurden, ist Raisi mitverantwortlich. Beim Wahlkampf vor vier Jahren erinnerte Rohani an diese Taten und sagte: »Die Wähler in Iran werden niemals Menschen akzeptieren, die 38 Jahre lang nichts anderes gekannt haben als Hinrichtung und Gefängnis. Sie lehnen Leute ab, die am Schreibtisch Todesurteile fällen.« Auf den Vorwurf erwiderte Raisi, er sei »stolz darauf, gegen Verrat und Verderben und für die Ideale der Revolution« gekämpft zu haben.
Als Raisi zum Verwalter der religiösen Stiftungen wurde, meinten viele politische Beobachter, Grund dieser Ernennung sei möglicherweise der Plan, ihn als Nachfolger des Revolutionsführers aufzubauen. Seine Wahl zum Präsidenten bestärkt diese Vermutung. Auch Chamenei war Staatspräsident, als er vom Expertenrat zum Nachfolger Ayatollah Chomeinis gewählt wurde.
Die Islamisten haben mit der Eroberung der Exekutive sämtliche Instanzen monopolisiert. Doch der geballten Macht stehen die Zwänge der Zeit und ein Volk gegenüber, das in seiner überwiegenden Mehrheit nach Freiheit, Gerechtigkeit und kultureller Entfaltung durstet. Es ist erstaunlich, wie weit Staat und Gesellschaft sich inzwischen voneinander entfernt haben. Der Wahlsieg des Hardliners Raisi wird diese Entfernung verstärken.
Bahman Nirumand, einst eine prägende Figur der westdeutschen 68er-Bewegung, ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Seit 20 Jahren verfasst er den monatlich erscheinenden »Iran-Report« der Heinrich-Böll-Stiftung.