Es gilt, eine Seltenheit zu bestaunen in den Zeiten wohlfeiler und oft wenig tiefgründiger Druckwaren. Es ist die Biografie »Die Leben des Paul Zech« von Alfred Hübner. Ein überaus treffender Titel, denn von Paul Zech stammt der Befund (in seinem »Selbstbildnis«), dass »jedes Leben tausendmal von tausend Leben gelebt« werde. Das schafft Intensität, zweifelsohne. Aber auch Probleme, denn bei so vielen Leben musste selbstverständlich erfunden werden. Darin war Paul Zech zwar Meister, aber auch er geriet manchmal in Konfusion und verwechselte Details. Die Energie, Zähigkeit und Akribie des Biografen beim Entwirren der von Paul Zech mit Fleiß betriebenen Verdunklungen, Maskeraden und Lügen nötigt allergrößten Respekt ab. Alfred Hübner betreibt eine Investigation, die Zech zu seinen Lebzeiten vielleicht den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hätte, obwohl ihm polizeiliche Ermittlungen nicht ganz unvertraut waren.
Denn der begnadete Dichter Paul Zech (1881 bis 1946) war eben nicht nur Lügner und Hochstapler, sondern auch Plagiator und Bücherdieb. Alfred Hübner vermag wirkungsvoll von dem Irrglauben zu kurieren, dass jemand, der mit Versen die Herzen und Sinne anrühren kann, zwangsläufig auch ein guter Mensch sein müsse. Aber das geschieht behutsam, zart manchmal, um Verständnis werbend, nie im Tone des Ermittlers, der im Namen irgendeiner Gerechtigkeit daherkommt und mit Donnerstimme Gericht hält. Eine leise, milde Ironie waltet, so wird jeder Überschwang, doch auch jede Verurteilung vermieden. Das ist meisterhafte Biografen-Arbeit, zumal im Falle Zech, der sich fast immer als »Opfer« sah (es manchmal auch wirklich war) und damit ganz gut fuhr. Andererseits: Es ist dieses Leben nicht nur Gaunerkomödie, sondern manchmal ein wirkliches Trauerspiel gewesen.
Der ungeheuren Stofffülle ist Alfred Hübners konventionelles Vorgehen beim biografischen Schreiben angemessen, nämlich mit der Geburt zu beginnen und mit dem Tod des »Biografierten« zu enden, wenngleich, passend zu dessen tragischem und komödiantischem Leben, ein Epilog nötig wird. So begleiten wir den Dichter Paul Zech aus der elenden Kindheit durch rauschhafte und erfolgreiche, manchmal auch armselige Jahre, bis zum Finale in Buenos Aires, wohin er 1933 geflohen war.
Die vorliegende Biografie macht deutlich, dass Zechs Bedeutung und Wirksamkeit auf dem Gebiet der Lyrik lagen. Seine rauschhaften Verse, die intensiven Naturbeschreibungen, die Gedichte über arbeitende Menschen, die zu seinen Lebzeiten begeisterte Leser fanden, vermögen auch heute noch zu bezaubern. Es ist gut, dass Alfred Hübners Werk konsequent und warmherzig einem großen deutschen Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Auftritt ermöglicht.
Natürlich war ein Dichter, der in vielen Leben zu Hause war, auch in vielen Genres der Literatur tätig. Er trat als Dramatiker hervor, die szenische Ballade »Das trunkene Schiff« über das Leben Arthur Rimbauds (1854 bis 1891) ist auch heute noch gut zu lesen und spielbar. Freilich reüssierte Paul Zech nicht immer als Theaterautor, so wurde er beispielsweise von Carl von Ossietzky für sein Stück »Verbrüderung« in der Berliner Volks-Zeitung abgekanzelt. Er habe als Lyriker sein Gepräge, als Dramatiker verleugne er sein Gesicht, indem er expressionistische Moden bediene.
Als Romanautor und Erzähler gab es in der DDR, besonders in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, für Zech eine Art Renaissance. Der Greifenverlag zu Rudolstadt edierte zum Beispiel die Romane »Deutschland, dein Tänzer ist der Tod« und »Michael M. irrt durch Buenos Aires«, die Kolportage nicht missen lassen, aber so rasant geschrieben sind, dass sie ein interessiertes Lesepublikum fanden. Es sind fesselnde Texte der Exilliteratur, wenn man sie als das liest, was sie sind: Romane. Dass sie als biografische Quellen nicht taugen, sondern dass sie auch Zech-Legenden transportieren, weist Alfred Hübner mit deutlichen Worten nach.
Zu bewundern ist immer wieder, wie der Autor »seinen« Paul Zech sozusagen ins Leben treten lässt. Er tut das, indem er dessen Lebensmultiplikationen zurückführt auf den »Grundfaktor«, sodass Zech nicht als Fantasieprodukt seiner selbst, sondern als der Mensch auftritt, der er war. Da Zech selbst diese »Wahrheit« weder liefern konnte noch wollte, muss sie der Biograf aus Briefen, Mitteilungen, aus Informationen seiner Zeitgenossen und der überaus zahlreichen Korrespondenzpartner gewinnen. Es ist also viel Nacherzählung aus Briefen oder daraus Zitiertes zu lesen. Das häuft sich in manchen Passagen vor dem Leser auf und fordert seine unbedingte Aufmerksamkeit, sogar das Zurückblättern und das Wiederlesen. Aber: Er kann sich fühlen, als sei er dabei gewesen.
Zurzeit ist es wieder stiller um Paul Zech geworden. Es wäre schön, wenn Alfred Hübners Buch dem faszinierenden Dichter und Menschen Paul Zech wieder mehr Aufmerksamkeit und Gehör verschaffen könnte. Dessen Angst war es immer, in Archiven zu verstauben. Diese Gefahr dürfte mit Alfred Hübners Buch geringer geworden sein. Sein Ziel, »ein Buch vorzulegen, das wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam zugleich ist«, ist in vollem Maße erreicht. Denn man liest nicht nur eine Biografie, sondern eine Literaturgeschichte des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und das ist ein unbedingter Gewinn!
Alfred Hübner: Die Leben des Paul Zech. Eine Biographie. Morio Verlag, 2021. 936 S., 48 €.