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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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In vielen Leben zu Hause

Es gilt, eine Sel­ten­heit zu bestau­nen in den Zei­ten wohl­fei­ler und oft wenig tief­grün­di­ger Druck­wa­ren. Es ist die Bio­gra­fie »Die Leben des Paul Zech« von Alfred Hüb­ner. Ein über­aus tref­fen­der Titel, denn von Paul Zech stammt der Befund (in sei­nem »Selbst­bild­nis«), dass »jedes Leben tau­send­mal von tau­send Leben gelebt« wer­de. Das schafft Inten­si­tät, zwei­fels­oh­ne. Aber auch Pro­ble­me, denn bei so vie­len Leben muss­te selbst­ver­ständ­lich erfun­den wer­den. Dar­in war Paul Zech zwar Mei­ster, aber auch er geriet manch­mal in Kon­fu­si­on und ver­wech­sel­te Details. Die Ener­gie, Zähig­keit und Akri­bie des Bio­gra­fen beim Ent­wir­ren der von Paul Zech mit Fleiß betrie­be­nen Ver­dunk­lun­gen, Mas­ke­ra­den und Lügen nötigt aller­größ­ten Respekt ab. Alfred Hüb­ner betreibt eine Inve­sti­ga­ti­on, die Zech zu sei­nen Leb­zei­ten viel­leicht den Angst­schweiß auf die Stirn getrie­ben hät­te, obwohl ihm poli­zei­li­che Ermitt­lun­gen nicht ganz unver­traut waren.

Denn der begna­de­te Dich­ter Paul Zech (1881 bis 1946) war eben nicht nur Lüg­ner und Hoch­stap­ler, son­dern auch Pla­gia­tor und Bücher­dieb. Alfred Hüb­ner ver­mag wir­kungs­voll von dem Irr­glau­ben zu kurie­ren, dass jemand, der mit Ver­sen die Her­zen und Sin­ne anrüh­ren kann, zwangs­läu­fig auch ein guter Mensch sein müs­se. Aber das geschieht behut­sam, zart manch­mal, um Ver­ständ­nis wer­bend, nie im Tone des Ermitt­lers, der im Namen irgend­ei­ner Gerech­tig­keit daher­kommt und mit Don­ner­stim­me Gericht hält. Eine lei­se, mil­de Iro­nie wal­tet, so wird jeder Über­schwang, doch auch jede Ver­ur­tei­lung ver­mie­den. Das ist mei­ster­haf­te Bio­gra­fen-Arbeit, zumal im Fal­le Zech, der sich fast immer als »Opfer« sah (es manch­mal auch wirk­lich war) und damit ganz gut fuhr. Ande­rer­seits: Es ist die­ses Leben nicht nur Gau­ner­ko­mö­die, son­dern manch­mal ein wirk­li­ches Trau­er­spiel gewesen.

Der unge­heu­ren Stoff­fül­le ist Alfred Hüb­ners kon­ven­tio­nel­les Vor­ge­hen beim bio­gra­fi­schen Schrei­ben ange­mes­sen, näm­lich mit der Geburt zu begin­nen und mit dem Tod des »Bio­gra­fier­ten« zu enden, wenn­gleich, pas­send zu des­sen tra­gi­schem und komö­di­an­ti­schem Leben, ein Epi­log nötig wird. So beglei­ten wir den Dich­ter Paul Zech aus der elen­den Kind­heit durch rausch­haf­te und erfolg­rei­che, manch­mal auch arm­se­li­ge Jah­re, bis zum Fina­le in Bue­nos Aires, wohin er 1933 geflo­hen war.

Die vor­lie­gen­de Bio­gra­fie macht deut­lich, dass Zechs Bedeu­tung und Wirk­sam­keit auf dem Gebiet der Lyrik lagen. Sei­ne rausch­haf­ten Ver­se, die inten­si­ven Natur­be­schrei­bun­gen, die Gedich­te über arbei­ten­de Men­schen, die zu sei­nen Leb­zei­ten begei­ster­te Leser fan­den, ver­mö­gen auch heu­te noch zu bezau­bern. Es ist gut, dass Alfred Hüb­ners Werk kon­se­quent und warm­her­zig einem gro­ßen deut­schen Lyri­ker der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts einen Auf­tritt ermöglicht.

Natür­lich war ein Dich­ter, der in vie­len Leben zu Hau­se war, auch in vie­len Gen­res der Lite­ra­tur tätig. Er trat als Dra­ma­ti­ker her­vor, die sze­ni­sche Bal­la­de »Das trun­ke­ne Schiff« über das Leben Arthur Rim­bauds (1854 bis 1891) ist auch heu­te noch gut zu lesen und spiel­bar. Frei­lich reüs­sier­te Paul Zech nicht immer als Thea­ter­au­tor, so wur­de er bei­spiels­wei­se von Carl von Ossietzky für sein Stück »Ver­brü­de­rung« in der Ber­li­ner Volks-Zei­tung abge­kan­zelt. Er habe als Lyri­ker sein Geprä­ge, als Dra­ma­ti­ker ver­leug­ne er sein Gesicht, indem er expres­sio­ni­sti­sche Moden bediene.

Als Roman­au­tor und Erzäh­ler gab es in der DDR, beson­ders in den acht­zi­ger Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts, für Zech eine Art Renais­sance. Der Grei­fen­ver­lag zu Rudol­stadt edier­te zum Bei­spiel die Roma­ne »Deutsch­land, dein Tän­zer ist der Tod« und »Micha­el M. irrt durch Bue­nos Aires«, die Kol­por­ta­ge nicht mis­sen las­sen, aber so rasant geschrie­ben sind, dass sie ein inter­es­sier­tes Lese­pu­bli­kum fan­den. Es sind fes­seln­de Tex­te der Exil­li­te­ra­tur, wenn man sie als das liest, was sie sind: Roma­ne. Dass sie als bio­gra­fi­sche Quel­len nicht tau­gen, son­dern dass sie auch Zech-Legen­den trans­por­tie­ren, weist Alfred Hüb­ner mit deut­li­chen Wor­ten nach.

Zu bewun­dern ist immer wie­der, wie der Autor »sei­nen« Paul Zech sozu­sa­gen ins Leben tre­ten lässt. Er tut das, indem er des­sen Lebens­mul­ti­pli­ka­tio­nen zurück­führt auf den »Grund­fak­tor«, sodass Zech nicht als Fan­ta­sie­pro­dukt sei­ner selbst, son­dern als der Mensch auf­tritt, der er war. Da Zech selbst die­se »Wahr­heit« weder lie­fern konn­te noch woll­te, muss sie der Bio­graf aus Brie­fen, Mit­tei­lun­gen, aus Infor­ma­tio­nen sei­ner Zeit­ge­nos­sen und der über­aus zahl­rei­chen Kor­re­spon­denz­part­ner gewin­nen. Es ist also viel Nach­er­zäh­lung aus Brie­fen oder dar­aus Zitier­tes zu lesen. Das häuft sich in man­chen Pas­sa­gen vor dem Leser auf und for­dert sei­ne unbe­ding­te Auf­merk­sam­keit, sogar das Zurück­blät­tern und das Wie­der­le­sen. Aber: Er kann sich füh­len, als sei er dabei gewesen.

Zur­zeit ist es wie­der stil­ler um Paul Zech gewor­den. Es wäre schön, wenn Alfred Hüb­ners Buch dem fas­zi­nie­ren­den Dich­ter und Men­schen Paul Zech wie­der mehr Auf­merk­sam­keit und Gehör ver­schaf­fen könn­te. Des­sen Angst war es immer, in Archi­ven zu ver­stau­ben. Die­se Gefahr dürf­te mit Alfred Hüb­ners Buch gerin­ger gewor­den sein. Sein Ziel, »ein Buch vor­zu­le­gen, das wis­sen­schaft­lich fun­diert und unter­halt­sam zugleich ist«, ist in vol­lem Maße erreicht. Denn man liest nicht nur eine Bio­gra­fie, son­dern eine Lite­ra­tur­ge­schich­te des spä­ten 19. Jahr­hun­derts und der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts – und das ist ein unbe­ding­ter Gewinn!

Alfred Hüb­ner: Die Leben des Paul Zech. Eine Bio­gra­phie. Morio Ver­lag, 2021. 936 S., 48 €.