Wir werden ihn nun nicht mehr in den Berliner Ausstellungen sehen und begrüßen können, diesen wunderbaren Menschen und erstaunlichen Künstler, der mit seinem Bart, seiner Kappe und dem schwarzen Gewand wie ein orthodoxer Geistlicher anmutete. Und das war er irgendwie auch – ein Garant für künstlerische Wahrhaftigkeit, Beständigkeit, und dennoch immer wieder von bewundernswerter Innovativkraft. Ronald-Paris, einer der bedeutendsten Maler und Grafiker der DDR und der Nachwendezeit, ist im Alter von 88 Jahren gestorben.
Expressiven Realismus, drastischen Realismus, auch plastische Malerei hat man seine Malweise genannt, und doch treffen solche Begriffe kaum auf sein Gesamtwerk zu beziehungsweise bezeichnen nur Teilstrecken seines Werkes. Das Werk dieses Malers ist höchst vielgestaltig, komplex, alles andere als homogen – stets hat er wieder neue Entwicklungen aufgegriffen, neue Themen und Motive in sein Werk einbezogen. Mal experimentierte er mit symbolischer Abstraktion und Verhärtung der Form, dann wieder mit raumbezogener Statuarik oder flutenden Bildräumen und Raumverschränkungen. Die sinnliche Auslegung der Farbe führte ihn ebenso zu dramatischen Farbklängen und glutvoller Bewegtheit wie zu gefühlvollen milden Valeurs. Als Neunundzwanzigjähriger, 1961, hat er schon gesagt: »Ich suchte Entsprechungen, um unsere heutige Zeit darzustellen.« Und das ist eine Schaffensmotivation für ihn geblieben.
In mehr als sechs Jahrzehnten hat sich Ronald Paris, der seit 1985 in Rangsdorf bei Berlin lebte und von 1993 bis 1999 als Professor an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle tätig war, mit Landschaften, Stillleben, Porträts, Figurenbildern, Akten, mythologischen Themen, bildnerischen Entgegensetzungen zu Werken der Literatur u.a. auseinandergesetzt. Er hat große Wandbilder und Wandteppiche für öffentliche Gebäude geschaffen und grafische Editionen herausgebracht. Er hat sein Leben Revue passieren lassen (Karlen Vesper: Ronald Paris – Wahr und wahrhaftig, 2012).
Was aber macht nun gerade seine Aquarelle der Ostseelandschaft, der Saale-Landschaft, aber auch seiner Reiseeindrücke aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Indien oder der Türkei aus den letzten drei Jahrzehnten so bleibend, so unvergänglich? Ein expressives zeichnerisches Gerüst verbindet sich mit einer dramatischen Lichtführung in seinen Rügen-Studien. Die jeweilige Perspektive nähert sich tastend der gegenständlichen Form, wobei oberstes Prinzip die sinnliche Einprägsamkeit bleibt. Die Erträge der Italienreisen scheinen dem Licht Piero della Francescos, eines der größten klassischen Maler der toskanischen Frührenaissance, zu folgen, das den Landschaftsraum durchflutet und durchdringt. Die Materie erscheint hier halbgeformt und erweckt den Eindruck, als wolle sie sich jeden Augenblick in dem Licht auflösen, aus dem sie gemacht ist. Farben als reiner Ausdruck einer sichtbaren Wirklichkeit, von Ronald Paris überhöht durch die bewusst genutzte Palette, wobei auch das Unbewusste eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt.
Nur wenn man selbst in der Provence gewandert ist, auf den kahlen, rötlichen Hügeln, den Pinienduft eingeatmet und in wirbelnde Helligkeit geschaut hat, dahin, wo die kreidegrauen Klippen der Kalkmassive im Licht zu gleiten und zu schwanken scheinen, nur dann kann man erfassen, was seine Aquarelle aus diesem Landschaftsraum sind – die Empfindung wird zur Wirklichkeit. Ronald Paris scheute die Wiederholung, er arbeitete in Serien, um sie zu vermeiden. Jedes Bild geht die Landschaft und die Entfernung vom Auge zu ihr neu an. Die Skala reicht von einer bloßen Vibration aus Wasserfarbe am Horizont, mit durchscheinenden unruhigen Konturen gemalt, die sich in den zartgrünen und lavendelfarbenen Umrissen der Bäume im Vordergrund wiederholen, bis zur massiven Festigkeit der Höhenzüge. Hier gehört jedes Teilchen der Fläche in einen ununterbrochenen Zusammenhang, eine Fläche der beständigen Form.
Während sich in den 1980er/1990er Jahren in den Motiven der Heimat und der Fremde noch eine topografische Erkennbarkeit der Orte und Landschaften ablesen lässt, hat man den Eindruck, dass das Motiv in den beiden letzten Jahrzehnten im Duktus einer noch spontaner ausgeführten Malerei zurücktritt. Das Motiv wird von dramatisch bewegten Flächen bedrängt, der Horizont durch das einfallende Licht malerisch überhöht. Die Faszination der bizarren Landschaft und der über sie herrschenden Naturgewalt hat den Künstler in den Bann gezogen. Sein Ich ist nicht mehr hinter die Bilder getreten, sondern es ist eingeflossen in das stoffliche Panorama seiner Entwürfe. Die Landschaft – ein Gewebe von Beziehungen, ein Stück Grenzenlosigkeit.
Mit seinen Bildnissen von Künstlern, Schriftstellern, Theaterleuten, Wissenschaftlern aus der DDR hat Paris einen originären Beitrag zum Menschenbild unserer Zeit erbracht. Wir sollen mit ihnen in einen geistigen Dialog eintreten, uns erinnern, was sie geleistet haben, in ihren Gesichtszügen forschen, ihr Wesen ergründen, nach Entsprechungen dessen suchen, was den Porträtierten eingegeben, was verdeckt angelegt und was von ihnen sichtbar geworden ist. Er hat den Dramatiker Heiner Müller (1988, Graphit) porträtiert, die Hand überlegend an den Kopf erhoben; trotz aller Schärfe wirkt sein Blick doch unendlich fern, in sich gekehrt und unerreichbar. Das ganzfigurige Sitzbild von Hanns Eisler (1987, Kohle) zeigt diesen in seiner körperlichen Präsenz – mit den Händen scheint er zu dirigieren –, und dieser in Gedanken dirigierende Eisler ist dann die stimmige Version geblieben. Im Blick der Grande Dame der Schauspielkunst, Inge Keller (2009, Kohle), wird die Gefährdung des Alters zunichte und verdichtet sich die physische Kraft zu leben. Erst mit 93 ist sie 2017 gestorben. Mit weit ausgreifender Armbewegung wiederum präsentiert sich der Opernregisseur Harry Kupfer (1988, Kohle) bei der Regiearbeit.
Ohne ein kompaktes Gefühl für Raum und Volumen könnten Bilder wie »Lear« (1984, Öl), »Jüdisches Requiem« (1988, Öl, zu Isaak Babel »Die drei Welten«) oder »Die Schändung des Marsyas« (1994, Gouache, nach einer Novelle von Franz Fühmann) kaum mit einer solchen Intensität zu uns sprechen. Ronald Paris lässt die Gewalttätigkeit zu sich langsam bewegenden oder vollkommen statischen Körperformen gerinnen und gibt seinen Szenen durch übertriebene Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund ein klaustrophobisch zusammengepresstes Aussehen. Aus der räumlichen Verdichtung gotischer Altarbilder (Paris hat 2004 auch einen Flügelaltar für seine Heimatstadt Sondershausen geschaffen) entsteht der Schauplatz moderner Kreuzigungen – eine brillante Synthese aus traditionellen Leidenssymbolen und einem Gefühl bedrohlicher Macht in den Gebrauchsgegenständen der Moderne. Die ironische Ambivalenz der Verfremdung wird bei Paris noch vertrackter durch die Bruchstückhaftigkeit der Bildteile, die den Betrachter unwillkürlich zu Fortsetzung und Ergänzung anregt. Die durch Fragmentierung bewirkte Verfremdung soll die Fantasie aktivieren.
Auf eine Besonderheit im Schaffen von Ronald Paris ist hier aber noch aufmerksam zu machen: Auf seine Collagen, wie sie der französische Kubismus – Picasso und Braque – einführte und wie sie Kurt Schwitters weiterentwickelte. Paris hat alles aufgehoben, was er vielleicht noch einmal hätte gebrauchen können, und er brachte auch von seinen vielen und weiten Reisen stets etwas mit, was andere anschließend wegwerfen würden. Von Zeit zu Zeit suchte er aus seiner »Wunderkiste« Schnipsel und Abfallgegenstände zusammen, auch aus von ihm zerstörten Arbeiten, ordnete sie rhythmisch und farblich, fügte auch mal eine Figuration, einen gedruckten Satz, einzelne Worte, einen Buchstaben oder eine Zahl ein, fand einen Titel, der den Betrachter zum Nachdenken anregen sollte, oder ließ die Arbeit ganz titellos. Fantasie und Zufall waren seine wichtigsten Gestaltungsfaktoren. Lustvoll setzte er auch auf Paradoxes. Mit seinen spielerischen Bildexperimenten wurde so eine neue Wirklichkeit erzeugt. Es entstand eine augenzwinkernde Kommunikation mit dem Betrachter. Die Bild-Erzählerrede hüpft von Einfall zu Einfall und spielt auch schon einmal mit Wort, Silbe oder Klang des Titels. Unversehens entdeckt der Betrachter den mal komischen, mal ernsthaften Widerspruch zwischen der Banalität der Kompositionselemente und der bildnerischen Idee des Ganzen.
Mit seinen Arbeiten ist Ronald Paris immer noch unterwegs – zu uns, unter uns.