Schon nach dem Mordanschlag auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, als zwei maskierte Täter in die Redaktionsräume der Zeitschrift eindrangen und elf Menschen bestialisch ermordeten (darunter ein zum Personenschutz abgestellter Polizist sowie ein weiterer Polizist auf der Flucht), gab es zahlreiche französische linke Intellektuelle, die die »Verantwortungslosigkeit« des Satiremagazins beklagten. Sie machten Charlie Hebdo letztlich selbst für das mörderische Inferno verantwortlich, weil Zeichnungen im Blatt immer wieder islamfeindlich gewesen seien. Beispielsweise auf einer Titelseite aus dem Jahr 2006, die Kurt Westergaard gewidmet war, der wegen seiner Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ebenfalls von Fundamentalisten mit dem Tod bedroht worden war. Was war auf dem Titelblatt zu sehen?
Ein bärtiger Mann mit Turban hält seinen Kopf zwischen den Händen. Er weint oder ist sehr ärgerlich. In der Sprechblase steht: »Schon hart, wenn einen Idioten lieben …!«. Die Zeilen über der Zeichnung erläutern: »Mohammed beklagt sich. Er wird von Fundamentalisten überrollt!« Der Prophet beklagt sich also über die Haltung seiner fanatischen Anhänger. In einer aufgeklärten, freien Gesellschaft nennt man das »politische Karikatur«. Nicht jeder muss über diese Karikatur schmunzeln, jeder darf sich beleidigt fühlen. Aber Frankreich hat den Blasphemie-Paragrafen, dieses »imaginäre Verbrechen« (Jaques de Saint Victor) schon 1871 abgeschafft.
Nun aber kehrte ein heftiger Streit um ein Blasphemie-Verbot zurück, der schon nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh 2004 begonnen hatte und durch Westergaards Mohammad-Karikaturen weiter entfacht worden war.
Pochten früher nur ultra-religiöse und konservative Kreise auf unbedingte Einhaltung der »Gewissens- und Religionsfreiheit« (deren Einschränkung ja nirgendwo propagiert wird, allenfalls das Recht, Religionen, ihre Dogmen und Verkünder zu kritisieren oder diese zu verspotten), machen sich heute auch progressive, antirassistische Bewegungen für die Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit stark. In der Beschwörung des »Respekts vor religiösen Anschauungen« waren sich alle Religions-Vertreter einig: die Adepten des Katholizismus, die Vertreter eines Islams oder orthodoxen Judentums, – sie alle reklamieren »Respekt«. Sie forderten einen neuen, schärferen Blasphemie-Paragrafen.
Die Debatten über die Mohammed-Karikaturen und der Terroranschlag auf Charlie Hebdo haben deutlich gemacht: Wer herabsetzt, was für andere heilig ist, muss mit heftigen Reaktionen rechnen, mitunter riskiert er sein Leben. Und wer sich gegen blasphemische »Hassreden« wehrt, kann viele Anhänger mobilisieren. Dass Blasphemie, dieses »imaginäre Verbrechen«, kein Relikt der Inquisition ist, beschreibt der Dresdner Historiker Gerd Schwerhoff eindrucksvoll in einer großen Geschichte der Gotteslästerung von der Antike bis heute, die in diesem Frühjahr erschienen ist (Verfluchte Götter, Die Geschichte der Blasphemie, S. Fischer Verlag). Kenntnis- und faktenreich zeigt er, was Blasphemie in unterschiedlichen Epochen und Kulturen ausmachte, was sie bewirkte, wer sie beging und welchen Repressionen und Strafen sie ausgesetzt war. Spannend schildert er, warum Menschen seit mehr als 2000 Jahren Gott, Propheten oder Heilige beleidigen. Und warum diese Worte und Taten die Gemüter so sehr erregen.
Es ist ein großer, souverän erzählter Bogen von der Antike (mit Judentum und frühem Christentum), über Mittelalter und frühe Neuzeit (mit Inquisition, Ketzerei und Reformation) bis zur Aufklärung und den aktuellen Konfrontationen im Spannungsfeld zwischen Christentum, Laizismus und Islam. Wir begegnen fluchenden, lästernden Bauern oder Reformatoren, die Marienfiguren und andere Heilige beleidigen und dafür mit dem Tod bestraft werden. Eine Kulturgeschichte zwischen Verfolgung, Bestrafung und Tolerierung, die deutlich macht: Die Geschichte der Blasphemie ist immer auch ein Spiegelbild über die Machtverhältnisse und deren politische Implikationen.
Sie reicht bis in die Gegenwart: Weltweit rechtfertigen Islamisten Gewalt, Brandstiftungen und Morde wegen angeblicher Herabwürdigung des Korans oder des islamischen Propheten Muhammads mit dem Verweis auf das islamische Recht und die islamische Überlieferung. Sie verfolgen, terrorisieren und ermorden Andersgläubige und Ungläubige – auch in Europa. Zuletzt in Paris, Nizza und Wien, als Allahs verwirrte Bodentruppen ihren mörderischen Amoklauf fortsetzten. Er ist der blutige Begleitrahmen eines Prozesses, der seit einigen Jahren zu beklagen ist: die Einschüchterung des Denkens, die Bekämpfung des Rechts auf freie Meinung, einschließlich des Rechts auf Spott. Nein, Gotteslästerung ist kein Relikt von gestern. Ob die Punk-Gebete von Pussy Riot, die Satanischen Verse Salman Rushdies oder Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo: Sie alle wurden unter dem Etikett Blasphemie traktiert, verfolgt, mit dem Tode bedroht – oder gar getötet.
Gerd Schwerhoff ist ein großes, unbedingt lesenswertes Buch gelungen. Es schildert, wie seit der Aufklärung gegen die Verfolgung und Bestrafung der Gotteslästerung argumentiert wurde, aber öffnet auch den Blick dafür, dass die Verfolgung gegen Andersdenkende und Ungläubige keineswegs ein Ende hat. In einer Streitschrift, die Chefredakteur Charb (Stephane Charbonnier) erst zwei Tage vor seiner Ermordung beendet hatte, wandte er sich gegen den Vorwurf, sein Magazin Charlie Hebdo würde Angst und Aggression »gegen den Islam« entfesseln. Die Tonalität des Textes ist wie immer provokant, polemisch, sarkastisch. Ein unerschrockenes, beeindruckendes Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen jegliche Zensur. Sein aufklärerisches Credo gilt es zu verteidigen: Erst der Bürger, dann der Gläubige.