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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Imaginäres Verbrechen

Schon nach dem Mord­an­schlag auf Char­lie Heb­do am 7. Janu­ar 2015, als zwei mas­kier­te Täter in die Redak­ti­ons­räu­me der Zeit­schrift ein­dran­gen und elf Men­schen bestia­lisch ermor­de­ten (dar­un­ter ein zum Per­so­nen­schutz abge­stell­ter Poli­zist sowie ein wei­te­rer Poli­zist auf der Flucht), gab es zahl­rei­che fran­zö­si­sche lin­ke Intel­lek­tu­el­le, die die »Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit« des Sati­re­ma­ga­zins beklag­ten. Sie mach­ten Char­lie Heb­do letzt­lich selbst für das mör­de­ri­sche Infer­no ver­ant­wort­lich, weil Zeich­nun­gen im Blatt immer wie­der islam­feind­lich gewe­sen sei­en. Bei­spiels­wei­se auf einer Titel­sei­te aus dem Jahr 2006, die Kurt Wester­gaard gewid­met war, der wegen sei­ner Kari­ka­tu­ren in der däni­schen Tages­zei­tung Jyl­lands-Posten eben­falls von Fun­da­men­ta­li­sten mit dem Tod bedroht wor­den war. Was war auf dem Titel­blatt zu sehen?

Ein bär­ti­ger Mann mit Tur­ban hält sei­nen Kopf zwi­schen den Hän­den. Er weint oder ist sehr ärger­lich. In der Sprech­bla­se steht: »Schon hart, wenn einen Idio­ten lie­ben …!«. Die Zei­len über der Zeich­nung erläu­tern: »Moham­med beklagt sich. Er wird von Fun­da­men­ta­li­sten über­rollt!« Der Pro­phet beklagt sich also über die Hal­tung sei­ner fana­ti­schen Anhän­ger. In einer auf­ge­klär­ten, frei­en Gesell­schaft nennt man das »poli­ti­sche Kari­ka­tur«. Nicht jeder muss über die­se Kari­ka­tur schmun­zeln, jeder darf sich belei­digt füh­len. Aber Frank­reich hat den Blas­phe­mie-Para­gra­fen, die­ses »ima­gi­nä­re Ver­bre­chen« (Jaques de Saint Vic­tor) schon 1871 abgeschafft.

Nun aber kehr­te ein hef­ti­ger Streit um ein Blas­phe­mie-Ver­bot zurück, der schon nach der Ermor­dung des nie­der­län­di­schen Fil­me­ma­chers Theo van Gogh 2004 begon­nen hat­te und durch Wester­gaards Moham­mad-Kari­ka­tu­ren wei­ter ent­facht wor­den war.

Poch­ten frü­her nur ultra-reli­giö­se und kon­ser­va­ti­ve Krei­se auf unbe­ding­te Ein­hal­tung der »Gewis­sens- und Reli­gi­ons­frei­heit« (deren Ein­schrän­kung ja nir­gend­wo pro­pa­giert wird, allen­falls das Recht, Reli­gio­nen, ihre Dog­men und Ver­kün­der zu kri­ti­sie­ren oder die­se zu ver­spot­ten), machen sich heu­te auch pro­gres­si­ve, anti­ras­si­sti­sche Bewe­gun­gen für die Ein­schrän­kung oder Abschaf­fung der Mei­nungs­frei­heit stark. In der Beschwö­rung des »Respekts vor reli­giö­sen Anschau­un­gen« waren sich alle Reli­gi­ons-Ver­tre­ter einig: die Adep­ten des Katho­li­zis­mus, die Ver­tre­ter eines Islams oder ortho­do­xen Juden­tums, – sie alle rekla­mie­ren »Respekt«. Sie for­der­ten einen neu­en, schär­fe­ren Blasphemie-Paragrafen.

Die Debat­ten über die Moham­med-Kari­ka­tu­ren und der Ter­ror­an­schlag auf Char­lie Heb­do haben deut­lich gemacht: Wer her­ab­setzt, was für ande­re hei­lig ist, muss mit hef­ti­gen Reak­tio­nen rech­nen, mit­un­ter ris­kiert er sein Leben. Und wer sich gegen blas­phe­mi­sche »Hass­re­den« wehrt, kann vie­le Anhän­ger mobi­li­sie­ren. Dass Blas­phe­mie, die­ses »ima­gi­nä­re Ver­bre­chen«, kein Relikt der Inqui­si­ti­on ist, beschreibt der Dresd­ner Histo­ri­ker Gerd Schwer­hoff ein­drucks­voll in einer gro­ßen Geschich­te der Got­tes­lä­ste­rung von der Anti­ke bis heu­te, die in die­sem Früh­jahr erschie­nen ist (Ver­fluch­te Göt­ter, Die Geschich­te der Blas­phe­mie, S. Fischer Ver­lag). Kennt­nis- und fak­ten­reich zeigt er, was Blas­phe­mie in unter­schied­li­chen Epo­chen und Kul­tu­ren aus­mach­te, was sie bewirk­te, wer sie beging und wel­chen Repres­sio­nen und Stra­fen sie aus­ge­setzt war. Span­nend schil­dert er, war­um Men­schen seit mehr als 2000 Jah­ren Gott, Pro­phe­ten oder Hei­li­ge belei­di­gen. Und war­um die­se Wor­te und Taten die Gemü­ter so sehr erregen.

Es ist ein gro­ßer, sou­ve­rän erzähl­ter Bogen von der Anti­ke (mit Juden­tum und frü­hem Chri­sten­tum), über Mit­tel­al­ter und frü­he Neu­zeit (mit Inqui­si­ti­on, Ket­ze­rei und Refor­ma­ti­on) bis zur Auf­klä­rung und den aktu­el­len Kon­fron­ta­tio­nen im Span­nungs­feld zwi­schen Chri­sten­tum, Lai­zis­mus und Islam. Wir begeg­nen flu­chen­den, lästern­den Bau­ern oder Refor­ma­to­ren, die Mari­en­fi­gu­ren und ande­re Hei­li­ge belei­di­gen und dafür mit dem Tod bestraft wer­den. Eine Kul­tur­ge­schich­te zwi­schen Ver­fol­gung, Bestra­fung und Tole­rie­rung, die deut­lich macht: Die Geschich­te der Blas­phe­mie ist immer auch ein Spie­gel­bild über die Macht­ver­hält­nis­se und deren poli­ti­sche Implikationen.

Sie reicht bis in die Gegen­wart: Welt­weit recht­fer­ti­gen Isla­mi­sten Gewalt, Brand­stif­tun­gen und Mor­de wegen angeb­li­cher Her­ab­wür­di­gung des Korans oder des isla­mi­schen Pro­phe­ten Muham­mads mit dem Ver­weis auf das isla­mi­sche Recht und die isla­mi­sche Über­lie­fe­rung. Sie ver­fol­gen, ter­ro­ri­sie­ren und ermor­den Anders­gläu­bi­ge und Ungläu­bi­ge – auch in Euro­pa. Zuletzt in Paris, Niz­za und Wien, als Allahs ver­wirr­te Boden­trup­pen ihren mör­de­ri­schen Amok­lauf fort­setz­ten. Er ist der blu­ti­ge Begleit­rah­men eines Pro­zes­ses, der seit eini­gen Jah­ren zu bekla­gen ist: die Ein­schüch­te­rung des Den­kens, die Bekämp­fung des Rechts auf freie Mei­nung, ein­schließ­lich des Rechts auf Spott. Nein, Got­tes­lä­ste­rung ist kein Relikt von gestern. Ob die Punk-Gebe­te von Pus­sy Riot, die Sata­ni­schen Ver­se Sal­man Rush­dies oder Moham­med-Kari­ka­tu­ren von Char­lie Heb­do: Sie alle wur­den unter dem Eti­kett Blas­phe­mie trak­tiert, ver­folgt, mit dem Tode bedroht – oder gar getötet.

Gerd Schwer­hoff ist ein gro­ßes, unbe­dingt lesens­wer­tes Buch gelun­gen. Es schil­dert, wie seit der Auf­klä­rung gegen die Ver­fol­gung und Bestra­fung der Got­tes­lä­ste­rung argu­men­tiert wur­de, aber öff­net auch den Blick dafür, dass die Ver­fol­gung gegen Anders­den­ken­de und Ungläu­bi­ge kei­nes­wegs ein Ende hat. In einer Streit­schrift, die Chef­re­dak­teur Charb (Ste­pha­ne Char­bon­nier) erst zwei Tage vor sei­ner Ermor­dung been­det hat­te, wand­te er sich gegen den Vor­wurf, sein Maga­zin Char­lie Heb­do wür­de Angst und Aggres­si­on »gegen den Islam« ent­fes­seln. Die Tona­li­tät des Tex­tes ist wie immer pro­vo­kant, pole­misch, sar­ka­stisch. Ein uner­schrocke­nes, beein­drucken­des Plä­doy­er für Mei­nungs­frei­heit und gegen jeg­li­che Zen­sur. Sein auf­klä­re­ri­sches Cre­do gilt es zu ver­tei­di­gen: Erst der Bür­ger, dann der Gläubige.