Die Malerei Wolfgang Lebers, der im Februar seinen 85. Geburtstag feierte, liefert Modelle der räumlich-architektonischen Umwelt auf der Fläche. In seinen Bildräumen ist jedes persönliche Erinnerungsstück vermieden, das als Attribut eines Menschen verstanden werden könnte. Der private Charakter des Milieus ist eliminiert. Auch seine Figuren sind keine pulsierenden Lebewesen, sondern aus stereometrischen Grundformen entwickelte Figuren-Zeichen ohne psychologische Differenzierung. Es sind Kunstfiguren aus ineinander verzahnten, kontrastierenden Elementen ganz unterschiedlicher Ausdrucksformen. Die für das späte Bauhaus charakteristische Sachlichkeit und systematische Konstruktion scheint hier nicht ohne Einfluss gewesen zu sein. Wolfgang Leber setzt ein »Stadtbild« (2001) aus kubischen Baukörpern zusammen, gibt dem »Gespräch« (1991) erst durch dessen zeichenhaftes Ambiente eine große Intensität, verwandelt ein »Grünblatt« (2010) in ein aufregendes Farbenspiel.
Nicht das Einmalige des Geschehens soll gezeigt werden, dazu sind die Bilder viel zu »ereignislos«, sondern der Bildraum scheint sich über die Bildränder hinweg zu erweitern. Dem Betrachter wird zugemutet, ein fragmentarisch dargebotenes Werk durch Projektion zu ergänzen. Die auf der Leinwand vorhandene Information wird eliminiert und dadurch der Prozess der Projektion in uns angeregt. »Ja, auch der Betrachter muss sich bemühen«, so Wolfgang Leber. »Das Bild könnte die Gelegenheit sein, die Wirklichkeit aufklärend zu durchdringen.«
Seine Bilder will der Maler aber nicht als intellektuelle verstanden wissen. Sie sind nicht allein mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Gefühl gemalt. Der ästhetische Bezug zu Rationalität und Präzision der technischen Form wird immer wieder aufgehoben durch die Emotionalität der Gestaltung. Trotz thematischer und motivischer Begrenzung – Figur, (Innen- und Außen-)Raum, Stadt, Natur, Stillleben – verfügt der Künstler über einen Malstil von außerordentlicher Spannweite. Der unterkühlte, kalte Konstruktivismus wird belebt durch die sensitive Farbe. Farbflächen mit ihren Kontrasten – von Weinrot und Grün bis Türkis, Blau und Schwarz – übernehmen den Aufbau der Komposition. Expressive Farbkontraste dominieren. Immer wieder lässt uns die Kühnheit seiner Farben staunen: Diese tiefen, vollen Kobaltblaus, die Fuchsien- und Orangetöne, samtiges Schwarz und Hellgelb. Wir haben es mit einem neuen geistigen Umgang mit Farbe zu tun, ohne das Sichtbare aufzugeben, das sich stattdessen in visuelle Poesie verwandelt hat. Leber lässt die Farbe frei einströmen. Die Malerei wird blühend und definiert und moduliert mit ihren Mitteln den Raum und die Gegenstandsvolumen. Auch Schwarz und Weiß kann Farbe werden. Es ist der Schritt von der grafischen zur malerischen Formbestimmung.
Zunehmend sind die Bilder Wolfgang Lebers instabiler und komplizierter geworden. Doch die tragenden und lastenden, fallenden und stürzenden, ziehenden und stoßenden Flächen stellen letztendlich ein Gleichgewicht aus elementaren Spannungen her, das auch durch die in letzter Zeit eingebauten Dissonanzen nicht völlig aufgehoben wird. Linien spannen sich zu Geraden, schräge Körperebenen richten sich zur Vorderfläche parallel. Senkrechte steht gegen Waagerechte, Körper gegen Raum. Die Spannung zwischen Expressivem und Konstruktivem, Hell und Dunkel, Schwermütigem und Heiterem, fast Mediterranem, Affirmation und Negation, reicher Fantasie und Kühle der Präsentation, freier Intuition und klarer, geistiger Kontrolle hält die Bilder zusammen. Das hervorstechende Merkmal seines persönlichen Stils ist die meditative Erlebnisfähigkeit. »Die Malerei schöpft ihre Metaphern aus dem Sichtbaren, um dem Unsichtbaren Gestalt zu geben«, sagt Wolfgang Leber.
Er setzt Gebrauchsgegenstände als »Melancholisches Inventar« (2013) ins Bild. »Schwebende Gedanken« (2015) suchen sich zu ordnen. Eine »Begegnung« (2016) schlägt fehl, wenn die Sinnesorgane blockiert sind. Zum bühnenhaften Auftritt von Marionetten wird ein »Strandfest« (2015). »In die Zeit gefallen« (2018) ist ein technoides Monster, bar aller menschlichen Züge. »Nicht stehen bleiben« (2018) gilt für zwei rastlos ins Ungewisse eilende Gestalten. Das Bild ist Ort von Durchdringungen und Entgegensetzungen – erzeugt wird eine komplexe Bildstruktur, die als Ausweis der medialen Qualität von Malerei verstanden werden kann. Nicht-Präsentes stellt sich her, das zwischen den Bildebenen Verrätselungen schafft, statt sie wechselseitig zu kommentieren. Das Sichtbare soll verborgen, das Verborgene zugleich wieder sichtbar werden. In ihrer quasi abstrakten Eigenwertigkeit nehmen die Farben und Flächen eine inhaltliche Bedeutung an, es sind sozusagen abstrakt gegenständliche Bilder. Sie lassen in ihrer visuellen Poesie die Lebendigkeit der Welt zu kargen Träumen gerinnen. Es sind Bilder von spröder Weltangst, Zeit-Zeichen gegen Gefährdung, Entfremdung, Bedrängnis und Erstarrung.
Nicht vergessen werden dürfen seine Flachreliefs, in denen er die Form aus dem Material (meist Sandstein) herausarbeitet – sie gleichsam von ihrem Umfeld »befreit« – und auch bemalt, wobei kaum Höhenebenen und nur selten Rundungen vorkommen.
Lieber Wolfgang Leber, wir brauchen Dich, Deine Bilder, Zeichnungen, Steindrucke und Skulpturen, sie geben uns Kraft zum Widerstand gegen das Gewöhnliche, das zu Einfache, sie schärfen unser Auge für das Unauffällige, Unscheinbare und lassen es als etwas Ungewöhnliches begreifen, sie öffnen unseren Blick auf das Besondere, Außerordentliche in unserem Dasein, sie bieten uns Freiräume in einer durch Regeln gelähmten Gesellschaft, in einer bedrohten Welt.
Dialog Farbe. Wolfgang Leber zum 85. Geburtstag. Sandau & Leo Galerie, Tucholskystr. 38, 10117 Berlin, Di – Sa 12-18 Uhr, bis 6. Juni. Katalog 20 €.