Als Ende April die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen vorbei war, ging ein Aufatmen durch die politische Kaste der EU. Der neue französische Präsident ist der alte, Emmanuel Macron hat es wieder geschafft. In den deutschen Medien herrschte bis zum Wahlabend helle Aufregung. Wenn Frankreich jetzt nach rechts kippt, ist die EU in Gefahr, der westliche Nachbar wird zum Putin-Komplizen, und Deutschland verliert seinen besten Freund. Dabei hatten wir das Theater schon vor fünf Jahren. Ein Déjà-vu, eine Farce, denn damals wie heute war es für seriöse Wahlbeobachter klar, dass Marine Le Pen die Wahl verlieren würde. Dafür sorgt schon ein ausgeklügeltes Wahlsystem, dass jedem Herausforderer des amtierenden Präsidenten etliche Steine in den Weg legt. Nicht zu unterschätzen ist dabei der »Amtsbonus«, der sich für einen amtierenden Präsidenten fast immer auszahlt. Die von Charles de Gaulle 1958 ins Leben gerufene Präsidialdemokratie mit eingebautem Mehrheitswahlrecht sollte ein stabiles parlamentarisches System garantieren, vor allem aber die damals noch starke kommunistische Partei ausgrenzen. Bis auf die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre sowie eine auf zwei Wahlperioden begrenzte Möglichkeit zur Wiederwahl hat sich das Procedere kaum verändert.
Dass zwei Monate nach dem Präsidenten auch das Parlament neu gewählt wird, trägt ebenfalls zur gewünschten Kontinuität bei, die Partei des siegreichen Präsidenten erhält meist auch die Regierungsmehrheit. Meistens. Denn am Abend des 19. Juni sah sich Emanuel Macron mit einer Sitzverteilung konfrontiert, die ihm nicht jene absolute Mehrheit bescherte, mit der er fest gerechnet hatte. Das hatte zwei Gründe: Zum einen hatte der Drittplatzierte bei den Präsidentschaftswahlen, Jean-Luc Mélenchon, die kurze Zeit genutzt, um aus seiner Bewegung »La France insoumise« (LFI), zusammen mit Sozialisten, Kommunisten und Grünen, ein Wahlbündnis (NUPES) zu schmieden, welches mit 147 Sitzen die zweitstärkste Fraktion nach den Macronisten wurde. Aber auch das »rassemblement national« von Marine Le Pen konnte sich mit 88 Sitzen eines nie dagewesenen Zuspruchs erfreuen. Der andere Grund liegt in einer Tendenz, die sich bei weitem nicht nur auf Frankreich beschränkt: Eine extrem hohe Wahlenthaltung. Sie lag bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen noch bei 28,1 Prozent, bei der letzten Wahl zum Parlament im Juni stieg sie jedoch auf 53,7 Prozent. Selbstverständlich wurden in den Medien darüber einige Krokodilstränen vergossen, bevor man wieder zur Tagesordnung überging. Dass immer mehr Wähler im Wahlakt keinen Sinn mehr sehen, oder nur noch verzweifelt gegen die gerade regierende Partei votieren, war kaum ein Thema.
Wahlen werden in Frankreich (wie übrigens fast überall) auf dem Land entschieden. Vor allem dort war die Strategie der »Dediabolisierung« des ehemaligen »front national« durch Marine Le Pen erfolgreich, man hat mit dieser Bewegung kaum noch Berührungsängste und sieht im »rassemblement national« vor allem eine rechtskonservative Partei. Das hängt auch damit zusammen, dass die traditionellen bürgerlichen Parteien, vor allem die einstige Mitterrandpartei »parti socialiste« (PS) und die derzeit unter dem Namen »Les Républicains« (LR) firmierenden Gaullisten in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden drohen. So erhielt die Bürgermeisterin von Paris und PS-Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen blamable 1,8 Prozent, nicht viel besser schnitt die Kandidatin der LR Valérie Pécresse mit 4,8 Prozent ab.
Das linksgrüne Bündnis NUPES, welches Jean-Luc Mélenchon mit dem Mut der Verzweiflung zwischen den Wahlgängen geschmiedet hatte, ist alles andere als stabil, vor allem Kommunisten und Grüne freuen sich über ihre unverhofft erlangten Parlamentssitze und pochen nun auf ihre Eigenständigkeit.
Währenddessen sucht der Präsident nach Bündnispartnern im Parlament. Da die Gaullisten der LR bereits eine Zusammenarbeit abgelehnt haben, bahnt sich ein Bündnis ganz anderer Art an: Macron könnte die Le Pen-Partei zumindest so weit in das Regierungslager integrieren, dass die Rechtspartei sich zur Duldung der Macronisten entscheiden könnte – mit gewissen Zugeständnissen natürlich.
Beide Parteien eint zumindest eines: Der Wille, Macht, Einfluss und Posten zu erhalten bzw. endlich – nach Jahrzehnten des Pariastatus – zu bekommen.
Im Palais Bourbon – Sitz des französischen Parlaments – sitzen 577 Abgeordnete. Neuerdings haben es sogar einige Angehörige jener Schichten in das hohe Haus geschafft, die man dort früher allenfalls als unauffällige dienstbare Geister oder Handwerker wahrgenommen hat. Das sind Kandidaten, die das NUPES-Bündnis aufgestellt hatte, und ja, auch ein paar vom rassemblement national. Die übergroße Mehrheit gehört aber nach wie vor den »honorigen« Berufsgruppen an: Rechtsanwälte, Beamte, Unternehmer, Ärzte, wie eben auch bei uns.
Ebenso wie bei uns warten auch in Frankreich riesige Probleme auf eine Lösung. Was hier das fehlende russische Gas ist, sind in Frankreich die vielen maroden Atomkraftwerke, welche zum großen Teil die Stromversorgung sichern. Wie in Deutschland leidet dort das Gesundheitswesen unter Sparzwängen und Privatisierung. Gegen die Teuerung gibt es auch dort nur temporäre Trostpflaster, die spätestens Ende des Sommers auslaufen. Die neue Linke, obwohl nun zahlreich vertreten, wird nicht viel bewirken können, zu stark sind die Interessen von Großindustrie und Banken. Die reaktionäre Presse, größtenteils im Besitz von Oligarchen wie Lagardère und Dassault, hatte sich schon vor der Wahl auf das Linksbündnis und vor allem auf Jean-Luc Mélenchon eingeschossen. Trotz dieses Trommelfeuers stellt das »unbeugsame Frankreich« – die Partei von Mélenchon – nun immerhin 77 Abgeordnete. Die Machtverhältnisse haben sich jedoch nicht geändert. Und der Präsident heißt noch weitere fünf Jahre Emmanuel Macron. Nichts Neues also …