Eines Tages klingelt der Postmann, drückt einem eine Buchsendung in die Hand – und auf dem Schreibtisch liegt ein neuer Gedichtband von Thomas Böhme. Obwohl man weiß, dass man damit eine Welt, im Grunde die Welt aus Worten und Bildern, Anklängen an uralte Mythen und Erzählungen vor sich hat, kann man es nicht unterlassen, zuerst nach dem zu suchen, was – und sei es nostalgisch! – für einen selbst Thomas Böhme immer ausgemacht hat und immer ausmachen wird: den Ton aus »Mit der Sanduhr am Gürtel«, jenem Debütband aus dem Jahre 1983. Mit ihm kam damals ein Ton in die Lyrik der DDR, wie man ihn noch nicht kannte in jenem Land.
In diesem Buch findet man ihn in »Vexierbad« (Seite 104), in dem Jane Birkin und David Bowie sich ein Stelldichein geben – auch wenn Jane Birkin vielleicht eine Taube ist und Bowie »sich wiedermal in seine ferne Galaxis verzogen« hat. Doch es liegt mehr Elegisches in den neuen Texten, auch wenn Böhme damals die Bedrohungen für unsere Welt nicht vergaß und sie benannte. Jedoch: Es ist jetzt mehr vom Vergehen, von der Hinfälligkeit unserer Welt die Rede.
Andererseits lugt der Lyriker, der erzählen kann, aus den Buchseiten. Das tut Böhme in den Kapiteln »Nachtwachen eines Sommers«, »Rauhnachtsplitter« und »Die blauen Vögel«. Besonders in diesem Teil offenbart der Autor seinen Sinn für Absurdes, wobei die Heiterkeit etwas Demaskierendes hat. So haben die blauen Vögel einen kleinen Fernsehapparat, der in einer Kuckucksuhr versteckt ist. Hat der Holzkuckuck achtmal gerufen, beginnt dort das Programm: Krimis! Es knallt, und ein wenig Blut tropft auch heraus. Hat man genug gesehen, wird noch debattiert, immer voller Frohsinn darüber, dass die Welt so friedlich ist. Auch wenn man von Thomas Böhme zuerst Gedichte erwartet, eigentlich wünscht man sich von ihm mehr solcher Texte wie den über die blauen Vögel.
Um vom Lyriker zu sprechen: Faszinierend ist es immer wieder, beim Lesen, der Ort sei ein Punkt auf einer Reise, ein Irgendwo, ein Nirgendwo oder ein ganz konkreter Platz, vielleicht seine Heimat Leipzig, zu schmecken und zu fühlen, wie das Leben, unser Leben in die Texte hineinragt. So etwa im für mich schönsten Gedicht des ganzen Buches: »Friedhof im Juli«. Darin kommt der Autor, ausgehend von der wunderbaren Metapher in der ersten Strophe, dass über den Gräbern »Lichtpulver« liege und die Toten in der Sonne »redselig« würden, zu einer lakonischen und ungemein treffenden Beschreibung dessen, was man unsere Biografie nennt: »Die einen meinten, sie hätten zu wenig geliebt/die anderen gingen an ihrer Liebe zugrunde. /Und das ist schon alles.« Solche Verse können Begleiter für jeden Tag werden, ganz ohne Lyrikkalender oder dergleichen. Sie zeigen, dass Böhme zu Recht auf Gedichte vertraut, aber auch, dass man auf Lyrik vertrauen darf, wenn man sie als Begleiter zulässt. Freilich muss man dann auch das »Vexierbad« nehmen, um wie das lyrische Ich im gleichnamigen Gedicht zu sehen: »Irgendwo dümpelte sein (das ist wohl der Traumpilot David Bowie, A. F.) verbeultes Raumschiff/aus dem grelle Flammen schossen. /Der Morgen roch nach Benzin. Ich war wieder 13 /& von Sternenstaub angefüllt.« Ist solch ein Mythos nicht ein großes Glück?
Thomas Böhme: Strandpatenschaft. Gedichte. Reihe neue Lyrik, Bd. 21, Poetenladen Leipzig 2021, 175 S., 19,80 €.