Das katholische Bodenpersonal ist Männersache. Etwa 1,2 Milliarden Menschen unterstehen einem rein männlichen Kleriker-Kartell, der gerade einmal 0,4 Prozent der Katholiken ausmacht. Das Epizentrum der Macht ist an Papst, Kardinäle und Bischöfe gebunden: ganze 0,00041 Prozent. Sie allein deuten und verkünden die verbindlichen Lehrgrundlagen, setzen sie um in kirchliche Dogmen und Gesetzgebung. Die Mehrheit der Gläubigen schuldet ihnen Folgsamkeit und Gehorsam – umgekehrt sind die Kirchenmänner ihren gläubigen Laien in keiner Weise rechenschaftspflichtig. Ein klares Machtgefüge: Laien dürfen beten und hoffen, Kleriker bestimmen und entscheiden. Von Demokratie mag man hier nicht unbedingt sprechen. Die katholische Kirche ist eine weltabgewandte, grundrecht-verletzende Männer-Domäne: starr, autoritär, machtbewusst. Doch die Gläubigen wollen glauben, und sie tun das gern gemeinsam – trotz allem. Das »Haus Kirche« als sinnstiftende Heimstatt im Hier & Jetzt mit allen Versprechungen ins Jenseits.
Doch es rumort Katholen-Kosmos. Kirchlich gebundene und organisierte Gläubigkeit schwindet, das belegen rückläufige Mitgliederzahlen. Das hat mit aktuellen Skandalen zu tun (Missbrauchs-Skandalen, Finanz-Skandalen), auch mit einem Gesellschafts- und Menschenbild, das an Bindekraft verliert. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als 440 000 Menschen die beiden großen Kirchen verlassen. Bei den Katholiken kehrten 221 000 Menschen der Kirche den Rücken, bei den Protestanten waren es rund 220 000 Menschen. Nun fällt nicht jeder, der das »Haus Kirche« verlässt, gleich von Gott und Glauben ab. Eines aber wird deutlich: Das Vertrauen in das göttliche Bodenpersonal bröckelt rasant.
Die Vertrauenskrise dürfte sich vor allem wegen der stockenden Aufarbeitung von Missbrauchsskandalen weiter fortsetzen. Im Erzbistum Köln etwa führte der Umgang mit den Missbrauchsfällen zu einer Welle von Kirchenaustritten. Anfang dieses Jahres gab es wochenlang wegen Überlastung der Ämter keine Termine mehr. Zweifelnde Mitglieder wenden sich ab, denken über einen Austritt nach. Engagierte klerikale Laien wollen endlich Änderungen, Mitsprache und Transparenz. Sie wollen sich nicht mehr mit den üblichen »Dialog«-Inszenierungen befrieden lassen, wo in »gemeinsamen Beschlüssen« Partizipation simuliert wird, ihnen aber in Wahrheit nur eine unverbindliche Meinungsäußerung eingeräumt wird: ein Stimmrechts-Placebo.
Mittlerweile hat die klerikale Machtzentrale in Rom die Aufmüpfigkeit ihrer engagierten Schäfchen wahrgenommen. Papst Franziskus hat verlauten lassen, er wolle die Kirche für mehr Mitsprache von Laien öffnen und dazu einen »synodalen Prozess« anstoßen. »Die Kirche Gottes ist zu einer Synode zusammengerufen«, heißt es in einem im Vatikan vorgestellten Dokument in Vorbereitung auf die Weltbischofssynode 2023. Alle Gläubigen seien dazu aufgerufen, an der Weiterentwicklung der Kirche mitzuarbeiten. Von »Synodalität« ist die Rede. Darunter wird verstanden, dass auf möglichst breiter Basis unter Einbeziehung von Nicht-Klerikern über die Zukunft der Kirche beraten wird.
Das »Zentralkomitee der deutschen Katholiken« (ZdK) applaudierte pflichtbewusst. Seit Jahren übt sich das Laien-Forum im braven Gehorsam. Ein pflegeleichtes Laien-Forum, finanziell und personell abhängig von den Bistümern, das in der Vergangenheit vor allem die Interessen des Klerus vor allzu vehementen Zugriffen der Gläubigen schützte. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sprach denn auch von einem »Meilenstein«. Eine fromme Lüge. Es geht schlichtweg darum, den aktuellen Kritik-Hochdruck durch allerlei Gesprächs-Inszenierungen zu kanalisieren, indem sich Laien weiterhin beteiligt fühlen sollen, ohne entscheiden zu können. Es braucht ein solides Resilienz-Polster, viel Verdrängungskunst und große Demütigungsbereitschaft, um sich in dieser machtbewussten Männer-Diktatur heimisch zu fühlen. Trotz allem: Das Kirchenvolk bleibt mehrheitlich noch hoffnungsfroh, gehorsam und duldsam.
Darüber hat der Theologe Norbert Lüdecke nun ein erhellendes Buch geschrieben, das Struktur und Systematik der kirchlichen Placebo-Debatte eindrucksvoll seziert. Der sogenannte »Synodale Weg« – so urteilt der Autor – ist nichts anderes als eine große (Selbst)-Täuschung der katholischen Laien, ein Täuschungsmanöver der Kirchen-Männer, kompromisslos inszeniert, um innerkirchlichen Protest und Reformgedanken zu neutralisieren. Lüdecke, Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn, spannt einen weiten Bogen: von der »hierarchischen Einhegung« des Laien-Engagements etwa mit der Gründung des »Zentralkomitees der deutschen Katholiken« in den frühen fünfziger Jahren, über die Würzburger Synode in den Siebziger Jahren, als westdeutsche Bistümer die Laien zum Dialog einluden, wo es dann viele Beschlüsse und Abstimmungen gab, aber nicht jede Stimme gleiches Gewicht besaß, bis zum heutigen »Synodalen Weg«. Dort – so Lüdecke beinahe ketzerisch – lassen sich »engagierte Laien einmal mehr auf ein betreutes Diskutieren ein«.
Lüdecke fragt: Warum machen die Gläubigen bei dieser aktuellen Partizipations-Simulation, die diesmal unter dem Claim »Synodaler Weg« firmiert, erneut mit? »Gibt es Faktoren, die Katholiken den Blick auf die kirchliche Realität verstellen, oder vielleicht eine spezifisch katholische Disponierung, diese Realität gar nicht sehen zu wollen?«
Beinahe lakonisch konstatiert er, dass das Kirchenvolk auf diese Weise weiterhin gut betreut durch ein »potemkinsches Synodaldorf« schreitet, »in dem vor allem eines praktiziert wird: die alte katholische Unterwerfungshaltung gegenüber den Kirchenherren«. Kurzum: Es wird alles bleiben, wie es ist.
Im Untertitel des Buches wird gefragt: Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen? Ja!, möchte man da antworten. Niemand muss freiwillig an der Kirche leiden. Die Seelenpein kann ein Ende finden – durch Kirchenaustritt. Norbert Lüdecke ist ein kluges, kenntnisreiches und argumentstarkes Buch gelungen. Es beschreibt schonungslos die Schieflage der Kirche. Das ist aufklärender Lesestoff im besten Sinne und erhellende Lektüre für alle, die an der Kirche zweifeln und verzweifeln. Wer freilich eine Anleitung für das Verlassen aus diesem Unterdrückungs- und Täuschung-Labyrinth erwartet, der wird enttäuscht. Das Drama seiner Selbsttäuschung muss der gläubige Mensch selbst beenden. Das Buch kann dabei von großem Nutzen sein.
Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Theiss Verlag, 303 S., 20 €.