Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Im Netzwerk der Gefühle

Vor 12 Jah­ren – 2010 – ist sie 98jährig gestor­ben, die fran­zö­sisch-US-ame­ri­ka­ni­sche Bild­haue­rin Loui­se Bour­geois, die seit 1938 in New York leb­te und erst im hohen Alter als Pio­nie­rin der Post­mo­der­ne und vor allem der Instal­la­ti­ons­kunst inter­na­tio­nal berühmt wur­de. Seit den 1990er Jah­ren nann­te sie ihre Instal­la­tio­nen »Cells« (Zel­len), umschlos­se­ne, psy­cho­lo­gisch auf­ge­la­de­ne Räu­me, in denen sie Gegen­stän­de mit auto­bio­gra­fi­scher Bedeu­tung, Stoff­fi­gu­ren aus Klei­dungs­stücken der Kind­heit und Jugend als Fül­lung wie als Umhül­lung arran­gier­te. Auch der weib­li­che Kör­per wur­de bei ihr zu einem aus Raum­zel­len, aus hoh­len oder gefüll­ten For­men, trans­pa­ren­ten oder opa­ken Stoff­beu­teln gebau­ten Gebil­de. Die unter­schied­lich­sten Mate­ria­li­en sind so von ihr erprobt wor­den, jedes Expe­ri­ment erschien ihr ver­lockend, bana­le Fund­ge­gen­stän­de hat sie umklei­det und zu selt­sa­men Gebil­den geformt. Die­se Zel­len, die­se Sack­for­men reprä­sen­tie­ren nach Aus­kunft der Künst­le­rin »ver­schie­de­ne Arten von Schmerz: phy­si­schen, emo­tio­na­len, psy­cho­lo­gi­schen, gei­sti­gen und intel­lek­tu­el­len Schmerz…«.

Loui­se Bour­geois hat sich als »Gefan­ge­ne mei­ner Erin­ne­run­gen« bezeich­net. In den Zel­len leg­te sie schmerz­haf­te Erin­ne­run­gen, psy­chi­sche Bela­stun­gen aus ihrem Leben offen, um sie bewäl­ti­gen zu kön­nen. Die­se Zel­len dien­ten ihr als Zufluchts­ort, hier wird ein Leben beschrie­ben, das wirk­lich statt­ge­fun­den hat. Ins Gedächt­nis zurück­ge­ru­fen, glei­chen sie einem archi­tek­to­ni­schen, einem skulp­tu­ra­len Selbst­por­trät. Sie kön­nen aber auch zur Bedro­hung wer­den. Es sind ja Käfi­ge aus Draht­ge­flecht bzw. Vitri­nen aus Glas und Stahl, also abge­schlos­se­ne Räu­me, die für die Unent­rinn­bar­keit quä­len­der Erfah­run­gen stehen.

Erst­mals in Ber­lin wer­den jetzt im Gro­pi­us-Bau Loui­se Bour­geois’ tex­ti­le Arbei­ten gezeigt, mit denen sie sich in den letz­ten andert­halb Jahr­zehn­ten ihres Lebens beschäf­tigt hat. Sie sind eine Rück­kehr zum Mate­ri­al ihrer Kind­heit. Denn ihre Fami­lie führ­te in Paris ein Unter­neh­men, das alte Tapis­se­rien restau­rier­te und ver­kauf­te. Als Muster­zeich­ne­rin hat­te die jun­ge Loui­se Füße und ande­re feh­len­de Tei­le in die beschä­dig­ten Wer­ke einzuzeichnen.

Nun­mehr schuf sie aus Haus­halts­tex­ti­li­en (Klei­dung, Bett­wä­sche, Frot­tee­tü­chern, Tapis­se­rie­stücken) – in Stücke geschnit­ten und wie­der zusam­men­ge­näht – Stoff-Skulp­tu­ren, Patch­work-Kon­struk­tio­nen vol­ler Mehr­deu­tig­kei­ten. Das Schnei­den, Rei­ßen, Nähen, Zusam­men­fü­gen, Wie­der­her­stel­len der Tex­ti­li­en als neue Stoff­kör­per hieß für sie das Auf­rei­ßen alter Kon­flik­te und Span­nun­gen, aber auch das Hei­len psy­chi­scher Ver­let­zun­gen und Erkun­den der Kom­ple­xi­tät zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen. Den Akt der Repa­ra­tur betrach­te­te sie im über­tra­ge­nen Sin­ne als das Bedürf­nis, etwas wie­der gutzumachen.

Schon in den 1990er Jah­ren war ihre Werk­grup­pe der Spin­nen ent­stan­den, die groß­for­ma­ti­ge – neun Meter hohe – Spin­nen­pla­stik »Maman« (1999) und die Instal­la­ti­on »Cell Spi­der« (1997), in der das Spin­nen­tier einen Käfig umfasst, in dem ein Stuhl und Tapis­se­riefrag­men­te mensch­li­che Prä­senz bezeu­gen. Das Motiv der Spin­ne und des von ihr gespon­ne­nen und geweb­ten Fadens iden­ti­fi­zier­te Loui­se Bour­geois eben­so wie ihre Mut­ter, die Webe­rin, als Repa­ra­teu­rin. »Wenn man ein Spin­nen­netz schlägt, wird die Spin­ne nicht wütend. Sie webt es wei­ter und repa­riert es.« Die Spin­nen­fä­den sind für sie Lebens­fä­den als Bild für das ver­strick­te Leben. Loui­se Bour­geois fer­tig­te aus Stof­fen auch dyna­mi­sche abstrak­te Zeich­nun­gen, in denen das Motiv des Spin­nen­net­zes domi­niert. »Wea­ving«, ein Dickicht von Spinn­ge­we­ben, war für sie »ein tröst­li­cher Zufluchts­ort«, den »die Spin­ne gewebt und dann sorg­sam gepflegt hat«.

Schon seit der grie­chi­schen Anti­ke ist die Spin­ne mit der Tätig­keit des Webens in Bezie­hung gesetzt wor­den. Dem Mythos zufol­ge hat­te die lydi­sche Webe­rin Arach­ne die Göt­tin der Weis­heit und der Web­kunst Pal­las Athe­ne, die als Toch­ter des Göt­ter­va­ters Zeus auch die patri­ar­cha­li­sche Ord­nung der grie­chi­schen Göt­ter­welt reprä­sen­tier­te, zu einem Wett­streit im Weben her­aus­ge­for­dert. Ob die­ser Ver­mes­sen­heit – stell­te doch ihre Her­aus­for­de­rung der Göt­tin eine Bedro­hung der patri­ar­cha­li­schen gött­li­chen Ord­nung dar – war sie zur Stra­fe in eine Spin­ne ver­wan­delt wor­den. In die­sem Zusam­men­hang kann auch die Spin­nen­mut­ter bei Bour­geois als matri­ar­cha­li­sches Gegen­prin­zip zur domi­nie­ren­den patri­ar­cha­li­schen Ord­nung ange­se­hen wer­den. Als über­mäch­ti­ge müt­ter­li­che Rie­sen­spin­ne wirkt sie aber eben­so ver­trau­ens­ein­flö­ßend wie furcht­er­weckend, eben­so schüt­zend wie bedroh­lich. Es erge­ben sich hier also tie­fe­re und bedroh­li­che­re Bedeu­tungs­ebe­nen, die weit über die Bio­gra­fie der Künst­le­rin hinausgehen.

Ein Eisen­git­ter­kä­fig wird zum hoch emo­tio­na­len – kör­per­lich schmerz­haf­ten – Erin­ne­rungs­raum (»Spi­der«, 1997). Ver­git­ter­te Zel­len kön­nen sich aber auch als Gefäng­nis erwei­sen. Her­ab­hän­gen­de Säcke aus haut- und rosa­far­be­nen Stof­fen erin­nern an Orga­ne, Mem­bra­ne, Kör­per, Brü­ste oder Geschlechts­tei­le. Das flüs­sig-chan­gie­ren­de Licht der Far­be ver­flüch­tigt und ver­dich­tet sich zur dunk­len Hül­le einer phan­tom­haft gequäl­ten Mensch­lich­keit. Schwar­ze Stoff­pup­pen hän­gen kopf­un­ter, eine »Sin­gle« (1996), eine ver­stüm­mel­te weib­li­che Figur, hat aber ihre Arme aus­ge­brei­tet – eine Gebär­de der Unbeug­sam­keit trotz des ampu­tier­ten Kör­pers? Das Lie­bes­la­ger wird zum Toten­bett: »Cou­ple« (1997) – ein kopu­lie­ren­des Paar, aber die Frau hat Pro­the­sen als Aus­druck nicht nur phy­si­scher Behin­de­run­gen, son­dern auch psy­chi­scher Ver­let­zun­gen. Zeu­gung und Ver­ge­hen wer­den zeit­gleich ins Bild gesetzt. »Kni­fe Figu­re« (2002) lässt ein Küchen­mes­ser bedroh­lich über dem Ober­kör­per eines kopf­lo­sen rosa­far­be­nen Kör­pers schwe­ben. »Lady in Wai­ting« (2003) – eine arm­lo­se weib­li­che Figur, Spin­nen­bei­ne aus Stahl tre­ten aus ihrem Leib her­vor, sie speit Fäden aus ihrem Mund, eine Spin­nen­frau also, die in einem ein­ge­zwäng­ten Raum in einem mit einem Tapis­se­rie­stoff gepol­ster­tem Arm­ses­sel sitzt, auf ein Ereig­nis war­tend, das nie ein­tre­ten wird, an einem Netz webend, das nie fer­tig wer­den wird. Ein zusam­men­ge­näh­ter weib­li­cher Akt trägt das noch unge­bo­re­ne Kind in einer Hül­le vor dem Bauch (»Untit­led«, 1998). Mit »The Woven Child« (2007) wie­der­um erschuf Bour­geois aus Stofffet­zen eine Mut­ter ohne Kopf und Glied­ma­ßen, die das per­fek­te klei­ne Kind, das sich auf ihrer Brust zusam­men­ge­rollt hat, wie eine unleid­li­che Last emp­fin­det. Eine Vitri­ne aus Glas und Stahl schließt die­ses unglei­che Paar ein. Immer kehrt das Motiv der schwan­ge­ren Frau wie­der – antiil­lu­sio­ni­stisch, über­wirk­lich, bru­tal und zugleich als schick­sal­haf­tes Zei­chen des Dau­erns und Wei­ter­le­bens. Die kon­tra­punk­tisch beleb­te Mas­se wird zur kör­per­lich rhyth­mi­sier­ten Weib­lich­keit geformt. Eine Säu­le aus über­ein­an­der­ge­schich­te­ten Stoff­frag­men­ten erweckt den Ein­druck einer Wir­bel­säu­le, von der sich das Fleisch gelöst hat. »Spi­ral Woman« (2003) – die Spi­ra­le – ist eine poten­ti­ell unvoll­ende­te Form, die unend­lich wei­ter­ge­dacht wer­den kann. Sie ist – so sagt Bour­geois – der »Ursprung von Bewe­gung im Raum«.

Die Künst­le­rin erforscht die psy­cho­lo­gi­schen und emo­tio­na­len Aus­wir­kun­gen mensch­li­cher Bezie­hun­gen, die Inti­mi­tä­ten sowie die Äng­ste, die trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen, die bis in ihre Kind­heit zurück­rei­chen, zu dem klei­nen Mäd­chen, »das ver­such­te gut zu sein und die Welt abso­lut abscheu­lich fand«, sie setzt sich mit The­men wie Abhän­gig­keit und Unab­hän­gig­keit, Ein- und Aus­ge­schlos­sen­sein, Nähe und Abgren­zung, Schein und Sein, dem Aggres­si­ven und Ver­letz­li­chen auseinander.

Die star­re Über­hö­hung der ent­ma­te­ria­li­sier­ten Men­schen­ge­stal­ten, die­se line­ar-auf­ra­gen­den, in die Tie­fe stür­zen­den, in der Unend­lich­keit des Rau­mes Ver­lo­re­nen und zugleich im Gefäng­nis exi­sten­tia­li­sti­scher Alp­träu­me Ein­ge­sperr­ten lässt die Künst­le­rin wie Boten einer ande­ren, einer unbe­kann­ten Welt erschei­nen. Hier wird strö­men­de Bewe­gung erfasst und ein­ge­fan­gen, das Flie­ßen­de zum Erstar­ren gebracht.

Loui­se Bour­geois sam­mel­te und füg­te die Über­bleib­sel von Emp­fin­dun­gen und Erin­ne­rungs­fet­zen wie­der zusam­men. Tex­ti­li­en, geweb­tes Mate­ri­al, Klei­dungs­stücke besit­zen eine Geschich­te, sie sind ver­gilbt, fleckig, abge­nutzt, sie erin­nern uns an die Per­son, der sie ein­mal gehör­te, die den Abdruck ande­rer Kör­per trug. In den »Zel­len« offen­bart sich Stoff als nicht mehr anwe­sen­de Kör­per, Stoff als Mate­ri­al, durch­tränkt mit der Erin­ne­rung an das Leben, an ver­kör­per­lich­te Exi­stenz und an Berührung.

So durch­schrei­tet der Betrach­ter eine end­lo­se Ket­te von Erin­ne­run­gen. Die ein­zel­nen Gegen­stän­de und Situa­tio­nen wer­den in ein immer wie­der ande­res Bezie­hungs­netz ver­wickelt. Loui­se Bour­geois‘ Arbei­ten lösen ein gan­zes Netz­werk der Gefüh­le aus: Erschüt­te­rung, Mit­lei­den, Betrof­fen­heit, Schmerz, Ver­letzt­heit, Bit­ter­keit, Aggres­si­on, Unver­söhn­lich­keit, Abscheu, sie demon­strie­ren aber auch spöt­ti­sche Iro­nie, grim­mi­gen Humor, Par­odie und ande­res mehr.

Loui­se Bour­geois – The Woven Child. Gro­pi­us-Bau, Nie­der­kirch­ner­str. 7, Mi-Mo 10-19 Uhr, Do 10-21 Uhr, bis 23. Okto­ber. Kata­log (Hat­je Cantz Ver­lag Ber­lin) 38 E.