Der Autor, den man sonst als Conrad Taler kennt, nimmt uns in seinem neuen, packenden Buch mit in ein Leben, in dem er hingeschaut hat, wo allzu viele andere weggesehen haben. Es beginnt mit der Vertreibung aus seiner böhmischen Heimat und seiner Trauer über diesen Verlust. Der Autor macht kenntlich, in welcher Weise diese Katastrophe in der verbrecherischen Hybris des Hitler-Regimes wurzelte, das von der Mehrheit der Deutschen getragen wurde. Aber die Härte der Vertreibung traf auch antifaschistisch gesinnte Familien wie die des Autors.
Man kann das Buch als einen Gang durch die deutsche Zeitgeschichte seit 1945 lesen und wird dabei von einem Zeitgenossen begleitet, der viele Fehlentwicklungen deutlicher als andere gesehen hat. Ein Glücksfall in seinem Leben war die Periode, in der er als Leiter der Nachrichtenabteilung von Radio Bremen an der wahrheitsgemäßen Aufklärung über das Zeitgeschehen mitwirken konnte.
Ein Höhepunkt des Buches ist der Bericht über einen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse gegen Mittäter der massenhaften Tötung von Menschen, ein Verfahren, das der Autor als Journalist miterlebt hat. Nelhiebel würdigt Fritz Bauer, den hervorragenden hessischen Generalstaatsanwalt, dem die Einleitung dieses Verfahrens zu verdanken war. Man wird daran erinnert, welchen Anfeindungen Bauer wegen seiner Bemühungen um die Aufklärung der Öffentlichkeit über die entsetzlichen Naziverbrechen und deren Täter ausgesetzt war. Unvergessen ist Bauers Ausspruch: »Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, befinde ich mich in Feindesland.« Nelhiebel schildert, wie dieses geistige Klima in den ersten Jahren der Bundesrepublik erzeugt werden konnte. Und man wird mit vielen authentischen Zitaten durch eine Zeit geführt, in der die SPD als Verbündete einer antikommunistischen Politik immer tiefer in die politische Bedeutungslosigkeit versank. So kann man das Buch auch als Weckruf für eine Öffentlichkeit verstehen, sich an ein Prinzip Hoffnung zu erinnern, das einst auch in der SPD lebendig war.
Kurt Nelhiebel, Vom Hinsehen und vom Wegsehen, Ossietzky-Verlag 2020, 192 Seiten, 12 €.