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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Herbst der Pandemie

Nach der Kri­se ist vor der Kri­se. Die­se Eigen­schaft der kapi­ta­li­sti­schen Welt­wirt­schaft ist bekannt. Und dass syste­mi­sche Kri­sen gele­gent­lich in Gestalt von Kri­sen des Gesund­heits­sy­stems in Erschei­nung tre­ten, ist so neu eben­falls nicht.

Der Kom­plex »Krank­heit und Gesund­heit« ist von Beginn an Teil der bür­ger­li­chen Ent­wick­lung. Schon im Zeit­al­ter der Durch­set­zung des Kapi­ta­lis­mus hat die Expan­si­on des Fern­han­dels der Ver­brei­tung von Krank­heits­er­re­gern erheb­lich Vor­schub gelei­stet. Meh­re­re Pest­wel­len, die über Kara­wa­nen­we­ge von Ost­asi­en nach Euro­pa über­grif­fen, for­der­ten im Spät­mit­tel­al­ter Mil­lio­nen Opfer. Ähn­lich schau­er­li­che Aus­wir­kun­gen hat­te auch der mari­ti­me Han­del der künf­ti­gen Kolo­ni­al­mäch­te sowie deren Land­nah­me in Über­see; zahl­rei­che bis dahin nur regio­nal ver­brei­te­te Krank­heits­er­re­ger gelang­ten von Euro­pa nach Afri­ka, Asi­en und Austra­li­en oder auch von dort nach Europa.

Mit den wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Neue­run­gen des 18. bis 20. Jahr­hun­derts kam es auch zur Erfor­schung von Krank­heits­er­re­gern sowie zur Ent­wick­lung wirk­sa­mer Medi­ka­men­te. Der aus der Anti­ke über­kom­me­ne Berufs­stand des Arz­tes erhielt eine soli­de wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge. Erste staat­lich gestütz­te Kran­ken- und Sozi­al­ver­si­che­rungs­sy­ste­me wur­den Ende des 19. Jahr­hun­derts ins Leben geru­fen. Vor­rei­ter war damals aus­ge­rech­net das Deut­sche Reich unter der Kanz­ler­schaft Otto von Bis­marcks – die kai­ser­li­che Regie­rung sah in der Ver­ab­schie­dung von Sozi­al­ge­set­zen eine Mög­lich­keit, der damals im Auf­wind befind­li­chen Arbei­ter­be­we­gung das Was­ser abzugraben.

Der Auf­bau eines funk­tio­nie­ren­den Gesund­heits­we­sens war Bestand­teil der Instal­la­ti­on bür­ger­li­cher Staat­lich­keit, die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung Bestand­teil des Kon­kur­renz­kamp­fes zwi­schen sich her­aus­bil­den­den kapi­ta­li­sti­schen Natio­nen. Wer über das beste Gesund­heits­sy­stem ver­füg­te, des­sen Bevöl­ke­rung war am wenig­sten von Krank­hei­ten betrof­fen. Die­se simp­le Logik betraf natür­lich nur die ent­wickel­ten Kern­ge­bie­te des Kapi­ta­lis­mus, nicht aber kolo­ni­al erober­te und zur Plün­de­rung frei­ge­ge­be­ne Ter­ri­to­ri­en. Das welt­wei­te Gesund­heits­we­sen ist bis heu­te durch kras­se Unter­schie­de geprägt.

Mit dem Aus­lau­fen der exten­si­ven Pha­se des Kapi­ta­lis­mus dreh­te sich die Ent­wick­lung um. Als Ergeb­nis des ideo­lo­gi­schen Sie­ges­zu­ges des Neo­li­be­ra­lis­mus erschien die müh­sam aus dem Boden gestampf­te und unter ande­rem von der Arbei­ter­be­we­gung gegen Wider­stän­de erkämpf­te sozi­al­me­di­zi­ni­sche Infra­struk­tur plötz­lich als unnüt­zer Kosten­fak­tor. Aus­ge­rech­net Pri­va­ti­sie­rung galt nun als All­heil­mit­tel, chro­nisch defi­zi­tä­re Staats- oder Kom­mu­nal­be­trie­be in spru­deln­de Geld­quel­len zu verwandeln.

Und was pas­siert seit­dem mit Kran­ken­häu­sern, Reha-Kli­ni­ken und ähn­li­chen Ein­rich­tun­gen, die unge­ach­tet bru­ta­ler Spar­dik­ta­te wei­ter rote Zah­len schrei­ben? Nicht sel­ten wur­den sie ent­we­der teil­wei­se oder voll­stän­dig geschlos­sen. Auch in Deutsch­land schrumpft die medi­zi­ni­sche Infra­struk­tur seit Jah­ren; die öffent­li­che Gesund­heits­vor­sor­ge zieht sich zuneh­mend aus der Flä­che zurück und kon­zen­triert sich auf wirt­schaft­lich flo­rie­ren­de Ballungsräume.

Schon mit der Wirt­schafts­kri­se der Jah­re 2007 bis 2009 schien der Neo­li­be­ra­lis­mus am Ende zu sein – nur mit­tels mas­si­ver Über­schul­dung der jewei­li­gen Natio­nal­öko­no­mien gelang es damals, die glo­ba­le Kri­se unter Kon­trol­le zu bekom­men. Dass die­se simp­le Stra­te­gie bei der seit 2019 anlau­fen­den neu­en Wirt­schafts­kri­se nicht noch ein­mal grei­fen wür­de, war abzu­se­hen. Schul­den­ber­ge kön­nen halt nicht bis ins Unend­li­che wachsen.

Einen Aus­weg hät­te ein erneu­ter Moder­ni­sie­rungs­schub mit wie­der spru­deln­den Steu­er­mil­li­ar­den gebo­ten. Ein sol­cher Schub war aber nach dem Ende des Booms von Com­pu­ter­tech­nik und Netz­kom­mu­ni­ka­ti­on nicht in Sicht. Und dann kam das Virus. Und mit ihm die Mög­lich­keit, das (bereits vor­han­de­ne) Markt­seg­ment »mensch­li­cher Kör­per« mas­siv zu erweitern.

Das Virus war nicht – wie meist dar­ge­stellt – Aus­lö­ser der Kri­se. Es wur­de als Mit­tel für eine Kri­sen­be­wäl­ti­gung im kapi­ta­li­sti­schen Sin­ne benutzt. Die­ser Ver­such einer Kri­sen­be­wäl­ti­gung war und ist selbst­ver­ständ­lich ein reak­tio­nä­rer, fak­tisch ein Rück­griff auf die auto­ri­tär-repres­si­ve Früh­pha­se des Kapitalismus.

Das in die­sem Zusam­men­hang auch von Sei­ten der poli­ti­schen Lin­ken ver­nehm­ba­re Froh­locken über die Rück­kehr der Hand­lungs­fä­hig­keit des Staa­tes, über sei­ne ver­meint­li­che Für­sor­ge gegen­über den Opfern der Pan­de­mie ist hin­ge­gen völ­lig unan­ge­bracht. Tat­säch­lich klafft seit Beginn der Anti-Pan­de­mie-Maß­nah­men die sozia­le Sche­re in allen Tei­len der Welt immer wei­ter aus­ein­an­der. Die zuvor schon armen Tei­le der Bevöl­ke­rung wur­den immer ärmer, und auch das Ver­mö­gen des Mit­tel­stan­des schrumpf­te. Vor allem Unter­neh­men der Phar­ma­in­du­strie, der Trans­port- und Logi­stik­bran­che fuh­ren hin­ge­gen mär­chen­haf­te Gewin­ne ein. Das Ziel einer Kri­sen­be­wäl­ti­gung war (vor­läu­fig) erreicht …

Die wäh­rend der letz­ten Jahr­zehn­te arg demo­lier­te medi­zi­ni­sche Infra­struk­tur ist jedoch wäh­rend der Pan­de­mie nicht etwa wie­der auf-, son­dern im Gegen­teil wei­ter abge­baut wor­den. Noch immer wer­den Kran­ken­häu­ser und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen geschlos­sen. In den noch bestehen­den Eirich­tun­gen wird das Per­so­nal nach wie vor mise­ra­bel bezahlt; die Arbeits­be­din­gun­gen haben sich mas­siv verschlechtert.

Von Wider­stand gegen die repres­si­ven Zumu­tun­gen und sozia­len Fol­gen die­ser Stra­te­gie ist bis­her nur wenig zu ver­spü­ren. Die Lin­ke, deren Auf­ga­be es an sich wäre, sol­chen Wider­stand zu orga­ni­sie­ren, schweigt ent­we­der para­ly­siert oder aber übt sich im skla­vi­schen Gehor­sam – selbst ange­sichts völ­lig unsin­ni­ger staat­li­cher Maß­nah­men: Statt wie bis­her in den Genuss eines halb­wegs funk­tio­nie­ren­den Gesund­heits­sy­stems zu kom­men, muss­te die Bevöl­ke­rung rigo­ro­se Kon­takt­be­schrän­kun­gen über sich erge­hen las­sen. Und wäh­rend Prei­se für Waren des täg­li­chen Bedarfs explo­dier­ten, hat man der Phar­ma­in­du­strie Rie­sen­be­trä­ge zur Ent­wick­lung neu­er Medi­ka­men­te in den Rachen gewor­fen. Die Wirk­sam­keit die­ser über­stürzt ent­wickel­ten Impf­stof­fe ist aller­dings, nun ja, umstritten.

Man muss nicht das Wir­ken fin­ste­rer Ver­schwö­rer hin­ter den ver­ord­ne­ten Zumu­tun­gen der letz­ten Jah­re sehen. Als Fazit bleibt aller­dings: Die staat­li­chen Ein­grif­fe erzwan­gen einen Moder­ni­sie­rungs­schub zur Durch­set­zung par­ti­ku­la­rer Ein­zel­in­ter­es­sen von Unter­neh­mens­grup­pen. Und die­se gehen zu Lasten der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit unse­res Planeten.

Die­se Art von Kri­sen­be­wäl­ti­gung kann natür­lich nur eine Kri­sen­be­wäl­ti­gung auf Zeit sein – das Fort­schrei­ten der Kri­se wur­de ledig­lich aus­ge­bremst. Die zuneh­men­de Mili­ta­ri­sie­rung des öffent­li­chen Dis­kur­ses, Rüstungs­auf­trä­ge, Waf­fen­lie­fe­run­gen in Kriegs­ge­bie­te, auch eine offen dis­ku­tier­te Renais­sance der Atom­ener­gie sind die Fol­gen. Die sozia­len Ver­wer­fun­gen von Wirt­schafts­kri­se und ver­un­glück­ten Anti-Kri­sen-Stra­te­gien sind schon heu­te hef­tig. Und das repres­si­ve Instru­men­ta­ri­um der Anti-Pan­de­mie-Maß­nah­men lässt sich wun­der­bar im Fal­le eines Auf­be­geh­rens grö­ße­rer Tei­le der Bevöl­ke­rung reaktivieren.

Erfor­der­lich wäre ein Bruch mit der ver­que­ren Logik kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schaf­tens. So etwas wird aber nicht ein­mal mehr diskutiert.