Peter Arlt ist emeritierter Professor für Kunstgeschichte-Kunsttheorie der Universität Erfurt sowie Kurator und Katalogautor für zahlreiche Ausstellungen. Das Gespräch für Ossietzky führte die in Korinth lebende Publizistin Elisabeth Voss.
O.: Die Positionen zum Realismus stellt in Merseburg ein Kolloquium zur Diskussion. Grundlage dafür ist die Ausstellung »Merseburger Sprüche & Sprünge. Hommage auf den Realismus« in der Willi-Sitte-Galerie, deren Kurator Sie sind. Nach der Besprechung von Maria Michel (Ossietzky 15/2021) würde ich den Realismus-Begriff und die Hommage auf den Realismus hinterfragen.
PA: Hommage soll nicht bedeuten, wie bei toten Genies etwas Vergangenem zu huldigen. Wir wollen zeigen, wie lebensvoll der Realismus ist, dessen Kunst wir in der Ausstellung ins Gedächtnis rufen wollen. Dazu muss die realistische Kunst, der ersten Zauberformel der »Merseburger Zaubersprüche« gleich, den Haftbanden und Gängelbändern des Kunsthandels und der Kunstpolitik entkommen. Jeder will seinen Spruch im eigenen Sinn und Stil frei entfalten und ihn den vielfältigen Sprüchen der Realismus-Gemeinschaft beifügen.
O: Und zu den Sprüchen kommen noch Sprünge?
PA: Voll mosaikartiger Schönheit und kunstvoller Bewegung zeigt Elrid Metzkes in ihrem Gobelin, wie mit kunstfertigem Springen und Radschlagen ein Wirklichkeitsmotiv sinnbildlich zur Kunst erhoben wird, im Sinne eines Aphorismus´ von Franz Marc: »erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.«
O: Was umfasst der Realismus der Merseburger Ausstellung?
PA: Das Ausstellungskonzept folgt einer gemalten Lebensuhr, deren Zeiger auf verschiedene Lebenszeiten deuten. Das sind millionenfache gemeinsame menschliche Erfahrungen, wie Geburt, Kindheit, Essen, Schlafen, Lernen, Arbeit, Erholung; Liebe, Abneigung und Hass; Gewalt und Krieg; Krankheit, Leiden und Tod; Elend und gemeinschaftlicher Luxus, Aufbruch zum Horizont und Absturz; der Einzelne in der Gesellschaft und in der Natur mit Landschaften, Pflanzen und Tieren. Alle Erfahrungen werden von unzähligen Sujets erfasst, wie die poesievolle Atmosphäre und der farbige Reichtum von Landschaften oder bei den Liebesbildern die nackte Haut als ein Geschmeide oder der Kubus der Totenköpfe und die zerschossenen Leiber, die Schmach und Verantwortungsgefühl fordern, oder die Ferkel-Pieta eine Ethik der Lebensbewahrung. Alle Lebensbereiche der Realität werden im Realismus unmittelbar sinnlich angeeignet, so wird er eine demokratische, egalitäre Kunst. Aber gegen die enggeführte Meinung, dass die Kunst ausschließlich in der Wiedergabe von Dingen bestehen soll, die der Künstler sehen und fühlen kann, widersprach dem Willen, zur Wahrheit vorzustoßen. Realismus beschränkt sich nicht auf die unmittelbare sinnliche Aneignung der Realität, sondern bringt eine gestalthafte Zeichenfindung hervor.
O: Das Kolloquium stellt sicher die Erweiterung des Realismus zur Diskussion.
PA: Alle Künstler suchen nach gestalthafter Zeichenfindung in eigener künstlerischer Form. In der »Ballettstudie« Sittes greifen mit erotischer Anmut die organischen Bewegungen der Tänzerin über sich, die schwungvollen Glieder in simultaner Mehrfachbewegung sprengen fast die Grenzen, aber bleiben mit natürlichen Formen in dem menschlichen Kreis der Vitruvianischen Figur. Dagegen maßt sich der Mensch in Joachim Kuhlmanns »Anatomiestudien« an, die Natur zu korrigieren, zu verbessern oder gar neu herzustellen.
Ingo Arnolds Textbild steht im Metrum der Musik und in der Metrik der Verskunst. Das Bildliche zeigt nicht direkt Wirklichkeit, sondern assoziiert diese in einem synästhetischen Wechselspiel. Das geschrieben-gezeichnete Klanggedicht Ingo Arnolds hebt mit der Dialektik asiatischer Philosophie ein Textbild zu einem ungewöhnlichen realistischen Bild. Und beim Grafiker Heinz Trökes bilden alle elementaren grafischen Strukturen fantasiereich, kontrastvoll und sublim die komplexe Vielfalt des Universums wie in einer grafischen Weltformel.
O: Früher kritisierte man dies als »Ausuferung«. Was ist Realismus im Kern wirklich?
PA: Realismus hält das Vorübergehende fest. Trotzdem ist er nicht die Präsenz der Wirklichkeit, sondern die Repräsentanz in gestalthaften Bildzeichen. Dennoch gewinnen die Werke ihre Emotion vor allem mit sinnlicher Präsenz. Dadurch wird die allgemeine Kunst zur realistischen Kunst. Der Realist arbeitet mit allen Mitteln, um an die Realität heranzukommen. Er will, nach Bertolt Brecht, sehen, wie die Dinge und Verhältnisse wirklich sind. Die Form verlangt ein Material. Wir griffen dazu nicht auf die seit langem überhandnehmenden Medien, wie Video oder Installation oder Aktionen, sondern konzentrierten und beschränkten uns auf die Medien Malerei, Grafik, Fotos, Gobelins und Plastik, die wir in der Ausstellung sehen und genießen können. Baldwin Zettl war neu überrascht, »die handwerklichen Verschiedenheiten zu sehen und wie diese nur ein Ziel anstreben: mit den Mitmenschen in Berührung zu kommen«.
O: Wird Realismus somit vom spirituellen Sinn bestimmt?
PA: »Das Sinnbild ist das eigentliche Ziel − das Bild als Metapher für meine Welterfahrung«; so bestimmt Uwe Pfeifer seinen Realismus. In der Tagtraum-Folge führen profane Motive zu Metaphern. Über die Ausgrabungsstätte, eine schmale Grenze vergangener Kultur zur Gegenwart, segelt eine Stadttaube, ihr Schatten gleitet über Gräber und gebietet Einhalt und Besinnen über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.
O: Welchen Wunsch haben Sie?
PA: Für den Realismus besteht eine Zukunftspotenz, wenn sie das Schöne und Lobenswerte preist und mit kritischem Potential auf das Misslungene zeigt, bis hin zum Infragestellen des politischen Systems. Ein Besucher behauptete, dass der verminderte Stand der Allgemeinbildung Nachwachsender und materielle Begehrlichkeiten die einst anerkannte ideelle Basis im Miteinander verdrängen und sich viele Zugangsbarrieren ergeben. Schön wäre es, sagen zu können, die Einschätzung, der Realismus ist dem Leben des Volkes nahe, leuchtete dem Volke selbst ein.
Kolloquium, 5. November, 14-17 Uhr, Willi Sitte-Galerie, Merseburg, Domstraße 15.