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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Dialog mit Käthe Kollwitz

Das grei­sen­haf­te Gesicht der Käthe Koll­witz, foto­gra­fiert kurz vor ihrem Tod im April 1945 in Moritz­burg, lässt einen nicht mehr los: Mit einem dicken Schal umhüllt, schaut es uns mit erschüt­tern­dem Aus­druck an, die leid­vol­len Erfah­run­gen ihres Lebens – und den­noch Wür­de – wider­spie­gelnd, des bevor­ste­hen­den Todes gewiss: eine Mah­nung an die (Über-)Lebenden. Die­ses Foto befin­det sich in der Ber­li­ner Pri­vat­samm­lung Gud­run und Mar­tin Frit­sch, die jetzt im Dia­log mit jüngst ent­stan­de­nen Gemäl­den und Skulp­tu­ren des in Los Ange­les leben­den kuba­ni­schen Künst­lers Enri­que Mar­ti­nez Cela­ya in der Gale­rie Judin gezeigt wer­den. Das ist das Beson­de­re die­ser Aus­stel­lung: Jahr­zehn­te­lang hat sich Mar­ti­nez Cela­ya mit dem Koll­witz-Werk aus­ein­an­der­ge­setzt, und als er die Koll­witz-Samm­lung des Samm­ler­paa­res Frit­sch sah, hat er spon­tan Ent­spre­chun­gen und Ent­ge­gen­set­zun­gen unse­rer Zeit zu ein­zel­nen Wer­ken die­ser Samm­lung geschaf­fen. Der äuße­re Ein­druck: Den Klein­for­ma­ten der Zeich­nun­gen, Drucke und Skulp­tu­ren von Käthe Koll­witz ste­hen die kolos­sa­len Gebil­de Mar­ti­nez Cela­yas gegen­über, Aus­druck eines unter­schied­li­chen Zeit­be­wusst­seins. Der Künst­ler lässt sich wie von einem Bewusst­seins­strom tra­gen, über­nimmt und fügt hin­zu, lässt weg und ändert ab, setzt ein Sujet, ein Motiv in einen neu­en Kon­text, einen neu­en Zusam­men­hang, pro­biert alles aus, was ihm mög­lich erscheint.

Sein Gemäl­de »The Gar­den of Pover­ty« (2020, S. 87) bezieht sich auf die Tusch­zeich­nung »Die Über­le­ben­den« (1922/​23): Eine Kriegs­wit­we im schwar­zen Gewand hat schüt­zend ihre Arme und Hän­de um ihre drei Kin­der gelegt. Sie sucht ihre Kin­der vor dem näch­sten Krieg zu bewah­ren. Cela­ya löst die Sze­ne aus ihrem zeit­ge­schicht­lich-gegen­ständ­li­chen Kon­text und birgt die Köp­fe der Kin­der in einem schwar­zen Tuch, auf dem Rosen­blü­ten erkenn­bar sind. Schwar­ze Rosen als Aus­druck von Trau­er und Ver­lust. Im Kata­log wird von einer Schutz­man­tel­ma­don­na gespro­chen, die den Kin­dern unter ihrem weit aus­ge­brei­te­ten Man­tel Zuflucht bie­tet. Das Por­trät einer lei­den­den Mut­ter (»The Scream«, 2020) erin­nert mit sei­ner Inschrift »So sieht Gott sei Dank eine deut­sche Mut­ter nicht aus!« an Dürers berühm­te Koh­le­zeich­nung sei­ner Mut­ter Bar­ba­ra Dürer von 1514. Bereits im Dürer-Gedenk­jahr 1971 hat­te der Polit­gra­fi­ker Klaus Staeck das Motiv – Dürers Mut­ter – mit der Fra­ge pla­ka­tiert: »Wür­den Sie die­ser Frau ein Zim­mer ver­mie­ten?«. Das Gemäl­de »The Long Night« (2020) geht auf die Krei­de­zeich­nung »Das Schlacht­feld« (1907) der Koll­witz zurück: Eine gebück­te Mut­ter sucht mit einer Later­ne auf dem Schlacht­feld nach dem toten Sohn. Bei Cela­ya kann die Berüh­rung des Toten durch eine knö­cher­ne Hand als Zugriff des Todes gedeu­tet wer­den. In der Koh­le­zeich­nung »Frau mit totem Kind« (1903) hat sich die Mut­ter über den Kör­per ihres toten Kin­des gewor­fen, sie will es in ihre Arme zurück­ho­len, sie presst es an sich – und auch das Kind scheint nicht von ihr las­sen zu wol­len. Die­se Koll­witz-Zeich­nung kann mit »The Child’s Song« (2020) ver­gli­chen wer­den. Hier wird Far­be ins Spiel gebracht, es ist die über­di­men­sio­na­le Rosen­blü­te mit ihrer bedroh­li­chen inne­ren Schwär­ze, die mehr Leid und Trau­er ver­stärkt als Hoff­nung aus­löst. Ein dün­nes Blut­ge­rinn­sel fließt vom Kör­per des Kin­des in die Rose. Far­be muss ver­gos­sen wer­den, sagt Cela­ya. Far­be ist aber auch Aus­druck von Mensch­sein. »Gesti­sche« Male­rei und Sym­bo­lis­mus kom­men hier zusammen.

Dage­gen greift das Gemäl­de »The Pup­pet« (2020) Koll­witz’ Akt­stu­die in der Radie­rung »Aus vie­len Wun­den blu­test du, o Volk« (um 1896) auf. Der Künst­ler über­schüt­tet eine gemar­ter­te Frau mit gebeug­tem Kopf und ange­win­kel­ten Armen mit Blu­men und Blü­ten­blät­tern, Aus­druck einer heil­sa­men, »poe­ti­schen« Asso­zia­ti­on. Zwar wir­ken die tran­szen­den­ten Blu­men wie eine zusätz­li­che Last, aber könn­ten sie dem gequäl­ten Kör­per nicht auch Flü­gel ver­lei­hen? Cela­yas Trans­for­ma­tio­nen und Hin­zu­fü­gun­gen las­sen sich mit­un­ter auf ganz wider­sprüch­li­che Wei­se deuten.

Distanz, sogar Käl­te strahlt sei­ne monu­men­ta­le Skulp­tur »The Heart of Glass« (2020, Zement) aus, ein Gedächt­nis­mal, ein Zwi­schen­zu­stand zwi­schen Leben und Tod. Vor­bild war hier Koll­witz‘ Skulp­tur »Abschied« (1940/​41, Bron­ze) gewe­sen, dem Tod ihres Ehe­man­nes gewid­met, der fast 50 Jah­re an ihrer Sei­te gestan­den hat­te. Im Tage­buch hat sie notiert, dass hier ihr Mann »sich von mir los­löst und mei­nen Armen ent­zieht«, Umar­mung jetzt also nicht in lei­den­schaft­li­cher Hin­ga­be, son­dern in schmerz­vol­ler Entsagung.

Die Samm­lung Frit­sch, die etwa 100 Wer­ke, Zeich­nun­gen, Druck­gra­fi­ken, dar­un­ter zahl­rei­che aus dem Nach­lass erwor­be­ne Vor­ar­bei­ten und sel­te­ne Zustands­drucke, aber auch eini­ge bedeut­sa­me Pla­sti­ken umfasst, kann zen­tra­le The­men der Koll­witz – Mut­ter und Kind, Abschied und Tod – prä­sen­tie­ren. In den Blät­tern haben wir es mit Gestal­ten und Sze­nen zu tun, die nur durch ein dar­über huschen­des Licht als auf­zucken­de Indi­vi­du­en erkenn­bar blei­ben. Das Zusam­men­spiel von hef­tig gestei­ger­ter äuße­rer Bewegt­heit und star­ker, inne­rer psy­chi­scher Regung ist Aus­druck einer Erschüt­te­rung, die den Men­schen mit der Kraft einer Offen­ba­rung im Inner­sten trifft. So wenn er plötz­lich eine neue Bedeu­tung, ein neu­es Gesicht der Din­ge wahr­nimmt, einen auf­blit­zen­den Spalt, ein Zei­chen, das ihm bis­her ver­bor­gen geblie­ben war. Für Koll­witz spie­len die »Din­ge hin­ter der Wirk­lich­keit« eine beson­de­re Rol­le. Sie hat Vor­bil­der aus der christ­li­chen Dar­stel­lungs­tra­di­ti­on umfor­mu­liert und ihren eige­nen Bild­ge­dan­ken anver­wan­delt. Bei ihr sind das die Varia­tio­nen zum Bild­ty­pus der Mut­ter­got­tes oder ihr wie­der­hol­tes Auf­grei­fen der Grab­le­gungs­sze­ne. Die Gebär­de der an das Gesicht oder den Kopf geleg­ten Hand ergibt sich in allen Aus­drucks­fär­bun­gen, vom Nach­den­ken über Kum­mer und Leid bis zur tief­sten Verzweiflung.

In ihrem klein­for­ma­ti­gen Bron­ze­re­li­ef »Die Kla­ge« (1938/​40), dem Geden­ken des im glei­chen Jahr ver­stor­be­nen und wie sie von den Nazis ver­fem­ten Ernst Bar­lach gewid­met, hat sie sich selbst als Trau­ern­de dar­ge­stellt. Das Motiv der ver­klam­mer­ten Hän­de und der har­te, die Schnitt­flä­chen oben und unten begren­zen­de Aus­schnitt geben der Kom­po­si­ti­on – trotz des ganz ande­ren For­mats – eine ähn­li­che Festig­keit und Monu­men­ta­li­tät wie Bar­lachs Güstrower Denk­zei­chen, der »Schwe­ben­de Engel«, der die Züge der Koll­witz trägt.

Enri­que Mar­ti­nez Cela­ya und Käthe Koll­witz – Von den ersten und den letz­ten Din­gen. Gale­rie Judin, 10785 Ber­lin, Pots­da­mer Str. 83. Wäh­rend des Lock­downs Mo-Fr 11-18 Uhr nach vor­he­ri­ger Abspra­che (info@galeriejudin.com), danach ohne Vor­anmel­dung, bis 10. April 2021. Kata­log (Hat­je Cantz) 44 Euro. Instal­la­ti­ons­an­sich­ten und aus­ge­wähl­te Wer­ke unter: https://www.galeriejudin.com/exhibitions/2021/enrique-martinez-celaya_kaethe-kollwitz/installation/works.html