Das greisenhafte Gesicht der Käthe Kollwitz, fotografiert kurz vor ihrem Tod im April 1945 in Moritzburg, lässt einen nicht mehr los: Mit einem dicken Schal umhüllt, schaut es uns mit erschütterndem Ausdruck an, die leidvollen Erfahrungen ihres Lebens – und dennoch Würde – widerspiegelnd, des bevorstehenden Todes gewiss: eine Mahnung an die (Über-)Lebenden. Dieses Foto befindet sich in der Berliner Privatsammlung Gudrun und Martin Fritsch, die jetzt im Dialog mit jüngst entstandenen Gemälden und Skulpturen des in Los Angeles lebenden kubanischen Künstlers Enrique Martinez Celaya in der Galerie Judin gezeigt werden. Das ist das Besondere dieser Ausstellung: Jahrzehntelang hat sich Martinez Celaya mit dem Kollwitz-Werk auseinandergesetzt, und als er die Kollwitz-Sammlung des Sammlerpaares Fritsch sah, hat er spontan Entsprechungen und Entgegensetzungen unserer Zeit zu einzelnen Werken dieser Sammlung geschaffen. Der äußere Eindruck: Den Kleinformaten der Zeichnungen, Drucke und Skulpturen von Käthe Kollwitz stehen die kolossalen Gebilde Martinez Celayas gegenüber, Ausdruck eines unterschiedlichen Zeitbewusstseins. Der Künstler lässt sich wie von einem Bewusstseinsstrom tragen, übernimmt und fügt hinzu, lässt weg und ändert ab, setzt ein Sujet, ein Motiv in einen neuen Kontext, einen neuen Zusammenhang, probiert alles aus, was ihm möglich erscheint.
Sein Gemälde »The Garden of Poverty« (2020, S. 87) bezieht sich auf die Tuschzeichnung »Die Überlebenden« (1922/23): Eine Kriegswitwe im schwarzen Gewand hat schützend ihre Arme und Hände um ihre drei Kinder gelegt. Sie sucht ihre Kinder vor dem nächsten Krieg zu bewahren. Celaya löst die Szene aus ihrem zeitgeschichtlich-gegenständlichen Kontext und birgt die Köpfe der Kinder in einem schwarzen Tuch, auf dem Rosenblüten erkennbar sind. Schwarze Rosen als Ausdruck von Trauer und Verlust. Im Katalog wird von einer Schutzmantelmadonna gesprochen, die den Kindern unter ihrem weit ausgebreiteten Mantel Zuflucht bietet. Das Porträt einer leidenden Mutter (»The Scream«, 2020) erinnert mit seiner Inschrift »So sieht Gott sei Dank eine deutsche Mutter nicht aus!« an Dürers berühmte Kohlezeichnung seiner Mutter Barbara Dürer von 1514. Bereits im Dürer-Gedenkjahr 1971 hatte der Politgrafiker Klaus Staeck das Motiv – Dürers Mutter – mit der Frage plakatiert: »Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?«. Das Gemälde »The Long Night« (2020) geht auf die Kreidezeichnung »Das Schlachtfeld« (1907) der Kollwitz zurück: Eine gebückte Mutter sucht mit einer Laterne auf dem Schlachtfeld nach dem toten Sohn. Bei Celaya kann die Berührung des Toten durch eine knöcherne Hand als Zugriff des Todes gedeutet werden. In der Kohlezeichnung »Frau mit totem Kind« (1903) hat sich die Mutter über den Körper ihres toten Kindes geworfen, sie will es in ihre Arme zurückholen, sie presst es an sich – und auch das Kind scheint nicht von ihr lassen zu wollen. Diese Kollwitz-Zeichnung kann mit »The Child’s Song« (2020) verglichen werden. Hier wird Farbe ins Spiel gebracht, es ist die überdimensionale Rosenblüte mit ihrer bedrohlichen inneren Schwärze, die mehr Leid und Trauer verstärkt als Hoffnung auslöst. Ein dünnes Blutgerinnsel fließt vom Körper des Kindes in die Rose. Farbe muss vergossen werden, sagt Celaya. Farbe ist aber auch Ausdruck von Menschsein. »Gestische« Malerei und Symbolismus kommen hier zusammen.
Dagegen greift das Gemälde »The Puppet« (2020) Kollwitz’ Aktstudie in der Radierung »Aus vielen Wunden blutest du, o Volk« (um 1896) auf. Der Künstler überschüttet eine gemarterte Frau mit gebeugtem Kopf und angewinkelten Armen mit Blumen und Blütenblättern, Ausdruck einer heilsamen, »poetischen« Assoziation. Zwar wirken die transzendenten Blumen wie eine zusätzliche Last, aber könnten sie dem gequälten Körper nicht auch Flügel verleihen? Celayas Transformationen und Hinzufügungen lassen sich mitunter auf ganz widersprüchliche Weise deuten.
Distanz, sogar Kälte strahlt seine monumentale Skulptur »The Heart of Glass« (2020, Zement) aus, ein Gedächtnismal, ein Zwischenzustand zwischen Leben und Tod. Vorbild war hier Kollwitz‘ Skulptur »Abschied« (1940/41, Bronze) gewesen, dem Tod ihres Ehemannes gewidmet, der fast 50 Jahre an ihrer Seite gestanden hatte. Im Tagebuch hat sie notiert, dass hier ihr Mann »sich von mir loslöst und meinen Armen entzieht«, Umarmung jetzt also nicht in leidenschaftlicher Hingabe, sondern in schmerzvoller Entsagung.
Die Sammlung Fritsch, die etwa 100 Werke, Zeichnungen, Druckgrafiken, darunter zahlreiche aus dem Nachlass erworbene Vorarbeiten und seltene Zustandsdrucke, aber auch einige bedeutsame Plastiken umfasst, kann zentrale Themen der Kollwitz – Mutter und Kind, Abschied und Tod – präsentieren. In den Blättern haben wir es mit Gestalten und Szenen zu tun, die nur durch ein darüber huschendes Licht als aufzuckende Individuen erkennbar bleiben. Das Zusammenspiel von heftig gesteigerter äußerer Bewegtheit und starker, innerer psychischer Regung ist Ausdruck einer Erschütterung, die den Menschen mit der Kraft einer Offenbarung im Innersten trifft. So wenn er plötzlich eine neue Bedeutung, ein neues Gesicht der Dinge wahrnimmt, einen aufblitzenden Spalt, ein Zeichen, das ihm bisher verborgen geblieben war. Für Kollwitz spielen die »Dinge hinter der Wirklichkeit« eine besondere Rolle. Sie hat Vorbilder aus der christlichen Darstellungstradition umformuliert und ihren eigenen Bildgedanken anverwandelt. Bei ihr sind das die Variationen zum Bildtypus der Muttergottes oder ihr wiederholtes Aufgreifen der Grablegungsszene. Die Gebärde der an das Gesicht oder den Kopf gelegten Hand ergibt sich in allen Ausdrucksfärbungen, vom Nachdenken über Kummer und Leid bis zur tiefsten Verzweiflung.
In ihrem kleinformatigen Bronzerelief »Die Klage« (1938/40), dem Gedenken des im gleichen Jahr verstorbenen und wie sie von den Nazis verfemten Ernst Barlach gewidmet, hat sie sich selbst als Trauernde dargestellt. Das Motiv der verklammerten Hände und der harte, die Schnittflächen oben und unten begrenzende Ausschnitt geben der Komposition – trotz des ganz anderen Formats – eine ähnliche Festigkeit und Monumentalität wie Barlachs Güstrower Denkzeichen, der »Schwebende Engel«, der die Züge der Kollwitz trägt.
Enrique Martinez Celaya und Käthe Kollwitz – Von den ersten und den letzten Dingen. Galerie Judin, 10785 Berlin, Potsdamer Str. 83. Während des Lockdowns Mo-Fr 11-18 Uhr nach vorheriger Absprache (info@galeriejudin.com), danach ohne Voranmeldung, bis 10. April 2021. Katalog (Hatje Cantz) 44 Euro. Installationsansichten und ausgewählte Werke unter: https://www.galeriejudin.com/exhibitions/2021/enrique-martinez-celaya_kaethe-kollwitz/installation/works.html