»Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm’ ich so selten dazu« (Ödön von Horváth). Jede und jeder wird dieses Horváth’sche Unbehagen irgendwie kennen, auch wenn sich wohl nie ermitteln ließe, was das »Eigentliche«, diese seltsame innere Substanz, denn sein soll. Aber die Sehnsucht danach breitet sich in jüngerer Vergangenheit wie ein Virus pandemisch aus und entfacht allerorten einen Authentizitätswahn, der in Wahrheit die viel gefährlichere Krankheit ist als diejenige, die zu heilen er vorgaukelt. Wir müssten nur endlich dieses zivilisatorische Korsett abstreifen, unser »eigentliches« Sosein zeigen, dann würde alles besser werden, »echter«, eben authentischer.
»Unterm Strich zähl ich!« – diese Werbebotschaft, wie sie vor gar nicht langer Zeit von einem großen Versicherungskonzern über alle Medien verbreitet wurde, bringt auf verräterische Weise zum Ausdruck, dass die Erderwärmung nicht unser einziges Klima-Problem ist. Dass jeder vor allem an sich selbst denkt, propagiert und ins Extreme gewendet durch den sogenannten Neoliberalismus, ist seit Jahren, was man den Geist der Zeiten nennen könnte. Und dieser Geist hat das gesellschaftliche Klima ebenso geschädigt wie die CO2-Emissionen das meteorologische. Extreme Wetterlagen hier wie dort.
Die Busfahrerin schließt vor den heran hastenden, ganz knapp zu spät gekommenen, aber jetzt nur noch potenziellen Fahrgästen die Tür und fährt davon; der Kassierer rügt die Kundin lauthals, im Beisein und zum Verdruss der hinter ihr Wartenden, dass sie vergessen habe, ihr Gemüse abzuwiegen; der Taxifahrer stellt auch auf mehrfache Bitte hin das Radio kein bisschen leiser; Nachbarn ziehen gegeneinander vor Gericht, weil der Apfelbaum des einen zu viel Schatten auf das Grundstück des anderen wirft. Das sei unzumutbar und gehöre behördlich untersagt. Überhaupt: Unterm Strich zählen die Anderen nicht.
Die Aufzählung ließe durch etliche Beispiele erweitern. Man gibt und zeigt sich heute, wie man sich gerade so fühlt, man will aus seinem Herzen keine Mördergrube mehr machen. Also ist man, je nach Tagestimmung, missmutig oder gut gelaunt, immer unverstellt eben, und merkt gar nicht, dass man damit unversehens die Gruppe jener – pardon – »Arschlöcher« vergrößert, die einem selbst im Alltag gehörig auf die Nerven gehen. Man zeigt eben, wer und wie man »ist«, und kehrt sein »Inneres«, sein vermeintlich unverfälschtes Sosein nach außen – und zwar je lauter desto echter.
Ein verdrießlicherer und gefährlicherer Unsinn ist kaum denkbar. Dem ganzen Gerede von »authentischen Kunstwerken« oder »authentischen, mit sich selbst identischen Personen« – diesen weißen Schimmeln – liegt nichts als eine wirre Idee zugrunde. Authentizität wäre demnach das Gegenteil von Kultur, also davon, was den Menschen vom Naturwesen unterscheidet. Das Sozialwesen Mensch könnte ohne ein halbwegs friedliches Miteinander, ohne »cultura«, die auf Veredelung und »Verstellung« beruht, nicht bestehen. Wir leben von Beginn an bis an unser Ende in Beziehungen. Und dieses Zusammenleben wäre ohne Regeln und Konventionen, ohne Rücksichtnahme und Höflichkeit wohl nur schwer erträglich, wenn nicht gar unmöglich. Und dass es rauer wird da draußen, ruppiger, rücksichtsloser ist wohl kaum zu bestreiten.
Ein bedauerliches, frühes Opfer dieser Entwicklung ist die Höflichkeit, die zwar in manchen Kreisen durchaus noch gepflegt wird, deren Regeln jedoch im Berufsalltag und erst recht im Internet, in sozialen Medien oder via E-Mail zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Ich empfinde solches »außer-Form-geraten« unserer dialogischen Praxis, dessen unfreiwilliger Zeuge man immer öfter im Alltag wird, weil etwa Telefongespräche heute öffentlich und lauthals geführt werden, als schwere Beeinträchtigung. Man möchte sich ständig »fremdschämen«.
Es geht dabei um mehr als um Fragen des guten Geschmacks. Und es geht schon gleich gar nicht um so etwas wie Sitte und Anstand, deren Verlust wir gern, sei es bedauernd oder beglückt, umstandslos den neuen Medien zuschreiben. Das ist jedoch eigentümlich kurz gesprungen. Denn dass da auf allen Kanälen geschimpft, geflucht und beleidigt wird, ist doch nicht geradewegs dem technischen Fortschritt anzulasten. Technik mag ja die Hemmschwelle senken, die aggressiven Impulse gehen aber eindeutig von den »Usern« aus: nicht vom Handy, sondern vom Handy-Nutzer, nicht vom Provider, sondern vom E-Mail-Absender, nicht von Twitter oder Instagram, sondern vom Twitterer oder Instagramer.
Wir sprechen von ganz gewöhnlichen Zeitgenossen, deren, ja, asoziale Verhaltensweisen dafür sorgen, dass sich die Realität den medialen Umgangsformen immer weiter annähert. Das vermeintlich Echte, Unverfälschte steht hoch im Kurs, hat aber mitnichten nur lästige Auswirkungen auf unseren gesellschaftlichen Nahverkehr. Es prägt vielmehr auf besorgniserregende Weise inzwischen das gesamte Weltgeschehen. Und hier wird der individuelle Gewinn, den einige »Ichler« aus ihrem monströsen Gehabe ziehen mögen, tatsächlich zu einem ernsten kollektiven und einem akuten politischen Problem.
Als Donald Trump im November 2016 von den US-Bürgern zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, nannten seine Wählerinnen und Wähler als wichtigsten Grund dafür, ihm ihre Stimme gegeben zu haben, seine »Authentizität«. Endlich mal einer, der sagt, was er denkt, der so anders ist (zu sein scheint) als die stromlinienförmigen Berufspolitiker, das geschmähte »Establishment«, das seit ewigen Zeiten nur um sich selber kreist und sich um »unsere« Belange einen Dreck schert. Aus derselben Grundstimmung ziehen »Politiker« auch anderswo ihre Zustimmung, in Großbritannien und Brasilien, in Polen und Ungarn – die Aufzählung fortzusetzen, würde mich in Depression stürzen.
Dabei muss man ernsthaft fragen, ob Authentizität und Demokratie überhaupt kompatibel sind oder sich nicht vielmehr ausschließen. Politikerinnen und Politiker müssen Kompromisse eingehen können, sie müssen im Sinne des Gemeinwesens in der Lage sein, Positionen zu vertreten, die vielleicht nicht ihrer Privathaltung entsprechen, kurz, Dinge sagen und tun, die sie als Nicht-Politiker weder sagen noch tun würden. Anders wären die vielfältigen und teils widersprüchlichen Ansprüche einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft gar nicht handhabbar. Jedenfalls solange sie weiterhin demokratisch verfasst sein soll.
Wer einen Anspruch auf die eine, »eigene« Wahrheit erhebt und sein Inneres unkultiviert, also möglichst »echt« ins Außen überführen möchte, sollte von der Politik möglichst ferngehalten werden. Kurz: Wer primär nach innen schaut statt nach außen, ist für Führungsaufgaben in der Politik schlicht ungeeignet. Ein auch nur flüchtiger Blick in die Vergangenheit und auf die gegenwärtige Situation in manchen Ländern dieser Welt lässt erkennen, worauf das hinausläuft. So etwas Ähnliches hat schon mehrfach in die Katastrophe geführt. Denn die kollektive Entsprechung der individuellen Authentizität ist die nationale oder gar völkische Identität. Das wahre Ich geht dabei, so die hoffende Überzeugung, in einer quasi-natürlichen Gemeinschaft von Gleichen auf, die in ihrer Lebensart und Gesinnung nicht von äußeren Einflüssen »verunreinigt« werden darf.
Solche Identitätspolitik ist nichts anderes als Tribalismus und kehrt den Zivilisationsprozess radikal um. Der läuft ganz wesentlich eben nicht auf Gleichförmigkeit hinaus, sondern bezieht seine Kraft aus sozialer Reibung, besteht also darin, die Verschiedenheit produktiv zu machen. Alle Widersprüche in dem einen, einzigen »Volkskörper« zum Verschwinden zu bringen, hätte den kulturellen Kältetod zur Folge – und mündet in nichts anderem als Gewalt.
Was wir Zivilisation nennen, und wovon wir die vergangenen Jahrzehnte, mindestens in der westlichen Hemisphäre, in unvorstellbarem Ausmaß profitiert haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie bedarf unseres aktiven Schutzes. Und der bestünde unter anderem darin, diesem seltsamen Authentizitäts-Schwachsinn entgegenzutreten, der unsere Zukunft ebenso bedroht wie das eigennützige und kurzsichtige Vorteilsdenken von Wirtschaft und Politik, das den ökologischen und gesellschaftlichen Klimawandel maßgeblich befeuert hat.
Jeder ist seines Glückes Schmied, und jeder mehrt, wie dies Adam Smith gelehrt hat, den Nutzen aller, indem er seinen ganz eigenen Nutzen verfolgt. Aber diese immer noch gültige ökonomische Lehrmeinung hat mit der Wirklichkeit rein gar nichts zu tun. Egoismus und Eigensinn sind vielmehr die Hauptursachen all unserer Probleme. Für wen die Anderen »unterm Strich nichts zählen«, der ist ein Totengräber all dessen, was zu bewahren jede Anstrengung wert sein sollte.