Nach der Eingliederung von vier »Subjekten« aus dem bisherigen ukrainischen Staatsverband in die Russische Föderation, nach der Rede Wladimir Putins anlässlich dieses Vorgangs, mit der Russland sich vom Westen verabschiedet und nach den Erklärungen der Ukraine und ihrer Unterstützer, diesen Vorgang niemals anerkennen zu wollen, steht die Frage: Wie geht es weiter?
Geht es noch um die Ukraine? Ging es je um die Ukraine? Wer soll »zerstört« werden? Mit welchen Konsequenzen? Oder gibt es vielleicht etwas zu besprechen?
Fassen wir es so: Wenn es denn überhaupt um die Ukraine ginge, und sie nicht nur stellvertretend benutzt würde, um die globale Machtordnung neu zu »regeln«, dann wäre primär von der Tatsache auszugehen, dass es keine entweder Ost- oder Westzugehörigkeit des Gebietes geben kann, das sich bisher als Ukraine verstanden hat, sondern nur um eine wie auch immer geartete Übergangssituation auf dem Weg der Herausbildung einer Staatlichkeit, die der kaleidoskopartigen Geschichte und Realität dieses Raumes entspricht.
Das würde bedeuten, einzuhalten mit den Versuchen, Teile des Gebietes oder auch das ganze Gebiet in Staatsformen zwingen zu wollen, die seiner sozialen, kulturellen und strukturellen Verfasstheit nicht entsprechen. Was die Bevölkerung dieses Raumes stattdessen braucht, ist die Möglichkeit, die Staatsform, in der sie zwischen den Blöcken EU und Russland leben kann und will, selbst zu entwickeln.
Betrachtet man die Geschichte, dann ist dies, wenn von dem ukrainischen Land als Ganzem die Rede sein soll, weder in der Rückführung in die russische Föderation noch in einem Übergang in die Europäische Union ohne schwere innere und auch weitere äußere Konflikte möglich. Möglich und im Interesse einer friedlichen und langfristig stabilen Entwicklung sinnvoll wäre allein die Einleitung von Beratungen zur Entwicklung einer föderal verbundenen Gemeinschaft unterschiedlicher selbstverwalteter autonomer Regionen, die ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn nach ihren je eigenen Interessen in kooperativer Freiheit selbst gestalten.
Das klingt wie Utopie – wird auch Utopie bleiben, wenn nicht unverzüglich die Kämpfe eingestellt werden und zu Verhandlungen übergegangen wird, die es erlauben solche Gliederungen des Landes zu entwickeln, die den realen Gewordenheiten entsprechen.
Andernfalls wird sich der jetzige Krieg in einem Konflikt fortsetzen, der nicht nur die Ukraine als Ganzes und ihre Teile vernichtet, sondern auch die Europäische Union und Russland in einen zerstörerischen Dauerkonflikt, wenn nicht gar in kriegerische Konfrontationen führt, die Europas wie auch Russlands Kräfte in Feindschaft zueinander neutralisieren und verbrauchen, statt dass die beiden Teile Eurasiens sich in prosperierender Kooperation verbinden könnten.
Von einer solchen Entwicklung kann sich nach Lage der Dinge niemand einen Nutzen versprechen – außer vielleicht die USA für ihren Aufmarsch gegen China. Dabei verkennen die kriegstreiberischen Kräfte der USA allerdings, dass weder die USA noch China in der Lage wären, die Fliehkräfte zu binden, die von einer solchen Entwicklung unvermeidlich freigesetzt würden.
Erinnerungen kommen hier hoch an den vor wenigen Jahren verstorbenen US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der als gelehriger Schüler des angelsächsischen Commonwealth erklärte, wer die Welt beherrschen wolle, müsse Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen wolle, müsse das Herzland, also Russland, beherrschen. Wer Russland beherrschen wolle, müsse die Ukraine aus dessen Einflussbereich herauslösen. Dann könne Russland kein Imperium mehr sein.
Entlang dieser Strategie haben die USA spätestens seit 1991 ihre Politik gegenüber Russland entwickelt. Das soll hier nicht zum wiederholten Male aufgerollt werden, Die Stationen sind hinlänglich bekannt: Nato- und EU-Osterweiterung, Befeuerung bunter Revolutionen im nachsowjetischen Raum.
Genauer betrachtet werden soll hier jedoch die spiegelbildliche Verkehrung, die hinter dieser Strategie zurzeit in Umrissen wie ein Nightmare auftaucht, nämlich: Wer die gewachsenen Zusammenhänge der Ukraine zum Herzland Eurasiens zerstört, zerstört das Herzland. Wer das Herzland zerstört, also Russland, führt die Welt ins Chaos – es sei denn, er oder sie wäre nicht nur willens, sondern auch in der Lage, die Rolle zu übernehmen, die das Herzland für die Stabilisierung Eurasiens seit gut 1000 Jahren innehatte und jetzt immer noch hat, auch wenn sich an den Rändern Russlands Ermüdungserscheinungen gegenüber dem Krieg zeigen, den Moskau in der Ukraine gegenwärtig führt.
Sind sich die Unterstützer Kiews darüber im Klaren, wenn sie wie Joe Biden oder in seiner Spur die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die »Zerstörung« Russlands als strategisches Ziel ausrufen, was sie an dessen Stelle, also an die Stelle einer zentralisierten Vielvölkerstruktur setzen wollen? Sind sie in der Lage das Nightmare dieses verkehrten Brzezinski als Warnung zu begreifen und nicht in dieses Schwarze Loch zu taumeln? Das ist schon fast keine Frage mehr, denn dafür müsste genauer auf die Realitäten geschaut werden, als nur Ideologie von »Werten« abzusondern, die es gegen Russland als Verkörperung des Bösen zu verteidigen gelte.
Die Verwaltungsstruktur Russlands gleicht einem Speichenrad, das Völker und Regionen mit der Nabe Moskau verbindet. Was wollen diejenigen, die »Moskau« zerstören wollen, an die Stelle dieser Struktur setzen, um eine politische Explosion des Raumes zu verhindern? Was wollen sie an die Stelle der gewachsenen Verbindungen zwischen Völkern Russlands und Europa setzen? Erwarten sie etwa einen neuen politischen Partner nach dem Zuschnitt von Boris Jelzin oder gar eines Alexei Nawalny, der einen gestürzten Wladimir Putin ersetzen könnte? Hofft man wieder einmal auf einen »Regime Change«? Ist man sich über die Rolle, die Putin für die Stabilisierung des Raumes ausgefüllt hat, im Klaren?
Putin war und ist, man mag ihn mögen oder nicht, nicht nur im nachsowjetischen Russland ein Stabilisator, sondern auch ein Krisenmanager in zurückliegenden globalen Konflikten. Er war die aktivste Kraft im Umkreis der UNO, die sich der US-Dominanz für die Schaffung einer multipolaren Welt entgegengesetzt hat. Ganz prononciert gesprochen, er wäre der ideale Partner für einen Bundeskanzler Scholz auf dem von diesem neuerdings laut propagierten Weg in eine multipolare Zukunft – wenn Scholz nicht mental und politisch im US-dominierten Globalismus verstrickt wäre.
Dies alles spricht dafür, dass solche Fragen, also die Gefahr eines auseinanderbrechenden Eurasiens, einschließlich eines Auseinanderdriftens seiner europäischen Teile, gegenwärtig in den Vordergrund rücken, anders betrachtet, in den Vordergrund gerückt werden müssten.
Die Realität entwickelt sich allerdings anders: Wolodymyr Selenskyj hat, wie nicht anders zu erwarten, die Lage ungeachtet aller damit verbundenen Konsequenzen sofort zu eskalieren versucht: Antrag auf beschleunigte Aufnahme der Ukraine in die Nato, was den § 5 der Nato-Beistandsverpflichtung gegen Russland aktivieren und Europa, nicht zuletzt Deutschland, zum Schauplatz erweiterter Kriegshandlungen machen würde. Die Nato hat diesen Antrag auf die lange Bank geschoben. Das empfindet Selenskyj offenbar als Verrat. Er hat jedenfalls umgehend einen Erlass herausgegeben, der jedwede Aufnahme von Verhandlungen mit Vertretern Russlands ab sofort unter massive Strafandrohung stellt. Putin hat demgegenüber, auf Basis der durch die Eingliederung der von Russland jetzt geschaffenen Fakten, neue Verhandlungen angeboten, allerdings mit dem Zusatz, dass die Ergebnisse der Referenden nicht zur Debatte stünden. Darauf könnte man eingehen, aber will man das?
Bisher wurden die Schrauben immer nur in Richtung Eskalation gedreht. Jetzt ist die Welt im Auge des Taifuns angekommen. Unsere entschiedene Ablehnung dieses Krieges ist gefragt, auch, nein, gerade weil uns keiner der Beteiligten Volksvertreter nach unserer Meinung fragt.