Der Sonntag vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine: In der Talkrunde bei Anne Will soll es eigentlich noch um die Frage gehen, wie mit diplomatischen Mitteln ein Krieg zu verhindern ist. Doch als Sahra Wagenknecht versucht, die russische Perspektive darzustellen, brechen der CDU-Mann Norbert Röttgen und die Publizistin Constanze Stelzenmüller in Gelächter aus. Und SPD-Mann Lars Klingbeil verdreht die Augen. Die Bedrohung der russischen Sicherheitsinteressen durch die Osterweiterung der Nato, durch die Aufstellung von Raketenbasen in Polen und Rumänien oder durch die fortgesetzte Aufkündigung von Abrüstungsverträgen von Seiten der USA scheint für diese Drei nur ein Witz. Ebenso wie Wagenknechts Plädoyer für ein westliches Entgegenkommen, für eine neue und gleichberechtigte europäische Friedensordnung. Das Gelächter ist nicht nur unhöflich und überheblich, es macht mir Angst. Es klingt nach Krieg. Der Frieden scheint schon aufgegeben. Man will nicht mehr darüber nachdenken, was Putin anzubieten wäre, damit er seine Kriegspläne fallen lässt, man will nur noch darüber reden, dass Putins Handeln zu verurteilen ist.
Inzwischen herrscht Krieg. Und meine Angst wächst. Nicht vor Atombomben auf deutsche Kleingartenanlagen oder davor, dass Putin ins Kanzleramt einzieht – eine in sozialen Netzwerken zu lesende Befürchtung. Ich habe Angst vor der Verrohung unserer Gesellschaft, die schon in den Tagen vor Kriegsbeginn deutlich zu erkennen war. Positionen wie die von Wagenknecht wurden lächerlich gemacht; Fragen nach der Vorgeschichte, nach den politisch-psychologischen Ursachen des eskalierenden Konfliktes oder nach den möglichen Interessen der USA an einem Krieg waren schon da nicht mehr erlaubt, waren nicht mehr denkbar. Mit harschen Tönen steckte zum Beispiel CDU-Chef Merz den aus seiner Sicht zulässigen Meinungskorridor ab: Wer auch der Nato eine Teilschuld an der Eskalation gebe, mache sich »zum Werkzeug von Putins Propaganda« und zum »nützliche Idioten«. Diejenigen, die nach einer Alternative zum Krieg durch eine neue und gemeinsame Sicherheitsarchitektur Europas suchen wollten, nach einem Punkt, an dem für beide Seiten wieder eine Verständigung möglich sein könnte, mussten sich als »fünfte Kolonne Moskaus« beschimpfen lassen. In den gedruckten oder online gestellten Schlagzeilen wurde Putin als »wahnsinnig« oder »krank« bezeichnet, in einer (anderen) Talkrunde wurde darüber spekuliert, ob er mit Steroiden, also mit Hormonen, behandelt werde. Verbale Aufrüstung gegen das »Monster« Putin. Denn mit einem Wahnsinnigen kann man schließlich nicht mehr verhandeln. Dämonisierung statt Diplomatie. Das macht mir Angst.
Nur zwei Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar wurde von der Ampel-Regierung mit der Ankündigung von Waffenlieferungen in die Ukraine das bisherige (offizielle) deutsche Nein zu Waffenlieferungen in Krisengebiete vom Tisch gefegt. Und einen Tag später wurde Kanzler Scholz im Bundestag mit stehenden Ovationen für seine massiven Aufrüstungspläne gefeiert: 100 Milliarden Euro für unsere Armee. Das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr 1955. Von nun an, so Scholz, werde Deutschland »Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren«. »Super, Scholz!« titelte die BILD-Zeitung, »den Schuss gehört« lobte die FAZ, »plötzlich hat er von Dialog auf Konfrontation, von Träumerei auf Aufrüstung, von SPD-Politiker auf Staatsmann umgeschaltet« kommentierte der FOCUS. Und auch die USA feiern Scholz für seine Kehrtwende, für das Ende der hundertjährigen antimilitaristischen Tradition der SPD. Die New York Times spricht von »einem Tag, der in die Geschichte eingehen wird«, das Wallstreet Journal gar von einer »göttlichen Erleuchtung«. Aufrüstung statt Abrüstung. Das macht mir Angst.
Auch die EU hat den »Schuss gehört«. Ende Februar und Mitte März bewilligte sie jeweils 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte. In der ersten Märzhälfte haben Frankreich und Belgien hunderte Soldaten nach Rumänien, an die »Ostflanke« der Nato entsandt. US-Soldaten werden ebenfalls eingeflogen. In den Nato-Truppenstützpunkt Câmpia Turzii, in der Nähe der Stadt Cluj, werden gerade 500 Millionen Euro investiert, aus den USA kommen 150 Millionen Dollar. Bukarest schickt nicht nur militärische Ausrüstung ins Nachbarland. Militärflugzeugen und Hubschraubern aus der Ukraine wurde erlaubt, auf rumänischen Stützpunkten zu landen, also die Nato-Infrastruktur zu nutzen.
Mehr als ein Dutzend Staaten liefern der Ukraine bereits Kriegsgerät. Und schon lange vor dem Angriff durch Russland haben die USA ihre Waffenlieferungen in die Ukraine stark ausgeweitet, abgesehen von den drei Milliarden Dollar Militärhilfe, die die USA der Ukraine nach dem Einmarsch der Russen auf der Halbinsel Krim im Jahr 2014 zur Verfügung stellten. Und auch Weißrussland, das Baltikum oder Polen sollen aufgerüstet werden. Es läuft bestens für die Rüstungsindustrie. Das macht mir Angst.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat seinen Anzug mal gegen einen schlammfarbenen Pullover, mal gegen ein olivgrünes T-Shirt ausgetauscht. Er verschickt Selfies vor bekannten Plätzen in der Hauptstadt Kiew und tägliche Videobotschaften über die aktuelle Lage. Die von Donald Trump erfundene Staatsführung über die sozialen Medien hat Selenskyj auf ein neues Level gehoben. Der ehemalige Schauspieler, Komiker und Gewinner der ukrainischen Version von Let’s Dance versteht es, sich zu inszenieren. In den sozialen Netzwerken zeigt er sich nahbar, mutig und kämpferisch, ein Held aus der Mitte der Bevölkerung. Auf Twitter folgen dem »Captain Ukraine«, wie Selenskyj in Anlehnung an den Marvel-Helden Captain America gefeiert wird, über fünf Millionen Menschen. Auf Instagram sind es über 15 Millionen. Seine Statements postet Selenskyj immer zweimal – auf Englisch und Ukrainisch. Zum Beispiel die Antwort auf die Aufforderung der Amerikaner, aus Sicherheitsgründen das Land zu verlassen: »Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.« Der ukrainische Präsident beherrscht die weltweite mediale Selbstinszenierung wie wohl niemand zuvor. Weswegen er in kurzer Zeit zum globalen Helden aufgestiegen ist. Zum Internet-Star. Zum Kriegs-Influencer. Das wirkt anziehend auf weitere Möchtegern-Helden. Für diejenigen Ausländer, die in der Ukraine für »die Freiheit« kämpfen wollen oder einfach nur das große Abenteuer Krieg suchen, hat Selenskyj eine Internationale Brigade ins Leben gerufen. Und sie kommen von überall: Abenteurer, selbst ernannte Idealisten, blutige Anfänger wie erfahrene Soldaten. Und Söldner, die von einem Krieg in den anderen ziehen und vor allem finanzielle Interessen verfolgen. Außerdem ideologisch motivierte Kämpfer, die sich den rechtsextremen paramilitärischen Gruppierungen in der Ukraine anschließen.
Im Netz kursieren Bilder, die zeigen, wie Zivilisten gegen russische Soldaten kämpfen: Männer in Trainingsanzügen laufen mit Kalaschnikows in den Händen durch die Straßen. Jugendliche errichten Straßenbarrikaden aus Autoreifen und verstreuen Krähenfüße. Vor allem junge Menschen, so legen Befragungen nah, finden dieses Reality-TV äußerst spannend. Weltweit werden die Menschen in der Ukraine für ihren Mut und für ihre Widerstandsfähigkeit gefeiert. Daumen hoch! Aber Zivilisten in den Krieg zu schicken, birgt nicht nur das Risiko, dass schlecht ausgebildete und einfach ausgerüstete Freiwillige sterben, verwundet oder traumatisiert werden, es verletzt auch das Kriegsvölkerrecht.
Krieg verlangt nach Helden. Doch weder die Freiwilligen noch die Zivilisten, weder die ukrainischen noch die russischen Soldaten werden zurückkehren, wie sie in den Krieg gegangen sind. Sie werden Ängste durchlitten und Brutalität ausgeübt haben. Was sie erlebt haben, wird Einfluss auf die Beziehung zu ihren Kindern oder Partner haben, wird auch den Nachkriegsalltag in der Ukraine, in Russland und in Osteuropa brutalisieren. Um von diesem Wissen abzulenken, findet eine Ästhetisierung des Krieges statt – zum Beispiel mit den Selfies von Selenskyj oder denen des ehemaligen Boxers Wladimir Klitschko, der – heldenhaft eben – am Maschinengewehr sitzt, um sein Land zu verteidigen. Doch wer getötet oder auch nur die Mordwaffen geliefert hat, dessen Seele wird nicht mehr gesund. Das macht mir Angst.
Wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine hat die Bayerische Staatsoper das Engagement von Anna Netrebko annulliert. Zwar hatte die russische Opernsängerin zuvor auf Instagram ihre Hoffnung auf ein Ende des Krieges veröffentlicht, doch das reichte der Opern-Leitung nicht. Netrebko habe sich nicht klar genug gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin positioniert. Ebenfalls vor die Tür gesetzt wurde Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchener Philharmoniker, weil er sich nicht »eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg« distanziert habe, so der Münchener Oberbürgermeister Reiter. Mit Schaum vor dem Mund schreibt Jürgen Kesting in der FAZ: »Der Krieg in der Ukraine lässt uns neu nach der Humanität in der Kunst fragen. Gergiev, Netrebko und Currentzis haben die Welt erobert. Wir haben ihnen Beihilfe geleistet – und deren Hintermännern, ohne deren Absichten zu kennen.«
Das hört sich sehr nach einer angeblichen russischen Weltverschwörung an. Der nun mit einem geradezu rauschhaften Wahn der Krieg erklärt wird: Russische Künstler, die schon wenige Stunden oder Tage nach Kriegsbeginn zu einer Distanzierung von ihrem Land gezwungen werden sollen. Oder deren Auftritte und Ausstellungen gleich abgesagt werden. Vertragskündigungen durch Museen. Überall in Europa. Die Entscheidung der Bologna Book Fair und der Frankfurter Buchmesse, Russland von der Teilnahme auszuschließen. Die Entscheidung des Disney-Konzerns, in Russland keine Filme mehr zu zeigen. Die Ankündigung aus Cannes, die russische Delegation bei den Festspielen nicht zu empfangen. Die Paralympischen Spiele in China ohne Athleten aus Russland und Belarus, nicht einmal unter einer neutralen Flagge.
Auch im Alltag häufen sich die Anfeindungen und Angriffe gegen Menschen russischer Herkunft oder gleich gegen alles Russische. Scheiben von russischen Lebensmittelmärkten werden eingeschlagen oder beschmiert. Russische Restaurants erhalten Drohanrufe: »Verschwindet oder wir kommen mit der Pumpgun!« Am Universitätsklinikum der LMU München kündigte eine Ärztin in einem internen Schreiben an, dass sie die ambulante Behandlung von russischen Patienten ablehne. In einer Arztpraxis in Köln wurde eine junge russische Frau als »Putins Hure« beschimpft. Russische Schüler werden gemobbt. Die Brutalisierung der Gesellschaft schreitet schnell voran. Wir führen Krieg gegen die Menschen weit abseits der Gefechte. Das macht mir Angst.
Die Brutalisierung der Gesellschaft: Die Kriegsrhetorik richtet sich längst auch gegen unsere »inneren Feinde«. Im FOCUS vertritt Josef Seitz die Ansicht, die Zeit für das Tolerieren von Minderheitenmeinungen sei vorbei. Tenor: Wir sind im Krieg und haben keine Zeit mehr für diese Zumutungen: »Corona-Leugner werden häufig lauter gehört als die Mehrheit, die sich und andere durch Impfungen schützt. Im Fernsehen findet die klassische Familie kaum mehr statt, sie ist ersetzt durch Mann-Mann- oder Frau-Frau-Familien.« Am Tag des russischen Angriffs vertritt der Welt-Chefredakteur Ulf ähnliche Positionen: »Vor allem Europa und die Deutschen sind dekadent geworden. (…) Jetzt ist klar, dass man sich wehren muss und wehrhafter sein muss. Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt, eher am Hindukusch und ganz konkret bei unseren Freunden in der Ukraine.« Denn das Feiern eines »luschigen, passiv-aggressiven Wohlstandszersetzungsaktivismus« sowie das »verlogene und verlorene Menschenbild, wie es auf evangelischen Kirchentagen und in der zeitgenössischen Kultur so verbreitet wird«, sei für jemanden wie Putin »einfach nur ein Frühstück«.
Krieg gefährdet, Krieg zerstört die Offenheit in einer Gesellschaft. Auch wenn wir nicht auf dem echten Schlachtfeld stehen, sind wir rund um die Uhr medial beteiligt. Wir wähnen uns als Opfer, heulen voller Selbstmitleid in die Kameras (»Ich habe Angst!«) oder fühlen uns selbst an der Front, weswegen wir politische Sturmgewehre und Brandbeschleuniger für eine gerechtfertigte Bewaffnung halten. Auch im privaten Umfeld. »Schwäche« darf es nicht mehr geben, leise Zwischentöne werden niedergebrüllt, die diplomatisch-psychologische Suche nach Verständigung mit einem autoritären Machthaber gilt mindestens als naiv oder gar als wehrkraftzersetzend. Das Wort Pazifist ist über Nacht zu einem Schimpfwort geworden. Selbst Teile der Friedensbewegung haben sofort nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine bereitwillig »Mea Culpa« gerufen. Auf zu den Waffen also!
Im Krieg wird zurückgeschossen, Angriff und Verteidigung. Mit differenzierten Fragen oder Antworten können wir uns auf dem medialen oder privaten Schlachtfeld wirklich nicht (mehr) beschäftigen. Das macht mir Angst.
Haben wir verlernt, mit Gegnern umzugehen? Mit Andersdenkenden im Gespräch zu bleiben? Nachdenklich zu argumentieren? Die politischen Cancel-Debatten unserer Zeit scheinen diese Befürchtung zu bestätigen. Sprech- und Wortverbote überall. Jeder stellt jeden in eine Ecke: Rassist, Sexist, alter weißer Mann … Mit Rechten redet man nicht. Du Russe. Du Pazifist. Du Querdenker. Doch wie hält man Frieden mit einem Gegenüber, das anderer Meinung ist? Wie spricht man miteinander?
Wir haben uns seit Jahren darauf geeinigt, dass Putin ein autoritärer Machthaber ist, ein Kriegsverbrecher, ein Menschenrechtsverletzer. Dabei haben wir vergessen, darüber nachzudenken, wie man mit einem solchen Machthaber Frieden hält. Denn Frieden in Europa ist ohne Russland nicht zu haben. Auch nicht nach dem Krieg, wann immer und mit welchen dauerhaften Verwüstungen das sein wird. Es kann also nicht lächerlich sein, über Putins Interessen zu reden. Mit blinder Wut zu den Verteidigungs-Waffen zu greifen, ist fraglos einfacher als das geduldige, um Verständnis bemühte Sprechen. Doch wirklich gefährlich wäre es, Putin weiter in die Enge zu treiben. Das macht mir Angst.