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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Homeschooling

Unser Bil­dungs­sy­stem gilt als selek­tiv und för­dert sozia­le Dis­pa­ri­tä­ten. Die PISA- und IGLU-Stu­di­en haben seit den 2000er Jah­re die Dis­kus­sio­nen über Chan­cen­un­gleich­hei­ten im Bil­dungs­sy­stem maß­geb­lich beför­dert. Die Wahr­schein­lich­keit, dass Kin­der aus Aka­de­mi­ker­fa­mi­li­en einen hohen Bil­dungs­ab­schluss erwer­ben, ist dem­nach sehr viel höher als bei Kin­dern aus Nicht­aka­de­mi­ker­haus­hal­ten. Damit trägt das Schul­sy­stem dazu bei, dass sich sozia­le Ungleich­hei­ten über Gene­ra­tio­nen hin­weg reproduzieren.

Die Coro­na-Pan­de­mie ver­schärft die­se Aus­prä­gun­gen von sozia­len Dis­pa­ri­tä­ten und deren Repro­duk­ti­on. In Zei­ten von Home­schoo­ling sind Schul­kin­der sehr viel stär­ker noch von der sozia­len, kul­tu­rel­len und öko­no­mi­schen Her­kunft ihrer Eltern abhän­gig. So müs­sen Kin­der im Rah­men des »vir­tu­el­len Ler­nens« einen funk­ti­ons­tüch­ti­gen Inter­net­zu­gang haben, sie benö­ti­gen einen Arbeits­platz zu Hau­se und, vor allem die jün­ge­ren Kin­der, die Unter­stüt­zung ihrer Eltern.

Der klei­ne Luca, der in die zwei­te Klas­se einer Grund­schu­le geht, erlebt mitt­ler­wei­le bereits zum zwei­ten Mal einen Lock­down inklu­si­ve Video-Kon­fe­ren­zen und Tele­fo­na­ten mit Lehr­kräf­ten und dem Home­schoo­ling-Lern-Pro­gramm. Die Eltern von Luca befin­den sich im Home­of­fice; arbei­ten in nicht system­re­le­van­ten Beru­fen. Luca hat einen klei­nen Bru­der, der unter nor­ma­len Umstän­den im Kin­der­gar­ten betreut wird. Auch er muss wie Luca auf­grund der Pan­de­mie zu Hau­se blei­ben. Luca hat noch Glück: Sei­ne Eltern spre­chen die gefor­der­te (Bildungs-)Sprache und sind in der Lage, Luca zu unter­stüt­zen und zu beglei­ten. Sie drucken flei­ßig Arbeits­auf­trä­ge aus, die ihnen die Lehr­kräf­te per E-Mail zusen­den, lesen die Auf­ga­ben vor und bespre­chen sie mit Luca – jeden Tag, an fünf Tagen die Woche.

Lucas Vater arbei­tet Voll­zeit und sei­ne Mut­ter halb­tags. Gemein­sam müs­sen sie auf eine regel­mä­ßi­ge Wochen­ar­beits­zeit von 60 Stun­den kom­men, um ihrem Arbeits­kon­trakt zu erfül­len. Das bedeu­tet, dass immer einer der bei­den arbei­tet, wäh­rend der ande­re sich um die Kin­der küm­mert. Ein par­al­le­les Arbei­ten ist mit den klei­nen Kin­dern nicht mög­lich. Gemein­sam kom­men sie so auf eine täg­li­che Arbeits­zeit von zwölf Stun­den im Lock­down. Beson­ders schwie­rig wird es, wenn Luca Unter­stüt­zung bei den Schul­auf­ga­ben benö­tigt – was für einen Zweit­kläss­ler natür­lich der Fall ist, wäh­rend sein klei­ner Bru­der eben­falls Auf­merk­sam­keit ein­for­dert. Häu­fig geht es dann laut zu, wenn sich Luca oder das arbei­ten­de Eltern­teil auf die Arbeit kon­zen­trie­ren müs­sen. Da sind Fru­stra­ti­on und Rei­be­rei­en vor­pro­gram­miert. Spiel­zei­ten, Aus­flü­ge und ande­re Akti­vi­tä­ten kom­men in die­sen Zei­ten zu kurz.

Der Lern­stoff wird auf­grund des Aus­falls des Prä­senz­un­ter­richts jedoch nicht aus­ge­dünnt, wodurch sich der Selek­ti­ons­druck und die Par­ti­zi­pa­ti­ons­asym­me­trien wei­ter stei­gern. Kin­der, ins­be­son­de­re sol­che, die weni­ger Unter­stüt­zung als Luca erhal­ten, wer­den die Lern­in­hal­te, die sie auf­grund der Unter­richts­aus­fäl­le ver­säu­men, kaum mehr auf­ho­len. Lucas Eltern den­ken häu­fig dar­über nach, wie es wohl in ande­ren Fami­li­en aus­sieht, die viel­leicht kei­ne Mög­lich­keit haben, die Schul­auf­ga­ben aus­zu­drucken, die des Deut­schen nicht so mäch­tig sind und also bei den Auf­ga­ben nicht recht hel­fen, sie nicht vor­le­sen und erklä­ren kön­nen; ganz zu schwei­gen von den Fami­li­en, deren Inter­net zu lang­sam für die schu­li­schen Video­kon­fe­ren­zen ist oder die kei­nen Com­pu­ter haben.

Chan­cen­un­gleich­hei­ten und sozia­le Ungleich­hei­ten haben durch die Coro­na-Pan­de­mie stark zuge­nom­men, und sie wer­den schwer­lich wie­der rück­gän­gig zu machen sein. Dies kann nur gelin­gen durch klei­ne hete­ro­ge­ne Lern­grup­pen, eine geziel­te, früh ein­set­zen­de indi­vi­du­el­le För­de­rung, durch stär­ke­re Bin­nen­dif­fe­ren­zie­rung im Unter­richt und mehr Schul­per­so­nal; dies alles lässt sich aus den Ergeb­nis­sen der PISA-Stu­di­en ablei­ten. Außer­dem muss das Kern­cur­ri­cu­lum den aktu­el­len Bedin­gun­gen ange­passt werden.

Nicht zuletzt ist es jetzt an der Zeit, dass sich die Grund­ein­stel­lung vie­ler Päd­ago­gen ändert. Wenn selbst Lehrer/​innen – und so ist es lei­der, wie vie­le Erfah­run­gen und Unter­su­chun­gen zei­gen – auf­grund des sozia­len und fami­liä­ren Hin­ter­grunds eines Schü­lers nicht an des­sen Bil­dungs­er­folg glau­ben, wird es der Schü­ler selbst erst recht nicht tun. So offen­bar­te die IGLU-Stu­die von 2006 ein­drucks­voll, dass es für Kin­der aus Aka­de­mi­ker­fa­mi­li­en bei glei­chem Kom­pe­tenz­ni­veau 2,63-fach wahr­schein­li­cher ist, eine Gym­na­si­al­emp­feh­lung zu erhal­ten als für Kin­der aus Nicht­aka­de­mi­ker­fa­mi­li­en. Hier muss auch die Aus-, Fort- und Wei­ter­bil­dung des päd­ago­gi­schen Per­so­nals in den Blick genom­men und für die »schul­ge­mach­ten« Dis­pa­ri­tä­ten stär­ker sen­si­bi­li­siert werden.