Die Inflationsraten ziehen an, in Deutschland, in anderen europäischen Ländern, in den USA und anderswo. Die USA meldeten einen Preisanstieg im Februar von 7,9 Prozent, die Euro-Zone von 5,9 Prozent. Da stand der kräftige Preissprung bei Benzin, Strom und anderen Rohstoffen noch bevor. Ökonomen, Wirtschaftsjournalisten und Politiker unisono: Nur hohe Zinsen der Notenbank könnten die Inflation brechen. Jerome Powell, der Chef der US-Notenbank (Fed) leitete am 17. März 2022 euphorisch die »Zinswende« ein. Die von ihm geführte Zentralbank setzte den Leitzins forsch um 0,25 Prozentpunkte auf 0,5 Prozent hoch. Die Federal Funds Rate-Zinsspanne soll nun zwischen 0,25 bis 0,5 Prozent betragen – bemerkenswert deshalb, weil es die erste Erhöhung seit 2018 ist. Geplant sind weitere sechs Zinsanhebungen um jeweils einen viertel Punkt in diesem Jahr. Auch im nächsten Jahr soll der Leitzins schrittweise weiter angehoben werden, bis Ende 2023 auf etwa 2,8 Prozent. Dadurch werde es möglich, die Inflation unter drei Prozent zu drücken.
Helfen hohe Zinsen gegen die Inflation so wie Omas Wadenwickel gegen das Fieber? Die Auffassung scheint durch die ständige Wiederholung in den Rang einer Binsenwahrheit aufgestiegen zu sein. Niemand zweifelt an ihr. Selbst linke und Marx-affine Autoren vertreten sie, die sonst dem Mainstream allein deshalb widersprechen, weil sie nicht zu ihm gehören und glauben, Einspruch ihrem Oppositions- und Minderheitenstatus schuldig zu sein. Die Auffassung, dass Zinssteigerungen die Inflation dämpfen würden, scheint zum gesunden Menschenverstand zu gehören. Offenbar ist sie so überzeugend, dass kaum jemand danach fragt, worauf die angebliche Wunderwirkung der Zinsen beruhen soll. Aber ist das richtig: Hohe Zinsen = niedrige Preise und niedrige Zinsen = hohe Preise? Weshalb sollten steigende Zinsen den anhaltenden Preisanstieg bremsen? Welche Logik liegt der Argumentation zugrunde? Die Auffassung hält sich hartnäckig, weil sie wie viele Vereinfachungen und Fehldeutungen das berühmte Körnchen Wahrheit enthält. Jeder versteht auf Anhieb, dass hohe und steigende Zinsen die Nachfrage nach Krediten und das Kreditvolumen unter sonst gleichen Umständen senken könnten. Fremdes Geld wird teurer und je teurer es ist, umso geringer ist das Interesse, es sich zu leihen. Logisch auch, dass sich daher die umlaufende Geldmenge verringern und, wo weniger Geld zirkuliert, die Preise nachgeben könnten.
Und dennoch ist die These zweifelhaft. Die Botschaft, Banken könnten durch hohe Zinsen Preisstabilität wahren oder zurückgewinnen, und sinkende Zinsen riefen umgekehrt ein hohes Preisniveau hervor, bewahrten die Menschheit vor der angeblich noch böseren Deflation, verkennt entscheidende Determinanten der Preisbildung. Die herrschende Lehre aber hat sich darauf versteift: Steigende Zinsen bewirkten, dass die Kreditnachfrage zurückgehe, die Geldmenge sich verringere und weniger umlaufendes Geld die Preise sinken ließe. Folglich gehörten hohe Zinsen und niedrige Preise zusammen. Das kann manchmal sein und ist für eine »freie Konkurrenz« zwischen ökonomisch etwa gleichstarken Unternehmen immerhin vorstellbar. Der freie Wettbewerb zwischen vielen Unternehmen ist das Grundmodell des neoklassischen Mainstreams. Es besitzt nur den Nachteil, mit der Realität nicht viel gemein zu haben. Die Realität ist komplexer als alle Modelle über sie. Hindern Zinssteigerungen Monopole daran, ihre Preissetzungsmacht auszuüben? Die Konzerne ziehen es vor, einen Teil ihrer Kapazitäten nicht auszulasten, statt wie einst nichtmonopolistische Unternehmen die Produkte, vor allem die überschüssigen, preisgünstig zu verkaufen. Die Kosten der nicht ausgelasteten Kapazitäten werden den Kosten der Produkte zugeschlagen, die ohne diese Kapazitäten hergestellt werden. Auch deshalb steigen die Preise. Monopole untergraben dauerhaft den Angebot-Nachfrage-Preismechanismus. Sie begrenzen ihr Angebot, um die Preise hochzuhalten. Hohe Preise wiederum senken die Reallöhne und beeinträchtigen die Nachfrage nach Konsumgütern. Dadurch geht die Nachfrage nach Produktionsmitteln in Zweigen zurück, die Konsumgüter herstellen. Stagnierende oder sinkende Produktion, abflauende Investitionen, die Nichtauslastung der Produktionskapazitäten und eine hohe Arbeitslosigkeit sind die Folge.
Wie ist es möglich, dass ein Liter Diesel im Durchschnitt des Jahres 2020 für 1,10 Euro je Liter zu haben war und man zwei Jahre mehr später das Doppelte bezahlen muss? Hatte sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit der Spritproduktion verdoppelt? 1990 kostet der Liter Diesel 50 Cent, 32 Jahre später fünfmal so viel. Waren die Aufwendungen oder die Nachfrage so rasant gestiegen? Nein, die enorm gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise während des Ukrainekrieges 2022 und vorher haben weder zu tun mit steigenden Aufwendungen ihrer Herstellung, die es nicht gegeben hat, noch resultieren sie, wie immer wieder behauptet wird, aus einer plötzlich gestiegenen Nachfrage, zumindest nicht aus einer reell-stofflichen.
Die Preise sind Ergebnis der Spekulation. Rohstoffe werden an den Börsen gehandelt. Die Rohstoffmärkte sind seit jeher eine der größten Spielwiesen für Finanzwetten. Der Terminhandel besitzt für saisonabhängige Produkte eine lange Tradition. Der Bauer kann die noch auf dem Halm stehende Ernte verkaufen, wenn er befürchtet, dass die Preise sinken werden. So kann es dazu kommen, dass Kontrakte über Rohstoffe an der Börse bis zu ihrer Fälligkeit mit stetiger Verteuerung bis zu 500 000-mal verkauft werden. Wer erwartet, dass die Preise in Zukunft höher sein werden, kauft heute, um später mit Gewinn verkaufen zu können. Die spekulative Nachfrage steigt und treibt die Preise dorthin, wo die Spekulanten sie erwarten, nach oben. Die Weltmarktpreise für Getreide, andere Rohstoffe und Grundnahrungsmittel steigen mit fatalen Folgen für die Versorgung und die Erzeugung. Für zweistellige Renditeziele der Spekulanten hungern weltweit über eine Milliarde Menschen und zahlen Milliarden Menschen horrende Preise, die weder mit der effektiven Nachfrage noch mit Produktionskosten zu tun haben. Überhöhte Benzin-, Rohstoff- und Energiepreise füllen die Kassen der Konzerne. Monopole nutzen die Kriegssituation, um Extra-Profite einzusammeln. Ob sie die Chance auf höhere Profite ausließen, wenn die Zentralbankzinsen höher oder niedriger wären, darf ernsthaft bezweifelt werden.
Was besagen empirische Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Inflation und Zinsen? Sie belegen schon seit Thomas Tooke (1774-1858), dem englischen Ökonomen, dass die langfristigen Kapitalmarktzinsen und das Preisniveau positiv miteinander verbunden sind. Der englische Nationalökonom A. H. Gibson hatte dies im Jahr 1923 für England in der Zeit von 1820 bis 1920 nachgewiesen und der Volkswirtschaftler Wolfgang Filc später für die Bundesrepublik Deutschland bestätigt. John M. Keynes, der britische Wirtschaftswissenschaftler, der einer ganzen Denkrichtung den Namen gab, hielt die Gleichläufigkeit von Zins und Preisniveau dagegen für paradox. Er nannte sie »Gibson-Paradox«. Dabei ist der Zusammenhang keineswegs unlogisch. Richtig sind zunächst zwei Aspekte – das Körnchen Wahres im Falschen – worauf sich die Mehrheit der Ökonomen versteift. Erstens: Zinsen beeinflussen unter sonst gleichen Umständen die Geld- und Kreditnachfrage negativ, d.h. hohe Zinsen können die Nachfrage nach Krediten und Geld senken, niedrige Zinsen können sie erhöhen. Zweitens: Geldmengen und Preise korrelieren positiv. Hohe oder steigende Preise erzwingen, dass unter sonst gleichen Umständen die Geldmenge größer wird, niedrige Preise bewirken, dass die Geldmenge sinkt. Aber muss man Wirtschaftswissenschaften studieren, um einzusehen, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist? Zinsen sind für die Unternehmer Kosten und werden auf Preise übergewälzt. Ist es so schwer zu erkennen, was jeder ökonomische Laie begreift, aber selbst dem Starökonomen des 20. Jahrhunderts offenbar entging? Auf Märkten, auf denen Monopole und Oligopole dank ihrer Marktmacht den Preiswettbewerb ad absurdum geführt haben, sind Überwälzungen der Zinsen und anderer Kosten auf die Preise üblich, und sie gelingen mühelos. Preise und Preissteigerungen fallen mittel- und langfristig umso höher aus, je höher die Zinsen sind. Hohe Zinsen bedeuten hohe Preise, und hohe Preise erfordern einen Anstieg der Geldmenge. Geldtheoretiker und Geldpolitiker, auch der Chef der US-Notenbank, tun unverdrossen so, als gäbe es diesen Zusammenhang nicht.
Auch aus einem weiteren Grund ist ihre Meinung fraglich. So kann man beobachten, dass die Zahlungs- und Tilgungstermine umso kürzer werden, je stärker die Zinsen steigen. Man vereinbart kürzere Zahlungs- und Tilgungstermine, um der erwarteten Geldentwertung zuvorzukommen und später zu höheren Zinsen auszuleihen. Das bedeutet, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes steigt. Eine Geldeinheit wird im Durchschnitt mehrmals zu Zahlungszwecken verwendet. Und das heißt: Selbst für höhere Preise wird weniger Geld benötigt. Selbst wenn durch die Zinspolitik eine Verringerung der Geldmenge erreicht werden könnte, wofür wenig spricht, ist daher zu befürchten, dass der immerhin denkbare preisberuhigende Effekt nicht eintritt, weil die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes zunimmt.
Das ist noch nicht alles. Die Zins-Preis-Kausalität ist ergänzungsbedürftig. Der Zins beeinflusst nicht nur die Nachfrage nach Geld oder nach Krediten, er reagiert auch auf Änderungen dieser Nachfrage. Er ist nicht nur Ursache, er ist auch Wirkung. Zins und Geldmenge wechselwirken. Monokausales Einbahnstraßendenken nimmt dies nicht wahr. Im wirtschaftlichen Aufschwung führt die steigende Nachfrage auf den Gütermärkten dazu, dass die Preise erhöht werden, wenn das Angebot nicht mithalten kann. Der Geld- und Fremdkapitalbedarf erhöht sich. Ein Zinsanstieg folgt. In rezessiven und depressiven Wirtschaftsphasen ist es umgekehrt: Die zurückgehende Nachfrage auf den Gütermärkten bewirkt bei gegebenem Angebot, dass die Preise fallen oder das Tempo der Preissteigerungen zurückgeht. Der Fremdkapitalbedarf nimmt ab, die Zinsen sinken. Auch umgekehrt, d. h. wenn der Preis die Ursache und der Zins die Wirkung ist, ist der Zusammenhang zwischen beiden Größen positiv.
Wohin man auch hört, überall ertönen Hymnen auf den Fed-Chef – der die Sparer enteignenden Null- und Negativzinsen sind die Menschen überdrüssig. Allenfalls wird bemängelt, dass die Leitzinserhöhungen zu vorsichtig und zu gering ausfielen. Die zyklisch bedingten Zinsschwankungen auf den Märkten aber als das gewollte Produkt von Entscheidungen der Zentralbank zu deuten und als Anlass zu sehen, die Weisheit ihrer Direktoren zu rühmen, ist erheiternd, weiß man, dass sich ohne Zutun der Zentralbank vollzieht, was als deren Erfolg gepriesen wird. Was geschieht, vor allem ob und wie die Änderungen im Geldsektor auf den güterwirtschaftlichen Bereich ausstrahlen, hängt von vielen Faktoren ab. Ausschlaggebend aber ist der im güterwirtschaftlichen Sektor der Volkswirtschaft sich unabhängig von jeglichem Tun der Zentralbank bildende Kreditbedarf. Er ist entscheidend für die Kreditvergabe und letztlich auch für das Zinsniveau, das die Zentralbank sanktioniert, indem sie ihre Zinsen anpasst.