Nur der eine war prominent. Sein Tod mit 32 Jahren jährt sich jetzt zum 50. Male, und wie es aussieht, wird er ein Rätsel bleiben. Peter Sindermann, gelernter Schauspieler, war bis zuletzt am Landestheater in Halle engagiert, wo er auch wohnte. Der dunkelhaarige Florettfechter, Reiter und Flieger könnte manchen Westdeutschen, von Porträtfotos her, an den dortigen Berufskollegen Horst Buchholz erinnern. In der Tat wird Sindermann oft als »Frauenschwarm« bezeichnet. Er trat auch in zahlreichen Filmen auf, angefangen 1959 mit »Bevor der Blitz einschlägt«. Im Übrigen war er von Jugend an Aktivist der »Gesellschaft für Sport und Technik« (GST), in Nachschlagewerken meist als »paramilitärische Massenorganisation« ausgegeben. Die Nachrufe rühmen ihn als heiter und lebensbejahend, charmant und akrobatisch, witzig und hilfsbereit.
Seine Stunde der Wahrheit kam am 17. Oktober 1971, als er in Halle-Oppin in Begleitung eines erst 18jährigen GST-Genossen, Günter Heley, ein Kleinflugzeug des Typs Zlin (aus der Tschechoslowakei) bestieg. Wahrscheinlich war Heley sein Flugschüler, denn dafür besaß Sindermann neuerdings die erforderliche Lizenz. Die Traueranzeige der GST für die beiden »pflichtbewussten Genossen« wird wenig später etwas vieldeutiger versichern, sie seien »bei der Erfüllung eines Flugauftrages« umgekommen. Sie hätten sich immer mutig und leidenschaftlich für den Schutz ihrer sozialistischen Heimat eingesetzt.
Kurz nach dem Start, noch an der Stadtgrenze der Großstadt Halle, wird der Unterricht durchkreuzt. Am Steuer sitzt Sindermann, wie ich einem Gedenkartikel von Steffen Könau in der MZ vom 14. Oktober 2006 entnehme. Plötzlich sehen AnglerInnen – die es womöglich genauso hätte treffen können wie etwa die BenutzerInnen der nahen Autobahn – das Sportflugzeug mit den beiden GST-Kämpfern an Bord ins Taumeln kommen. Gleich darauf vernehmen sie einen dumpfen Schlag. Sie vergessen ihre Beute und rennen hin. Die Maschine ist aus rund 300 Meter Höhe auf eine Wiese gestürzt. Flugzeug zerschellt; Insassen spätestens auf dem Weg ins Krankenhaus tot.
Natürlich spricht sich die »unglaubliche Nachricht«, so der Nachruf in der Liberal-Demokratischen Zeitung vom 21. Oktober, in Windeseile herum – zumal der Pilot ein Sohn des langjährigen allgewaltigen SED-Chefs des Bezirks Halle, Horst Sindermann, war. Der Vater war gerade erst noch höher aufgestiegen, nämlich nach Ostberlin, in den Vorstand des DDR-Ministerrates. Rudel von Ermittlern der Polizei und der Stasi rücken auf der Unfallwiese an. Aber sie sind ratlos oder geben sich jedenfalls so. Sie finden nicht einen Anhaltspunkt für Feindeinwirkung, etwa Sabotage oder Spionage. Selbst die bekannten schnöderen Unfallursachen schließen sie Stück für Stück aus. Sindermann galt als erfahrener Flieger. Das Wetter war gut. Beide Piloten standen nicht unter dem Einfluss von Drogen, Krankheiten, Lebensmüdigkeit. Das Flugzeug selbst wies ebenfalls keine technischen Mängel auf, wird jedenfalls behauptet. So werden die Ermittlungen nach zwei Monaten eingestellt. Der Abschlussbericht spricht, nach Könau, verwaschen davon, die Maschine sei über dem Kanalgebiet »in eine unklare Fluglage geraten«. Beim Kurvenflug mit verringerter Geschwindigkeit hätten die Piloten jähes Trudeln nicht mehr verhindern können. Das sind Berichte, gut für zahlreiche Gerüchte.
Seltsamerweise, wie ich finde, übergehen fast alle mir zugänglichen Quellen Sindermanns persönliche Verhältnisse. Nur Wikipedia erwähnt eine Ehefrau und einen Sohn des sportlichen Schauspielers, Micaëla und Andreas. Der Eintrag erweckt den Eindruck, diese Ehe habe beim Unfall nach wie vor bestanden. Das ist allerdings nicht der Fall, wie mir freundlicherweise ein Verwandter des Fliegers mitteilte. Danach war Sindermann in zweiter Ehe mit der Berufskollegin Jutta Peters verheiratet. In der familiären Traueranzeige wird sie als Jutta Sindermann-Peters angeführt. Mein Gewährsmann versichert auch, die Ehe sei glücklich gewesen – somit jedenfalls kein Selbstmordgrund. Eine solche Annahme wäre natürlich schon wegen des Mitsterbers reichlich waghalsig. Im Übrigen erweist sich der Gewährsmann als loyal, wenn er dem Abschlussbericht sein volles Vertrauen schenkt und außerdem entschieden verneint, Funktionärssohn Peter Sindermann sei in seiner ganzen Laufbahn jemals unlauter begünstigt worden. Sicherlich hatte jeder VEB-Kantinenkoch zu Hause (oder bei der GST) sein Pferd und sein Sportflugzeug im Stall, gerade so wie in Willy Brandts Westdeutschland.
In dieser Hinsicht wäre es unter Umständen aufschlussreich, die Verhältnisse des Mitsterbers zu beleuchten. Aber für die Such-Roboter dieses Planeten ist ein »Günter Heley« noch weitaus unberühmter als ein Tabwa-Häuptling aus Sambia. Auch der Gewährsmann versichert, die Familie Sindermann hätte den jungen Mann nicht gekannt. Ob sie diesem Mangel vielleicht im Nachhinein abzuhelfen versuchte, habe ich lieber nicht gefragt. In der zeitgenössischen Presse taucht Heleys Name zwar durchaus auf, selbst im Neuen Deutschland – doch das war es denn auch. Man erfährt noch nicht einmal, was Könau Jahrzehnte später ausgräbt: der 18jährige sei Elektrolehrling gewesen und habe den verhängnisvollen Unterricht genommen, weil er Flugingenieur werden wollte. Das scheint alles zu sein. Damit bleibt Heley beinahe so ein Rätsel wie das Unglück überhaupt.
Der Autor arbeitet an einem umfangreichen Buchmanuskript mit dem Titel »Lexikon der Frühverstorbenen«. Interesse darf bekundet werden.