Dass Krieg stets Konjunktur hat, erfahren wir in diesen Monaten nur zu deutlich. Was soll da ein Buch, das sich mit Friedenskonzepten befasst und den unterschiedlichen Versuchen der letzten 250 Jahre, kriegerische Auseinandersetzungen, die zu Millionen von Toten und Verkrüppelten, zur sinnlosen Verwüstung und Zerstörung ganzer Landstriche geführt haben, ein für alle Mal abzuschaffen? Gerade in der deutschen Politik scheint man an einem solchen Projekt wenig Interesse zu haben. Lieber will man den Alb der Vergangenheit, aus der man angeblich gelernt hat, abwerfen und endlich die widerwillig geübte Zurückhaltung aufgeben, um militärisch wieder weltweit aktiv zu werden. Und die Mainstream Presse – nicht nur die deutsche – mischt mit und übt sich in blinder Kriegspropaganda. Da der ukrainische Stellvertreterkrieg so lange wie möglich hinausgezögert werden soll, wirken Friedensideen deplatziert oder gar defätistisch. Die Gründe für den derzeitigen Krieg in der Ukraine werden gar nicht erst diskutiert. Man konzentriert sich auf den Überfall, der einerseits erwartet wurde, andererseits aus heiterem Himmel gekommen sein soll. Offensichtlich gilt ein Krieg dann, wenn die diplomatischen Mittel (angeblich) ausgeschöpft sind, wieder als legitim, ja, wünschenswert.
Im 18. Jahrhundert, in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution, war man da weiter. Hier setzt der italienische Philosoph Domenico Losurdo, bekannt für seine Gegengeschichten zum herrschenden liberal-konservativen Weltbild und seinen kritischen Blick auf bestimmte linke Denktraditionen des eigenen Lagers, in einem seiner letzten Bücher ein. In »Welt ohne Krieg« geht es um das Friedensideal und dessen Schicksale im historischen Kontext. Um 1780 habe man, so Losurdo, den Despotismus der feudalistischen Herrschaft als Ursache nicht nur einzelner Kriege, sondern des Krieges schlechthin ausgemacht. Die rivalisierenden Adelscliquen führten Krieg, um ihre Macht zu vergrößern. Dies geschah schon damals auf Kosten der Zivilbevölkerung. Die Lösung lag damit nahe: die Abschaffung des Feudalismus. Sobald die Bevölkerung politischen Einfluss habe, käme es nicht mehr zu Kriegen, die niemandem nutzten und fast allen schadeten. Die Französische Revolution übertrug das Ideal der Brüderlichkeit auch auf die Beziehungen zwischen Staaten. In der Verfassung von 1793 wurden zudem die Prinzipien der nationalen Souveränität und der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten festgeschrieben.
Unter dem Einfluss der französischen Revolution verfasste Immanuel Kant, der zunächst noch vom Nutzen des Krieges geschrieben hatte, 1795 seine Schrift vom »Ewigen Frieden«. Eine dauerhafte friedliche Koexistenz von Staaten sei, so Kant, unter der Bedingung möglich, dass sie »republikanisch« verfasst sind. Ferner müsse unter den Staaten, die ihre nationalen Eigenheiten behielten, das Prinzip der Gleichheit gelten. Hegemonieansprüche seien zu vermeiden.
Die junge französische Republik hatte freilich mit einer Phalanx außenpolitischer Gegner zu tun, denn nahezu alle europäischen Vertreter des ancien régime schlossen sich zu invasionsbereiten Koalitionen zusammen, um die neue Regierung in Frankreich, der sie jegliche Legitimität bestritten, zu Fall zu bringen. Dies führte dann zu (völlig gerechtfertigten) Verteidigungskriegen, da es galt, das eigene Land und die Errungenschaften der Revolution vor feindlichen Übergriffen zu schützen. Es kam aber auch zu den ersten Eroberungskriegen, die namentlich die Grenze im Norden und Nordwesten sichern sollen. Einen Revolutionsexport hatte der Jakobiner Maximilien Robespierre noch 1792 abgelehnt, doch bald setzte ein schrittweises Umdenken ein: Erst wenn andere Länder dem französischen Beispiel folgen und ihre anachronistischen Regime abschütteln, erscheint auch ein allgemeiner, dauerhafter Friede möglich.
Dies bleibt freilich Wunschdenken. Napoleon Bonaparte überzieht schließlich den Kontinent mit systematischen Eroberungsfeldzügen und macht die Sklavenbefreiung in den Kolonien wieder rückgängig. All dies schlägt sich in den politisch-philosophischen Kampfschriften dieser Jahre nieder. Losurdo zeichnet die widersprüchliche Entwicklung vor allem am Beispiel Johann Gottlieb Fichtes nach, der als Befürworter der Revolution zunächst noch deren Export, dann aber den antinapoleonischen Volkskrieg unterstützt, den er als Quasi-Revolution begrüßt, ohne deren Abgleiten ins Nationalistisch-Konservative abschätzen zu können. Erst Hegel gelingt es schließlich, die historischen Prozesse im Zusammenhang zu reflektieren.
Losurdo zeigt an verschiedenen historischen Beispielen, wie das Ideal des Friedens weiterlebt und gleichzeitig gravierenden Wandlungen unterliegt. So artikuliert Novalis (in »Die Christenheit oder Europa«) seine Sehnsucht nach einer auf mittelalterlich-christlicher Grundlage beruhenden Einheitlichkeit – die u. a. Nicht-Christen ausschließt. Die politische Entsprechung stellt die Heilige Allianz Preußens, Österreichs und Russlands dar, für die der Frieden ebenfalls auf christlich-konservativen Werten beruht, deren Verletzung durch strikte Strafaktionen geahndet werden. Bei dem Staatstheoretiker Benjamin Constant taucht die folgenreiche, bis heute wirksame These auf, dass der kapitalistische Handel auf einen allgemeinen Frieden hinwirke, ein Argument, das bereits Kant kritisiert hatte.
Für Engels und Marx ist schon früh klar, dass der international agierende Kapitalismus durch einen brutalen Konkurrenzkampf der führenden Nationen gekennzeichnet ist, der jederzeit zu einem »industriellen Vernichtungskrieg« führen könne. Ein wahrer Friede sei erst als übernationale »Allianz der Arbeiter« zu denken – freilich nach der Abschaffung des Kapitalismus. Zum internationalen Konkurrenzkampf im 19. Jahrhundert gehören auch die zahllosen Kolonialkriege, die zu Dutzenden Millionen von Opfern führten. Es ist gerade diese stets verschwiegene Schattenseite des Liberalismus, die Losurdo in seiner »Gegengeschichte« des Liberalismus (unter dem Titel »Freiheit als Privileg«) immer wieder herausgestrichen hat.
Die russische Oktoberrevolution setzt den internationalen Frieden von Anfang an auf die Tagesordnung und bezieht klar Stellung gegen die kolonialen Traditionen des »Westens«. Auch für diese Revolutionäre stellt sich die Frage des Revolutionsexports, der von Lenin wie von Stalin abgelehnt wird. Dem setzt der damalige amerikanische Präsident Wilson das Konzept des Demokratieexports entgegen, der durch internationale Organisationen wie den Völkerbund abgesichert werden soll. Dem Krieg soll so für alle Zeiten der Krieg erklärt werden. Doch die amerikanische Politik behält gleichzeitig klar umrissene Einflusszonen im Sinne der Monroe-Doktrin bei und verzichtet obendrein auf eine deutliche Abgrenzung von kolonialen oder neokolonialen Praktiken.
Das so deklarierte Ideal besteht also, vor allem nach 1945, in einer Pax Americana, einer internationalen Ordnung, die durch einen Hegemon bestimmt wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verstärkt sich diese Tendenz, wofür auch jene »neokonservative Revolution« verantwortlich zu machen ist, deren Repräsentanten seit den späten 1980ern Losurdo zu Recht großes Gewicht beimisst. Dazu gehören die Ablehnung der UN mit ihrer breiten Repräsentanz und die Bereitschaft, Prinzipien des Völkerrechts bei Bedarf zu ignorieren. Gestützt auf ökonomische und vor allem militärische Macht kann dieser Hegemon jederzeit das moralische »Recht« in Anspruch nehmen, die eigenen Einflusszonen zu bestimmen. Dies stellt aber keinesfalls die Grundlage für einen internationalen Frieden dar, wie die stets katastrophal verlaufenden Strafexpeditionen und angeblich »humanitären« Kriege seit 1991 zeigen.
Hier ist der eigentliche Ansatzpunkt für Losurdos bereits 2016 auf Italienisch erschienenes Buch zu sehen. Das selbstherrlich verkündete »Ende der Geschichte«, das den endgültigen Sieg westlicher Demokratievorstellungen verkündete, war nur der Anfang einer Reihe von blutigen und kostspieligen Strafexpeditionen, die immer öfter gegen das Völkerrecht verstießen und entsprechende UNO-Beschlüsse ignorierten.
Die seit 1990 herrschende Pax Americana ist also keine. Statt ewigem Frieden gibt es endlose Kriege gegen missliebige Quertreiber oder ökonomische Konkurrenten. Politisch-ideologische Alternativen scheint es allenfalls in China und den aufstrebenden Ländern des globalen Südens zu geben. Gerade der »westliche Marxismus« hat diesen weltpolitischen Blick noch einzuüben, wie Losurdo 2017, kurz vor seinem Tod, ausführte.
Losurdo zieht also eine ernüchternde Bilanz, was das bisherige Schicksal der Friedensidee betrifft. Die Utopie ist immer wieder ins Dystopische umgeschlagen. Doch als hegelianisch geschulter Marxist vertraut Losurdo darauf, dass aus den Debatten und Niederlagen der letzten 250 Jahre zu lernen ist, wenn man sie im Kontext der historischen Entwicklung entschlüsselt. Dabei sieht er letztlich sogar ein stärkeres universalistisches Bewusstsein. Der Frieden wird jetzt in der Tat als Frage der Weltpolitik wahrgenommen, die alle Nationen betrifft. Die übliche Spaltung in eine zivilisierte Erste Welt, die den Krieg in ihren eigenen Reihen zumindest eindämmen kann, und eine unzivilisierte Zweite und Dritte Welt, die man mit wenig beachteten oder gar ignorierten Kriegen überziehen kann, ist weitgehend überwunden. Die komplexe Krieg-Frieden-Thematik kann somit auf einer höheren Stufe reflektiert werden. Dabei verschieben sich ggf. auch altbekannte Fronten: Friedensfreunde oder Pazifisten stellen sich, wie das Beispiel der deutschen Grünen zeigt, als aggressive Bellizisten heraus; Realpolitiker, die bislang stets auf militärische Aufrüstung und nationale Interessenwahrnehmung pochten, sind da möglicherweise eher friedensfähig. Und auf realistische Schritte zur Eindämmung von destruktiven Kriegen und zur Einhegung (oder Abschaffung) der profitgierigen Rüstungsindustrie des Westens wird es letztlich ankommen.
Domenico Losurdo: Eine Welt ohne Krieg. Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart. Aus dem Italienischen von Christel Buchinger. PapyRossa, Köln 2022, 464 S., 28 €.