Ein Junge, der am 12. September vor 100 Jahren im damals polnischen Lwów als Stanislaw Lem geboren wurde, bezweifelte 50 Jahre später, als er schon ein berühmter Schriftsteller war und in Kraków lebte, seine eigene Existenz.
»In der letzten Zeit wurden Stimmen laut, die die Urheberschaft der Schriften Tichys in Zweifel ziehen. (…) Seine Werke soll eine Einrichtung geschaffen haben, ein sogenannter ›Lem‹. Gewissen extremen Versionen zufolge soll ›Lem‹ sogar ein Mensch sein. Nun weiß aber jeder, (…) dass LEM die Abkürzung für die Bezeichnung LUNAR EXCURSION MODULE ist, das heißt für den forschenden Mondbehälter, der in den USA im Rahmen des ›Apollo-Projekts‹ (…) gebaut wurde.«
So steht es geschrieben im Vorwort zu dem Erzählungs-Zyklus »Sterntagebücher« mit den Erlebnissen des Weltraumfahrers Ijon Tichy, 1971 in Warschau, dann bei Volk und Welt, Berlin, und 1976 im Insel Verlag, Frankfurt am Main, in der Übersetzung von Caesar Rymarowicz erschienen. Und wie zur Bestätigung prangt 5 cm hoch und 11 cm breit auf dem Schutzumschlag der Frankfurter Ausgabe in dicken, schwarzen Lettern wie ein Akronym LEM.
Mit Tichy, einem »kosmischen Münchhausen« (Insel Verlag), gelang Lem ein literarisch großer Wurf, »paradox, einfallsreich, sprühend vor Ideen« und gleichzeitig satirisch, allegorisch, parodistisch. Für Siegfried Lenz waren die »Sterntagebücher« eine »kosmische Heimatliteratur ersten Ranges«. Denn mit jeder neuen Reise bestätigte ihm der erdverbundene Ijon Tichy: »Die Ferne ist nah und verpflichtend genug – so nah, dass niemand grundlos erschrickt.« In der Galaxis umherstreunend, entdeckt der Weltraumfahrer den vollkommensten Polizeistaat und ein Gemeinwesen, in dem es keine Individuen, sondern nur noch Funktionen gibt; als Delegierter bei der Organisation der Vereinten Planeten muss er erfahren, dass es sehr viele Einwände gegen eine Mitgliedschaft der Erde gibt (»Der futurologische Kongress«).
Lenz: »Warum Lem seine bedrohlichen Erkenntnisse von der Galaxis auf uns herabregnen lässt, wird (…) rasch deutlich; es ist für ihn eine Frage der modellhaften Reflexion und der Perspektive: Geh weiter weg von mir, damit ich dich besser sehen kann. Die erbeuteten Einsichten betreffen allemal unsere erdhaften Zustände« (Siegfried Lenz: »Schwejk als Weltraumfahrer – Über das Vergnügen, Stanislaw Lem zu lesen«, Insel Almanach, 1976).
Ich habe nachgemessen: Stanislaw Lem breitet sich in meiner Bücherwand auf mehreren Regalen in einer Gesamtlänge von fast 1,50 Meter aus. Und ich gestehe: Ich hatte wie Siegfried Lenz viel Vergnügen mit den Büchern des »dialektischen Weisen aus Kraków« (Franz Rottensteiner, ebenfalls im Insel Almanach).
Stanislaw Lems Geschichten und Gedankenexperimente fesseln bis heute, selbst dort, wo sie inzwischen mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklungen, des Wissens über den Weltraum oder als Folge gesellschaftlicher Veränderungen veraltet sind. Anlass genug für das polnische Parlament 2021 zum Jahr von Stanislaw Lem auszurufen: zu Ehren eines »der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, der gleichwohl für Innovation wie für Klassik steht und in vielen literarischen Gattungen zu Hause war« (siehe auch die etwas bescheiden daherkommende offizielle Lem-Homepage https://lem.pl).
Zukunft, Technik, Utopie: Stanislaw Lem war als Science-Fiction-Autor ebenso wie als (Kultur-)Philosoph ein Vordenker seiner Zeit. Viele seiner Voraussagen, seiner Zukunftsvisionen wurden später Wirklichkeit: Internet, Gentechnik, virtuelle Realität. Lem war Mediziner, Philosoph, Futurologe, Kybernetiker, beschlagen in Kernphysik, Mikrobiologie und Mathematik. Und all sein enzyklopädisches Wissen floss ein in seine literarischen Schöpfungen. Er schrieb Romane, Erzählungen, Essays. Er veröffentlichte in zwei Bänden seinen Versuch einer Theorie der Science-Fiction-Literatur (»Phantastik und Futurologie«) und ebenfalls in zwei Bänden seine »Philosophie des Zufalls« als Beitrag zu einer empirischen Theorie der Literatur. Und dann natürlich sein Opus Magnum »Summa technologiae«, in dem er ein System der technologischen Entwicklung unserer Kultur beschrieb: samt und sonders Werke »mit futurologischem Anspruch, poetischer Erfindungsgabe, spekulativer Kraft und wissenschaftstheoretischer Erfassung von Zukunftsproblemen«.
Oder sagen wir es mit den Worten des Literatur-Brockhaus: Lem »verbindet in seiner Prosa die wissenschaftlich fundierte und künstlerisch sehr variable Darstellung einer utopischen Zukunft mit überzeitlicher philosophischer und moralischer Problematik der menschlichen Existenz«.
Lems Werke wurden in 57 Sprachen übersetzt und insgesamt mehr als 45 Millionen Mal verkauft. Um die Veröffentlichung in deutscher Sprache haben sich in den 1960er und 1970er Jahren vor allem die Verlage Volk und Welt, Berlin/DDR, der Insel Verlag und der Suhrkamp Verlag, beide Frankfurt a. M., sowie der zur damaligen Econ-Gruppe gehörende Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf, verdient gemacht. Stanislaw Lem starb 2006 im Alter von 84 Jahren in Kraków.
Mir ist nicht bekannt, ob aus Anlass des 100. Geburtstages eine deutsche Werkausgabe oder eine Neuausgabe ausgewählter Werke vorgesehen ist. Überfällig wäre sie. Welche Schätze da gehoben werden könnten, zeigt ein Blick auf mein Bücherregal.
Ein Loblied singe ich daher auf den Audio Verlag, Berlin. Er veröffentlichte Ende April aus Anlass des bevorstehenden 100. Geburtstags des Autors eine schmucke Box mit acht CDs, die eine Gesamtlaufzeit von fast acht Stunden haben. Die Hörspiele wurden zwischen 1973 und 2018 vom DDR-Hörfunk, Westdeutschen Rundfunk, Mitteldeutschen Rundfunk, Südwestfunk und vom Österreichischen Rundfunk ausgestrahlt. Die Box sprang prompt auf Platz 1 der hr2-Hörbuchbestenliste. Aus der Jurybegründung: »Ein spannendes Hörerlebnis für alle Science-Fiction-Fans und alle, die sich mit der Gedankenwelt des kritischen Visionärs auseinandersetzen wollen.«
Drei der Hörspiele stammen aus »Mondnacht«, einem Sammelband mit Hör- und Fernsehspielen, in der Bundesrepublik 1977 bei Insel erschienen. »Der getreue Roboter« berichtet von dem Versuch eines Roboters, den idealen Menschen zu schaffen. In »Professor Tarantogas Sprechstunde« finden sich Erfinder ein, die ihre teils kuriosen, teils unmöglichen Erfindungen präsentieren, zum Beispiel ein funktionstüchtiges Perpetuum mobile oder eine Erfindung zur Manipulation der Vergangenheit, mit der die Entdeckung der Atomkraft ungeschehen gemacht werden soll. In »Schichttorte« prozessiert ein ehemaliger Rennfahrer, dessen Körperteile nach und nach durch High-Tech-Prothesen ausgetauscht wurden, gegen deren Hersteller. Dieser behauptet, der Mann sei inzwischen keine Person mehr, sondern eine Maschine und damit Eigentum des kybernetischen Unternehmens.
Aus dem Erzählungsband »Nacht und Schimmel« (Insel Verlag, 1975) stammt »Die Lymphatische Formel«, in der ein Wissenschaftler berichtet, dass er durch seine interdisziplinären Forschungen entdeckt habe, wie auf einer nächsten Evolutionsstufe der Mensch sich selbst abschaffen wird. Das Hörspiel »Königsmatrix« aus den »Robotermärchen« (Suhrkamp, 1973), Originaltitel »Die Räte des Königs Hydrops«, ist eine Parodie, ein Lügenmärchen. Zwei sich spinnefeinde Großprogrammierer erhalten den königlichen Auftrag, einen Thronfolger zu programmieren. Am Ende verlieren beide. Die restlichen CDs bringen Hörspielversionen bekannter SF-Romane: »Rückkehr zur Erde« ist eine Bearbeitung des Romans »Transfer« (Insel, 1971): Ein Astronaut kehrt 127 Erdenjahre nach seiner Abreise zurück und findet sich auf der völlig veränderten Erde nicht mehr zurecht. In dem utopischen Roman »Der Unbesiegbare« (Volk und Welt; 1971 Fischer Taschenbuch) sucht die Crew des gleichnamigen Raumkreuzers nach im All verschollenen Kameraden und entdeckt rätselhafte Überreste einer einst hochtechnisierten Kultur.
Und natürlich, auf zwei CDs: »Solaris«, dieser Monolith in Lems Schaffenswerk, 1972 von Andrei Tarkowski fulminant verfilmt, der sich dabei weitgehend an die Vorlage hielt. Als der Psychologe Kris Kelvin auf der den Planeten Solaris umkreisenden Raumstation eintrifft, findet er eine demoralisierte und psychisch labile Mannschaft vor. Kelvin erkennt, dass der Planet in der Tiefe ein fantastischer, sich rhythmisch bewegender Ozean ist, der die Wünsche der Raumfahrer sowie ihre unbewussten Nervenprozesse von ihren Hirnen abliest und in der Raumstation materialisiert. Nietzsche reloaded: »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
Das Lexikon des internationalen Films nannte Tarkowskis Meisterwerk »eine philosophische Fabel, die um die abendländischen Ideen von Tod, Liebe und Auferstehung kreist. Ein brillant inszenierter, äußerst reicher und vielschichtiger Film, der, im Gewand einer technischen Utopie, die Hybris traditionellen Fortschrittsglaubens in Frage stellt.« Roman und Hörspiel können getrost in dieses Urteil einbezogen werden.
Wäre diese Box Teil eines Wettbewerbs, stünde jetzt an dieser Stelle die höchste Note. So aber lasse ich noch einmal Siegfried Lenz zu Wort kommen. Ich denke, sein Fazit zu den »Sterntagebüchern« gilt auch für Lems hinreißendes, unerschöpfliches Gesamtwerk: »Hier gibt’s was zu lesen, Leute (und, auf die Box bezogen, natürlich auch zu hören; K. N.); hier gibt’s was zu denken. Hier kann jeder Wesen, Dinge und Verhältnisse in so unerhörtem und beziehungsreichem Sprachgewand erleben, dass er den Eindruck hat, mitunter einer Ausbesserung der Weltgeschichte beizuwohnen oder sogar einer Neufassung der Welt.«
Stanislaw Lem: Die große Hörspiel-Box, Der Audio Verlag, Berlin 2021, 30 €. – Bei Wikipedia ist eine Auflistung der verfilmten Werke Stanislaw Lems zu finden, darunter auch »Der schweigende Stern« aus dem Jahr 1960: der erste Science-Fiction-Film des DEFA-Studios.