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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hinreißend. Unerschöpflich

Ein Jun­ge, der am 12. Sep­tem­ber vor 100 Jah­ren im damals pol­ni­schen Lwów als Sta­nis­law Lem gebo­ren wur­de, bezwei­fel­te 50 Jah­re spä­ter, als er schon ein berühm­ter Schrift­stel­ler war und in Kraków leb­te, sei­ne eige­ne Existenz.

»In der letz­ten Zeit wur­den Stim­men laut, die die Urhe­ber­schaft der Schrif­ten Tichys in Zwei­fel zie­hen. (…) Sei­ne Wer­ke soll eine Ein­rich­tung geschaf­fen haben, ein soge­nann­ter ›Lem‹. Gewis­sen extre­men Ver­sio­nen zufol­ge soll ›Lem‹ sogar ein Mensch sein. Nun weiß aber jeder, (…) dass LEM die Abkür­zung für die Bezeich­nung LUNAR EXCURSION MODULE ist, das heißt für den for­schen­den Mond­be­häl­ter, der in den USA im Rah­men des ›Apol­lo-Pro­jekts‹ (…) gebaut wurde.«

So steht es geschrie­ben im Vor­wort zu dem Erzäh­lungs-Zyklus »Stern­ta­ge­bü­cher« mit den Erleb­nis­sen des Welt­raum­fah­rers Ijon Tichy, 1971 in War­schau, dann bei Volk und Welt, Ber­lin, und 1976 im Insel Ver­lag, Frank­furt am Main, in der Über­set­zung von Cae­sar Ryma­rowicz erschie­nen. Und wie zur Bestä­ti­gung prangt 5 cm hoch und 11 cm breit auf dem Schutz­um­schlag der Frank­fur­ter Aus­ga­be in dicken, schwar­zen Let­tern wie ein Akro­nym LEM.

Mit Tichy, einem »kos­mi­schen Münch­hau­sen« (Insel Ver­lag), gelang Lem ein lite­ra­risch gro­ßer Wurf, »para­dox, ein­falls­reich, sprü­hend vor Ideen« und gleich­zei­tig sati­risch, alle­go­risch, par­odi­stisch. Für Sieg­fried Lenz waren die »Stern­ta­ge­bü­cher« eine »kos­mi­sche Hei­mat­li­te­ra­tur ersten Ran­ges«. Denn mit jeder neu­en Rei­se bestä­tig­te ihm der erd­ver­bun­de­ne Ijon Tichy: »Die Fer­ne ist nah und ver­pflich­tend genug – so nah, dass nie­mand grund­los erschrickt.« In der Gala­xis umher­streu­nend, ent­deckt der Welt­raum­fah­rer den voll­kom­men­sten Poli­zei­staat und ein Gemein­we­sen, in dem es kei­ne Indi­vi­du­en, son­dern nur noch Funk­tio­nen gibt; als Dele­gier­ter bei der Orga­ni­sa­ti­on der Ver­ein­ten Pla­ne­ten muss er erfah­ren, dass es sehr vie­le Ein­wän­de gegen eine Mit­glied­schaft der Erde gibt (»Der futu­ro­lo­gi­sche Kongress«).

Lenz: »War­um Lem sei­ne bedroh­li­chen Erkennt­nis­se von der Gala­xis auf uns her­ab­reg­nen lässt, wird (…) rasch deut­lich; es ist für ihn eine Fra­ge der modell­haf­ten Refle­xi­on und der Per­spek­ti­ve: Geh wei­ter weg von mir, damit ich dich bes­ser sehen kann. Die erbeu­te­ten Ein­sich­ten betref­fen alle­mal unse­re erd­haf­ten Zustän­de« (Sieg­fried Lenz: »Schwe­jk als Welt­raum­fah­rer – Über das Ver­gnü­gen, Sta­nis­law Lem zu lesen«, Insel Alma­nach, 1976).

Ich habe nach­ge­mes­sen: Sta­nis­law Lem brei­tet sich in mei­ner Bücher­wand auf meh­re­ren Rega­len in einer Gesamt­län­ge von fast 1,50 Meter aus. Und ich geste­he: Ich hat­te wie Sieg­fried Lenz viel Ver­gnü­gen mit den Büchern des »dia­lek­ti­schen Wei­sen aus Kraków« (Franz Rot­ten­stei­ner, eben­falls im Insel Almanach).

Sta­nis­law Lems Geschich­ten und Gedan­ken­ex­pe­ri­men­te fes­seln bis heu­te, selbst dort, wo sie inzwi­schen mit dem Fort­schrei­ten der tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen, des Wis­sens über den Welt­raum oder als Fol­ge gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­run­gen ver­al­tet sind. Anlass genug für das pol­ni­sche Par­la­ment 2021 zum Jahr von Sta­nis­law Lem aus­zu­ru­fen: zu Ehren eines »der bedeu­tend­sten Autoren des 20. Jahr­hun­derts, der gleich­wohl für Inno­va­ti­on wie für Klas­sik steht und in vie­len lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen zu Hau­se war« (sie­he auch die etwas beschei­den daher­kom­men­de offi­zi­el­le Lem-Home­page https://lem.pl).

Zukunft, Tech­nik, Uto­pie: Sta­nis­law Lem war als Sci­ence-Fic­tion-Autor eben­so wie als (Kultur-)Philosoph ein Vor­den­ker sei­ner Zeit. Vie­le sei­ner Vor­aus­sa­gen, sei­ner Zukunfts­vi­sio­nen wur­den spä­ter Wirk­lich­keit: Inter­net, Gen­tech­nik, vir­tu­el­le Rea­li­tät. Lem war Medi­zi­ner, Phi­lo­soph, Futu­ro­lo­ge, Kyber­ne­ti­ker, beschla­gen in Kern­phy­sik, Mikro­bio­lo­gie und Mathe­ma­tik. Und all sein enzy­klo­pä­di­sches Wis­sen floss ein in sei­ne lite­ra­ri­schen Schöp­fun­gen. Er schrieb Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Essays. Er ver­öf­fent­lich­te in zwei Bän­den sei­nen Ver­such einer Theo­rie der Sci­ence-Fic­tion-Lite­ra­tur (»Phan­ta­stik und Futu­ro­lo­gie«) und eben­falls in zwei Bän­den sei­ne »Phi­lo­so­phie des Zufalls« als Bei­trag zu einer empi­ri­schen Theo­rie der Lite­ra­tur. Und dann natür­lich sein Opus Magnum »Sum­ma tech­no­lo­giae«, in dem er ein System der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung unse­rer Kul­tur beschrieb: samt und son­ders Wer­ke »mit futu­ro­lo­gi­schem Anspruch, poe­ti­scher Erfin­dungs­ga­be, spe­ku­la­ti­ver Kraft und wis­sen­schafts­theo­re­ti­scher Erfas­sung von Zukunftsproblemen«.

Oder sagen wir es mit den Wor­ten des Lite­ra­tur-Brock­haus: Lem »ver­bin­det in sei­ner Pro­sa die wis­sen­schaft­lich fun­dier­te und künst­le­risch sehr varia­ble Dar­stel­lung einer uto­pi­schen Zukunft mit über­zeit­li­cher phi­lo­so­phi­scher und mora­li­scher Pro­ble­ma­tik der mensch­li­chen Existenz«.

Lems Wer­ke wur­den in 57 Spra­chen über­setzt und ins­ge­samt mehr als 45 Mil­lio­nen Mal ver­kauft. Um die Ver­öf­fent­li­chung in deut­scher Spra­che haben sich in den 1960er und 1970er Jah­ren vor allem die Ver­la­ge Volk und Welt, Berlin/​DDR, der Insel Ver­lag und der Suhr­kamp Ver­lag, bei­de Frank­furt a. M., sowie der zur dama­li­gen Econ-Grup­pe gehö­ren­de Mari­on von Schrö­der Ver­lag, Düs­sel­dorf, ver­dient gemacht. Sta­nis­law Lem starb 2006 im Alter von 84 Jah­ren in Kraków.

Mir ist nicht bekannt, ob aus Anlass des 100. Geburts­ta­ges eine deut­sche Werk­aus­ga­be oder eine Neu­aus­ga­be aus­ge­wähl­ter Wer­ke vor­ge­se­hen ist. Über­fäl­lig wäre sie. Wel­che Schät­ze da geho­ben wer­den könn­ten, zeigt ein Blick auf mein Bücherregal.

Ein Lob­lied sin­ge ich daher auf den Audio Ver­lag, Ber­lin. Er ver­öf­fent­lich­te Ende April aus Anlass des bevor­ste­hen­den 100. Geburts­tags des Autors eine schmucke Box mit acht CDs, die eine Gesamt­lauf­zeit von fast acht Stun­den haben. Die Hör­spie­le wur­den zwi­schen 1973 und 2018 vom DDR-Hör­funk, West­deut­schen Rund­funk, Mit­tel­deut­schen Rund­funk, Süd­west­funk und vom Öster­rei­chi­schen Rund­funk aus­ge­strahlt. Die Box sprang prompt auf Platz 1 der hr2-Hör­buch­be­sten­li­ste. Aus der Jury­be­grün­dung: »Ein span­nen­des Hör­erleb­nis für alle Sci­ence-Fic­tion-Fans und alle, die sich mit der Gedan­ken­welt des kri­ti­schen Visio­närs aus­ein­an­der­set­zen wollen.«

Drei der Hör­spie­le stam­men aus »Mond­nacht«, einem Sam­mel­band mit Hör- und Fern­seh­spie­len, in der Bun­des­re­pu­blik 1977 bei Insel erschie­nen. »Der getreue Robo­ter« berich­tet von dem Ver­such eines Robo­ters, den idea­len Men­schen zu schaf­fen. In »Pro­fes­sor Taran­to­gas Sprech­stun­de« fin­den sich Erfin­der ein, die ihre teils kurio­sen, teils unmög­li­chen Erfin­dun­gen prä­sen­tie­ren, zum Bei­spiel ein funk­ti­ons­tüch­ti­ges Per­pe­tu­um mobi­le oder eine Erfin­dung zur Mani­pu­la­ti­on der Ver­gan­gen­heit, mit der die Ent­deckung der Atom­kraft unge­sche­hen gemacht wer­den soll. In »Schicht­tor­te« pro­zes­siert ein ehe­ma­li­ger Renn­fah­rer, des­sen Kör­per­tei­le nach und nach durch High-Tech-Pro­the­sen aus­ge­tauscht wur­den, gegen deren Her­stel­ler. Die­ser behaup­tet, der Mann sei inzwi­schen kei­ne Per­son mehr, son­dern eine Maschi­ne und damit Eigen­tum des kyber­ne­ti­schen Unternehmens.

Aus dem Erzäh­lungs­band »Nacht und Schim­mel« (Insel Ver­lag, 1975) stammt »Die Lympha­ti­sche For­mel«, in der ein Wis­sen­schaft­ler berich­tet, dass er durch sei­ne inter­dis­zi­pli­nä­ren For­schun­gen ent­deckt habe, wie auf einer näch­sten Evo­lu­ti­ons­stu­fe der Mensch sich selbst abschaf­fen wird. Das Hör­spiel »Königs­ma­trix« aus den »Robo­ter­mär­chen« (Suhr­kamp, 1973), Ori­gi­nal­ti­tel »Die Räte des Königs Hydrops«, ist eine Par­odie, ein Lügen­mär­chen. Zwei sich spin­ne­fein­de Groß­pro­gram­mie­rer erhal­ten den könig­li­chen Auf­trag, einen Thron­fol­ger zu pro­gram­mie­ren. Am Ende ver­lie­ren bei­de. Die rest­li­chen CDs brin­gen Hör­spiel­ver­sio­nen bekann­ter SF-Roma­ne: »Rück­kehr zur Erde« ist eine Bear­bei­tung des Romans »Trans­fer« (Insel, 1971): Ein Astro­naut kehrt 127 Erden­jah­re nach sei­ner Abrei­se zurück und fin­det sich auf der völ­lig ver­än­der­ten Erde nicht mehr zurecht. In dem uto­pi­schen Roman »Der Unbe­sieg­ba­re« (Volk und Welt; 1971 Fischer Taschen­buch) sucht die Crew des gleich­na­mi­gen Raum­kreu­zers nach im All ver­schol­le­nen Kame­ra­den und ent­deckt rät­sel­haf­te Über­re­ste einer einst hoch­tech­ni­sier­ten Kultur.

Und natür­lich, auf zwei CDs: »Sola­ris«, die­ser Mono­lith in Lems Schaf­fens­werk, 1972 von And­rei Tar­kow­ski ful­mi­nant ver­filmt, der sich dabei weit­ge­hend an die Vor­la­ge hielt. Als der Psy­cho­lo­ge Kris Kel­vin auf der den Pla­ne­ten Sola­ris umkrei­sen­den Raum­sta­ti­on ein­trifft, fin­det er eine demo­ra­li­sier­te und psy­chisch labi­le Mann­schaft vor. Kel­vin erkennt, dass der Pla­net in der Tie­fe ein fan­ta­sti­scher, sich rhyth­misch bewe­gen­der Oze­an ist, der die Wün­sche der Raum­fah­rer sowie ihre unbe­wuss­ten Ner­ven­pro­zes­se von ihren Hir­nen abliest und in der Raum­sta­ti­on mate­ria­li­siert. Nietz­sche rel­oa­ded: »Wenn du lan­ge in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Das Lexi­kon des inter­na­tio­na­len Films nann­te Tar­kow­skis Mei­ster­werk »eine phi­lo­so­phi­sche Fabel, die um die abend­län­di­schen Ideen von Tod, Lie­be und Auf­er­ste­hung kreist. Ein bril­lant insze­nier­ter, äußerst rei­cher und viel­schich­ti­ger Film, der, im Gewand einer tech­ni­schen Uto­pie, die Hybris tra­di­tio­nel­len Fort­schritts­glau­bens in Fra­ge stellt.« Roman und Hör­spiel kön­nen getrost in die­ses Urteil ein­be­zo­gen werden.

Wäre die­se Box Teil eines Wett­be­werbs, stün­de jetzt an die­ser Stel­le die höch­ste Note. So aber las­se ich noch ein­mal Sieg­fried Lenz zu Wort kom­men. Ich den­ke, sein Fazit zu den »Stern­ta­ge­bü­chern« gilt auch für Lems hin­rei­ßen­des, uner­schöpf­li­ches Gesamt­werk: »Hier gibt’s was zu lesen, Leu­te (und, auf die Box bezo­gen, natür­lich auch zu hören; K. N.); hier gibt’s was zu den­ken. Hier kann jeder Wesen, Din­ge und Ver­hält­nis­se in so uner­hör­tem und bezie­hungs­rei­chem Sprach­ge­wand erle­ben, dass er den Ein­druck hat, mit­un­ter einer Aus­bes­se­rung der Welt­ge­schich­te bei­zu­woh­nen oder sogar einer Neu­fas­sung der Welt.«

Sta­nis­law Lem: Die gro­ße Hör­spiel-Box, Der Audio Ver­lag, Ber­lin 2021, 30 . – Bei Wiki­pe­dia ist eine Auf­li­stung der ver­film­ten Wer­ke Sta­nis­law Lems zu fin­den, dar­un­ter auch »Der schwei­gen­de Stern« aus dem Jahr 1960: der erste Sci­ence-Fic­tion-Film des DEFA-Studios.