Es war die 243. Sitzung der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, in der der Bundesminister der Finanzen, Theodor Waigel, eine nahezu historische Rede hielt. »Es ist eine Bilanz der menschlichen Gemeinheit und der ökonomischen Ignoranz«, erklärte er kurz, aber treffend in der Debatte zum Bericht des Treuhand-Untersuchungsausschusses. Allerdings meinte er nicht die Treuhand, sondern die »traurige Schlußbilanz der sozialistischen Herrschaft«. Der Treuhand sprach er den Dank des Vaterlandes aus: »Die Treuhandanstalt hatte im Auftrag der Bundesregierung den größten und wahrscheinlich schwierigsten Teil der Aufgabe zu übernehmen, nämlich die gescheiterte Planwirtschaft der DDR in die Soziale Marktwirtschaft zu transformieren. Es galt vor allem, das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln in privates, unternehmerisches Eigentum zu überführen […] Wir danken allen, die innerhalb und außerhalb der Treuhandanstalt ihre Pflicht und noch viel mehr getan haben. Das war und ist Einsatz für Deutschland und Hingabe an unser Vaterland, das wir wiedergewonnen haben.«
Der Jubel der CDU/CSU-Abgeordneten ob dieser berechtigten und bewegenden Danksagung war groß, nahezu grenzenlos. Am liebsten hätten sie die Zeilen des Kinderliedes »Ein Mann, der sich Kolumbus nannt« angestimmt: »Gloria, Viktoria wide-wide-witt, juch-hei-ras-sa, Gloria, Viktoria wide-wide-witt, bum, bum.« Aber sie unterließen es und beschränkten sich auf den erhebenden Gedanken »Gloria, Viktoria!«, denn dank der Treuhand hatte die freiheitlich-demokratische Bundesrepublik Deutschland dem diktatorischen DDR-Unrechtsregime auch ökonomisch den Garaus gemacht: Aus 600 Milliarden DM Volksvermögen (Rohwedder), die Modrow-Regierung hatte 980 Milliarden DM errechnet, hatte die Enteignungsinstitution mit dem falschen Namen einen Schuldenberg von 256 Milliarden DM gemacht. Wenn das kein Grund zum Jubeln war, was dann?
25 Jahre später, Ende Juni 2019, war die Stimmung im Hohen Haus ein wenig gedämpfter. Die Fraktion der Linken hatte sich erdreistet, einen Antrag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Treuhandanstalt einzubringen. Der Antrag wurde abgelehnt. Wie würde es denn auch aussehen, wenn Ex-Finanzminister Theodor Waigel, sein damaliger Staatssekretär und heutiger Ex-Bundespräsident Horst Köhler und die verdienstvolle Ex-Treuhandchefin Birgit Breuel in den Untersuchungsausschuss einbestellt und mit völlig unnötigen Fragen konfrontiert würden? Schließlich hatten vor allem sie doch seinerzeit unter dem Beifall vor allem der CDU/CSU-Fraktion bescheinigt bekommen, ihre Pflicht und noch viel mehr für das Vaterland getan zu haben.
Doch wie gesagt, dieses Mal war die Stimmung der CDU/CSU-Mandatsträger bei der Erörterung des Antrages der Linken – die AfD hatte kurz vor der Debatte, selbstverständlich nicht aus populistischen Gründen, einen ähnlichen Antrag eingereicht – ein wenig gedämpfter. Ihr erster Sprecher, Eckhardt Rehberg, gestand mit Blick auf die Treuhand sogar ein: »Ja, es waren Glückswanderer unterwegs. Ja, es war auch kriminelle Energie dabei.« Noch deutlicher wurde der CDU-Hau-draufexperte Arnold Vaatz. Er schlug kritische Töne an: »Es sind natürlich eine ganze Reihe von Dingen passiert, die die Öffentlichkeit zu Recht aufregen. Zum Beispiel haben viele Erwerber gedacht, dass sie die Treuhand-Erwerbungen als Spekulationsobjekte betrachten können. Sie haben damit den Verfassungsgrundsatz ›Eigentum verpflichtet‹ zu gewissen Teilen mit Füßen getreten.« Aber dann, offensichtlich erschrocken über die eigenen Eingeständnisse, vollzog er eine klassische Volte und sah in den Linken die eigentlich Schuldigen für die Treuhandauswüchse. Gewandt an diese führte er voller nur allzu gut verständlichem Zorn aus: »Dass Sie es geschafft haben, den verrotteten Zustand, in dem Sie die DDR in die Zukunft entlassen haben, den technologischen Rückstand, die totale Mangelwirtschaft, in der dieses Land geendet ist, schließlich und endlich denjenigen anzulasten, die versucht haben, die Sache aus dem Dreck wieder herauszuziehen, ist eine geniale machiavellistische Leistung.«
Mit dieser Analyse blieb Vaatz nicht allein. Sein Kollege von der CDU/CSU-Fraktion Patrick Schnieder stieß in das gleiche Horn: »Ja, das Wirken der Treuhand ist längst noch nicht aufgearbeitet. Doch was kann ein Untersuchungsausschuss dort leisten? […] Wir brauchen die Zwangsmittel des Untersuchungsausschusses nicht, um die Arbeit der Treuhand zu beleuchten. […] In den Wendejahren 1989 und 1990 war schlicht der jahrzehntelange SED-Betrug am eigenen Volk aufgeflogen. Die DDR war bankrott, die Wirtschaft lag vielerorts am Boden. […] Der Antrag der Linken möchte den Blick davon weglenken. Das Pikante ist: Sie als Nachfolgerin von SED und PDS, die damals den Osten Deutschlands in die Grütze geritten haben, spielen mit den Emotionen, die Millionen Menschen beim Gedanken an die Treuhand haben.«
Originell waren solche präzisen Einschätzungen nicht gerade. Aus berufenem Munde waren sie sprachlich bereits überzeugender formuliert worden. Vom ehrenwerten langjährigen Wirtschaftsminister der Bundesrepublik und verurteilten Steuerbetrüger Otto Graf Lambsdorff stammt der schöne Spruch, 40 Jahre Misswirtschaft der SED hätten dem Osten Deutschlands mehr Schaden zugefügt als der Zweite Weltkrieg. Und Rainer Eppelmann, Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung, stellte im Hohen Haus kristallklar fest: »So wie wir nach dem Ende des von der ersten deutschen Diktatur ausgelösten Krieges unser zerstörtes Land wieder aufbauen mußten, so müssen wir heute nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur […] die neuen Länder gemeinsam wieder aufbauen.«
Ja, wie hatte er doch Recht, der Chef der Einrichtung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nach 1945, nach Faschismus und Krieg haben sich die Bewohner zwischen Elbe und Oder/Neiße bemüht, den östlichen Teil des Vaterlandes wieder aufzubauen. Mit mäßigem Erfolg. Obwohl es Ende der 1980er Jahre um ihre Wirtschaft nicht gerade zum Besten stand, hatten sie, so behaupten die ewigen DDR-Nostalgiker, doch einiges geschafft: Wirtschaftlich erreichte die DDR 1950 das Vorkriegsniveau, sie verdoppelte es bis 1955. 1989 übertraf sie den Stand von 1936 13fach und den 1945 vorgefundenen Stand 30fach. In den letzten 17 Jahren der DDR war das Nationaleinkommen, so wurde fabuliert, jährlich um rund vier Prozent gestiegen, 1988 erreichte es ein Volumen von 258 Milliarden Mark, was einem Bruttosozialprodukt von über 300 Milliarden DM entsprach. 65 Prozent dieses Einkommens wurden von der Industrie produziert. Der Außenhandelsumsatz betrug 1989 rund 84 Milliarden DM, 48 Prozent des Exportes entfielen auf Maschinen, Ausrüstungen und Transportmittel. Nicht wenige Zweige der Volkswirtschaft, so die Erdöl- und Erdgaschemie, die Veredlungsmetallurgie, der Schiffsbau und die Mikroelektronik, hatten ein beachtliches Niveau erreicht. Laut dem bundesdeutschen »Statistischen Jahrbuch 1990« betrug die Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter und Angestellten 3.211.000, allein der Maschinenbau zählte 962.000 Beschäftigte.
Erreicht wurden die Ergebnisse, so die Realitätsverweigerer, unter Umständen, wie sie ungünstiger kaum hätten sein können: weitaus größere Kriegszerstörungen als in Westdeutschland, gewaltige ökonomische Disproportionen, äußerst schwache Energiebasis, so gut wie keine Grundstoffindustrie, immense Reparationsleistungen für ganz Deutschland mit einem Gesamtwert von 99,1 Milliarden DM (das entsprach 97 Prozent der gesamtdeutschen Reparationen), erzwungene Einbindung in das osteuropäische, ökonomisch und technologisch weit zurückliegende Wirtschaftssystem, Handelsdiskriminierungen und -sanktionen seitens der BRD und ihrer Verbündeten, gezielte Abwerbung von Facharbeitern und Spezialisten, Embargopolitik im Bereich der Hochtechnologie.
Das hört sich alles ganz gut an, aber Buch über die unter Mühen erzielten ökonomischen Ergebnisse führte das Statistische Amt der DDR, und deren Zahlen waren bekanntlich manipuliert und geschönt. Oder etwa nicht? Sollten sie gar die Realität widergespiegelt haben? Anscheinend doch. Mit dem Anschluss der DDR hatte das Statistische Bundesamt das Statistische Amt der DDR übernommen und dessen Arbeitsweise und Datenmaterial einer Tiefenprüfung unterzogen. Sechs Monate später, Mitte April 1991, gab der damalige Präsident des bundesdeutschen Amtes, Egon Hölder, das Ergebnis dieser Überprüfung bekannt: Zwar seien im Statistischen Jahrbuch »möglichst nur positiv eingeschätzte Ergebnisse veröffentlicht« worden, aber, so wurde festgestellt, die DDR-»Statistik zeichnete im Wesentlichen die Realität« nach. Lambsdorff, Eppelmann und Gleichgesinnte hatten das anscheinend nicht mitbekommen.
Sei’s denn, wie hell hebt sich doch gegenüber den bescheidenen Ergebnissen von 40 Jahren ostdeutscher sogenannter Planwirtschaft das glänzende Resultat der Treuhandanstalt ab. In nur vier Jahren, vom 1. Juli 1990 bis zum Mai 1994 wurden 3495 volkseigene Betriebe »abgewickelt«, also geschlossen. Die Eigentümer der Betriebe, die Bürgerinnen und Bürger der DDR, wurden entschädigungslos enteignet. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten wurde von 4,1 Millionen auf 1,24 Millionen reduziert. Der Industriestaat DDR wurde im großen Umfang deindustrialisiert. Die Zeitschrift metall, Organ der IG Metall, bezeichnete das Superergebnis als »die wohl größte Vernichtung von gesellschaftlichem Reichtum zu Friedenszeiten«. Dietmar Bartsch, Co-Fraktionsvorsitzender der Linken, hat es drastisch formuliert: »Die Treuhand hat aus dem Osten einen 1-Euro-Laden gemacht. Und wer hat davon profitiert? 85 Prozent der Unternehmen sind an westdeutsche Investoren gegangen, und nicht einmal die restlichen 15 Prozent sind bei den Ossis geblieben, sondern im Wesentlichen an ausländische Investoren gegangen.« Wenn das keine Erfolgsbilanz ist, was dann?
Alles was Recht ist, Ex-Finanzminister Waigel ist vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er allen dankt, die innerhalb und außerhalb der Treuhandanstalt ihre Pflicht und noch viel mehr getan haben. Das war »Hingabe an unser Vaterland«. Oder wäre nicht präziser zu sagen: Hingabe an ein Gaunerstück?