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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Herrschende Meinung

Die syste­ma­ti­sche Begren­zung und Kon­trol­le wirt­schaft­lich-poli­ti­scher Macht als Grund­la­ge der Demo­kra­tie bleibt auf der Tages­ord­nung. In einer markt­kon­for­men, bloß for­ma­len Demo­kra­tie ver­sucht die Macht­eli­te, die Loya­li­tät der Bevöl­ke­rung (erst mal) ohne Gewalt, aber mit einem Arse­nal an Metho­den der Mei­nungs­ma­che zu gewin­nen. Was eine nähe­re Betrach­tung ent­hüllt, zei­gen 15 sach­kun­di­ge AutorIn­nen in einem jüngst erschie­ne­nen Buch: »Wie die Mei­nung der Herr­schen­den zur herr­schen­den Mei­nung wird.«

In aller Klar­heit (und Bru­ta­li­tät) fin­den wir im Bür­ger­li­chen Gesetz­buch das juri­sti­sche Fun­da­ment einer Klas­sen­ge­sell­schaft aus­for­mu­liert. Die wenig­sten ken­nen etwa den Para­gra­fen 611a: »Durch den Arbeits­ver­trag wird der Arbeit­neh­mer im Dien­ste eines ande­ren zur Lei­stung wei­sungs­ge­bun­de­ner, fremd­be­stimm­ter Arbeit in per­sön­li­cher Abhän­gig­keit ver­pflich­tet.« Damit es alle mer­ken: Die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung ist unfrei, fremd­be­stimmt, wei­sungs­ge­bun­den und per­sön­lich abhän­gig von einer klei­nen Min­der­heit von Kapi­ta­li­stIn­nen. Wel­che Grund­rech­te gel­ten nach Maß­ga­be die­ses BGB-Paragrafen?

Der Band ent­hält einen »Dis­kurs der Macht in Zei­ten von Coro­na«, beleuch­tet den »neo­li­be­ra­len Zwang der Ver­hält­nis­se«, befasst sich mit »Mei­nungs­ler­nen in der Schu­le« und »Prä­gung durch Kon­sum«: Die herr­schen­de Mei­nung wird auf viel­fäl­ti­ge Wei­se in den Köp­fen ver­an­kert. Das zu behaup­ten, ist kei­ne Ver­schwö­rungs­theo­rie (auch zu die­sem poli­ti­schen Kampf­be­griff gibt es einen Bei­trag); in sei­nem weg­wei­sen­den Buch »Pro­pa­gan­da« schrieb Edward Ber­nays 1928: »Unse­re Demo­kra­tie muss von einer intel­li­gen­ten Min­der­heit geführt wer­den, die weiß, wie man die Mas­sen lei­tet und lenkt.«

Natür­lich gibt es in dem Pro­zess der Beein­flus­sung durch Mani­pu­la­ti­on und Pro­pa­gan­da Hel­fers­hel­fer, zu denen ein Teil der mei­nungs­bil­den­den Pres­se gehört. Wäh­rend wir in allen Ein­zel­hei­ten über Krank­heits­sym­pto­me des »Kreml-Kri­ti­kers« Nawal­ny unter­rich­tet wer­den, schwei­gen sich die mei­sten Medi­en über den Wiki­leaks-Jour­na­li­sten Juli­an Assan­ge aus. Er hat Kriegs­ver­bre­chen der west­li­chen Vor­macht USA auf­ge­deckt und wird dafür seit über einem Jahr­zehnt von staat­li­chen Insti­tu­tio­nen der bür­ger­li­chen Demo­kra­tien Schwe­den, Eng­land, Ecua­dor und USA ver­folgt, ver­leum­det, mit dem Tode bedroht. Hät­te nicht der UN-Son­der­be­auf­trag­te für Fol­ter, Nils Mel­zer, gegen alle Wider­stän­de der Insti­tu­tio­nen genaue Unter­su­chun­gen ein­ge­lei­tet, wären die Staats­ver­bre­chen nicht bekannt – gesühnt wer­den sie ohne­hin nicht.

Nei­gen wir inzwi­schen nicht dazu, all die Mor­de und Ter­ror­an­schlä­ge, Todes­li­sten und -dro­hun­gen von Neo­na­zis schul­ter­zuckend zur Kennt­nis zu neh­men und das Mär­chen über angeb­li­che Ein­zel­tä­ter zu schlucken? Liegt es an Bequem­lich­keit, Gewöh­nung oder Ohn­macht, dass die Mehr­heit der deut­schen Bevöl­ke­rung das trans­at­lan­ti­sche Nar­ra­tiv über das macht­be­ses­se­ne und gewalt­be­rei­te Russ­land oder die angeb­lich fried­li­che Revo­lu­ti­on für Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit in der Ukrai­ne wider­spruch­los hin­nimmt? Ver­öf­fent­licht, gepusht, pro­mi­nent plat­ziert wer­den Infor­ma­tio­nen, die das trans­at­lan­ti­sche Gut-Böse-Nar­ra­tiv bedienen.

Die All­ge­gen­wart der Beein­flus­sung und Mani­pu­la­ti­on bleibt nicht ohne Fol­gen für die Gesell­schaft und die Men­schen. Ver­trau­en in die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen schwin­det, die Glaub­wür­dig­keit von Nach­rich­ten bröckelt, denn die Men­schen erfah­ren eine Belie­big­keit von »Wahr­heit«, ver­bun­den mit dem Gefühl von Ohn­macht und Kon­troll­ver­lust. »Ver­trau­ens­ver­lust und desta­bi­li­sier­te Wirk­lich­keit machen die Men­schen (…) emp­fäng­lich für Junk-Infor­ma­ti­on, Kon­trol­le und Füh­rung.« Aber all das ist ja nichts Neu­es. Die Mit­her­aus­ge­be­rin des Ban­des, Almuth Bru­der-Bez­zel, zitiert noch ein­mal den »Vater der Pro­pa­gan­da« Edward Ber­nays: »Die bewuss­te und ziel­ge­rich­te­te Mani­pu­la­ti­on der Ver­hal­tens­wei­sen und Ein­stel­lun­gen der Mas­sen ist ein wesent­li­cher Bestand­teil demo­kra­ti­scher Gesell­schaf­ten.« Was vor fast hun­dert Jah­ren geschrie­ben wur­de, gilt in den markt­kon­for­men Demo­kra­tien wei­ter; dies zu zei­gen ist ein Ver­dienst des Buches.

Der Israe­li Mos­he Zucker­mann, sen­si­bi­li­siert durch Erfah­run­gen in sei­nem Land, warnt ein­dring­lich: »Das nahen­de Unglück beginnt kaum je mit einem hef­ti­gen Pau­ken­schlag, kaum je sen­sa­tio­nell. Es schleicht sich eher unauf­fäl­lig her­an, wahrt den Schein von Rou­ti­ne und Nor­ma­li­tät – so, genau­so (…) ent­fal­tet er sich, der Faschismus.«

Almuth Bru­der-Bez­zel, Klaus-Jür­gen Bru­der (Hg.): Macht. Wie die Mei­nung der Herr­schen­den zur herr­schen­den Mei­nung wird. West­end Ver­lag 2021. 250 S., 22 . (Der Ver­fas­ser der Bespre­chung ist einer der AutorIn­nen des Bandes.)