Die systematische Begrenzung und Kontrolle wirtschaftlich-politischer Macht als Grundlage der Demokratie bleibt auf der Tagesordnung. In einer marktkonformen, bloß formalen Demokratie versucht die Machtelite, die Loyalität der Bevölkerung (erst mal) ohne Gewalt, aber mit einem Arsenal an Methoden der Meinungsmache zu gewinnen. Was eine nähere Betrachtung enthüllt, zeigen 15 sachkundige AutorInnen in einem jüngst erschienenen Buch: »Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird.«
In aller Klarheit (und Brutalität) finden wir im Bürgerlichen Gesetzbuch das juristische Fundament einer Klassengesellschaft ausformuliert. Die wenigsten kennen etwa den Paragrafen 611a: »Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.« Damit es alle merken: Die Mehrheit der Bevölkerung ist unfrei, fremdbestimmt, weisungsgebunden und persönlich abhängig von einer kleinen Minderheit von KapitalistInnen. Welche Grundrechte gelten nach Maßgabe dieses BGB-Paragrafen?
Der Band enthält einen »Diskurs der Macht in Zeiten von Corona«, beleuchtet den »neoliberalen Zwang der Verhältnisse«, befasst sich mit »Meinungslernen in der Schule« und »Prägung durch Konsum«: Die herrschende Meinung wird auf vielfältige Weise in den Köpfen verankert. Das zu behaupten, ist keine Verschwörungstheorie (auch zu diesem politischen Kampfbegriff gibt es einen Beitrag); in seinem wegweisenden Buch »Propaganda« schrieb Edward Bernays 1928: »Unsere Demokratie muss von einer intelligenten Minderheit geführt werden, die weiß, wie man die Massen leitet und lenkt.«
Natürlich gibt es in dem Prozess der Beeinflussung durch Manipulation und Propaganda Helfershelfer, zu denen ein Teil der meinungsbildenden Presse gehört. Während wir in allen Einzelheiten über Krankheitssymptome des »Kreml-Kritikers« Nawalny unterrichtet werden, schweigen sich die meisten Medien über den Wikileaks-Journalisten Julian Assange aus. Er hat Kriegsverbrechen der westlichen Vormacht USA aufgedeckt und wird dafür seit über einem Jahrzehnt von staatlichen Institutionen der bürgerlichen Demokratien Schweden, England, Ecuador und USA verfolgt, verleumdet, mit dem Tode bedroht. Hätte nicht der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, gegen alle Widerstände der Institutionen genaue Untersuchungen eingeleitet, wären die Staatsverbrechen nicht bekannt – gesühnt werden sie ohnehin nicht.
Neigen wir inzwischen nicht dazu, all die Morde und Terroranschläge, Todeslisten und -drohungen von Neonazis schulterzuckend zur Kenntnis zu nehmen und das Märchen über angebliche Einzeltäter zu schlucken? Liegt es an Bequemlichkeit, Gewöhnung oder Ohnmacht, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung das transatlantische Narrativ über das machtbesessene und gewaltbereite Russland oder die angeblich friedliche Revolution für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine widerspruchlos hinnimmt? Veröffentlicht, gepusht, prominent platziert werden Informationen, die das transatlantische Gut-Böse-Narrativ bedienen.
Die Allgegenwart der Beeinflussung und Manipulation bleibt nicht ohne Folgen für die Gesellschaft und die Menschen. Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet, die Glaubwürdigkeit von Nachrichten bröckelt, denn die Menschen erfahren eine Beliebigkeit von »Wahrheit«, verbunden mit dem Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust. »Vertrauensverlust und destabilisierte Wirklichkeit machen die Menschen (…) empfänglich für Junk-Information, Kontrolle und Führung.« Aber all das ist ja nichts Neues. Die Mitherausgeberin des Bandes, Almuth Bruder-Bezzel, zitiert noch einmal den »Vater der Propaganda« Edward Bernays: »Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.« Was vor fast hundert Jahren geschrieben wurde, gilt in den marktkonformen Demokratien weiter; dies zu zeigen ist ein Verdienst des Buches.
Der Israeli Moshe Zuckermann, sensibilisiert durch Erfahrungen in seinem Land, warnt eindringlich: »Das nahende Unglück beginnt kaum je mit einem heftigen Paukenschlag, kaum je sensationell. Es schleicht sich eher unauffällig heran, wahrt den Schein von Routine und Normalität – so, genauso (…) entfaltet er sich, der Faschismus.«
Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder (Hg.): Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Westend Verlag 2021. 250 S., 22 €. (Der Verfasser der Besprechung ist einer der AutorInnen des Bandes.)