Das Lied Martin Luthers bezeichnete Heinrich Heine als »Marseiller Hymne der Reformation«, Friedrich Engels als »Marseillaise der Bauernkriege«. In Zeiten äußerer Bedrängnis oder zum Bekenntnis des eigenen Glaubens wurde es von Protestanten gesungen. Gemeint ist das Lied mit den Worten Martin Luthers:
»Ein feste Burg ist unser Gott, / ein gute Wehr und Waffen. / Er hilft uns frei aus aller Not, / die uns jetzt hat betroffen. (…) / Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen.«
Vierhundert Jahre nach Luther wurden für viele Menschen diese Worte von ähnlicher Kraft spendender Bedeutung: »Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.«
Dieser Schwur der 21.000 überlebenden Häftlinge des KZ Buchenwald vom 19. April 1945 wird oft in den Worten zusammengefasst: »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« Doch keines dieser sechs Wörter kommt in dem Schwur vor. Darin ist vom Frieden, der Freiheit, der Vernichtung des Nazismus die Rede. Der Krieg war noch nicht zu Ende. Daher heißt es in der Einleitung zu dem Schwur: »Noch wehen Hitlerfahnen! Noch leben die Mörder unserer Kameraden! Noch laufen unsere sadistischen Peiniger frei herum!«
Einer davon wurde nun 77 Jahre danach als einstiger Wachmann des KZ Sachsenhausen, als »willfähriger Helfer der Täter«, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ein 101 Jahre alter Mann. Herbert Quandt war aber kein willfähriger Helfer, sondern aktiver Täter. Er und seine Familie blieben nach 1945 straffrei. Ihr heutiges Vermögen beruht auf der Ausbeutung und Ermordung von tausenden Zwangsarbeitern.
Jetzt ist ein Buch erschienen, das daran erinnert: »Braunes Erbe« von David de Jong. Daraus geht hervor: »Nach der von ihnen mit vorangetriebenen Zerstörung der Weimarer Republik 1933 haben Quandt, Flick, Finck, Porsche und Richard Kaselowsky vom Oetker-Konzern zwölf Jahre lang immer schneller an Aufrüstung und ›Arisierung‹ verdient. Alle waren sie Mitglied in Himmlers ›Freundeskreis Reichsführer SS‹ und der NSDAP.« So berichtet es Sebastian Schröder in einer Rezension von »Braunes Erbe«, und fährt fort: »1.016 Menschen wurden im April 1945 Opfer eines grausamen Verbrechens (der Quandts) in Gardelegen. Bei dem Nazimassaker wurden KZ-Häftlinge lebend in einer Feldscheune verbrannt. Einge, die sich vor dem Feuer retten konnten, wurden sofort erschossen, nur ganz wenige überlebten.« Die Opfer kamen aus einem AFA-Batteriebetrieb der Quandts aus Hannover.
Leute wie Quandt waren gemeint, wenn in dem Schwur von der Beseitigung des Nazismus mit seinen Wurzeln die Rede war. Der Begriff von den Wurzeln hat für einige Zeit dazu geführt, dass Verfassungsschutzbehörden, einst gegründet von Nazitätern, eine ganz abstoßende Hervorbringung schufen. Sie stellten den Schwur von Buchenwald als verfassungfsfeindlich dar. Denn mit den »Wurzeln« seien die demokratischen Grundlagen unseres Staates gemeint gewesen und die seien kapitalistisch. Der Kapitalismus ist jedoch nicht Bestandteil des Grundgesetzes, wie ein Urteil des Bunderfassungsgerichts vom 20. Juli 1954 bekräftigt, das noch immer gilt. Die Verfassungsfeindlichkeit der Kapitalismuskritik ist also nicht gegeben, von ihr geht die Regierung jedoch in unserem Lande noch immer aus. Nie wirklich aufgehoben wurde die »Extremismusklausel« einer CDU-Familienministerin Schröder aus dem Jahr 2010, die von Förderungsempfängern und Bewerbern zum öffentlichen Dienst eine Absage des »Extremismus« verlangt.
Die antifaschistische Kapitalismuskritik ist – wie gesehen – nicht verfassungsfeindlich, aber keinesfalls Voraussetzung für den Antifaschismus.
Georg Fülberth erklärte im Jahr 2015 in einem Vortrag: »›Kapitalismus führt zum Faschismus – Kapitalismus muss weg!‹ So lautete ein Slogan der 1968er-Bewegung in der Bundesrepublik. Er benennt eine Möglichkeit: Der Kapitalismus kann zum Faschismus führen, (das) ist aber keine Zwangsläufigkeit. Es gibt auch nichtfaschistischen Kapitalismus (…). Wer meint, gegen Faschismus könne nur gekämpft werden, wenn zugleich ›der Kapitalismus‹ beseitigt werde, verurteilt sich gegenwärtig, da der Kapitalismus nahezu weltweit gesiegt hat, zum Nichtstun. Dann wäre aktueller Antifaschismus nur eine Sache z. B. von Bürgerlichen und Christen, die das Nötige gegen Faschismus zu tun versuchen, auch wenn dadurch der Kapitalismus nicht verschwindet. Den Antikapitalisten bliebe da ausschließlich Däumchen-drehen.«
Mahnend führte Fülberth weiter aus: »Eine solche Haltung wäre sektiererisch. So verhielt sich leider ab 1929 die KPD, die meinte, es gebe nur noch die Alternative zwischen Faschismus und Sozialismus, und wer in einer solchen Situation an der Verteidigung der bürgerlichen Republik festhalte, wie z. B. die SPD, fördere objektiv den Faschismus, der nur durch die sozialistische Revolution (…) zu verhindern sei. Dadurch wurde die Zusammenarbeit mit bürgerlichen und sozialdemokratischen Antifaschistinnen und Antifaschisten unmöglich.«
Andererseits ist vom völligen Ausklammern der Kapitalismuskritik aus dem antifaschistischen Diskurs ebenfalls abzuraten. Erinnert sei an die antikapitalistischen Aussagen von SPD und CDU in der Zeit nach 1945. Diese besagten zwar nicht, dass die Wurzeln des Faschismus im Kapitalismus allein lägen – das war ja auch nicht mit dem Schwur von Buchenwald gemeint –, aber es wurde doch betont, dass »der Kapitalismus den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden« sei. Es war allgemeine Erkenntnis, dass auch der Militarismus zu bekämpfen sei, der in den Krieg führte. »In der Hoffnung auf eine Belebung der Wirtschaft unterstützten ihn (den Nazismus) auch namhafte Industrielle mit großen geldlichen Zuwendungen« (Geschichte der neusten Zeit, von 1850 bis zur Gegenwart, Ernst Klett Verlag Stuttgart 1953, S. 146).
Derartige Erkenntnisse werden heute nicht mehr in der offiziellen politischen Bildungsarbeit verbreitet. Wir haben in Ossietzky Nr. 10/22 auf die heutzutage seltene Aussage hingewiesen, die auf das Interesse der Schwerindustrie an Faschismus und Krieg verweist. Heute wissen wir, dass diese Aussage auch aus der Gedenkstätte Steinwache in Dortmund verschwinden soll. Sie passt nicht in eine Zeit, da der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil, der offenbar kein Geschichtsbuch besitzt, erklärte: »Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle«; diese Rolle bestehe darin, eine auch militärische »Führungsmacht« zu sein. Das sagte er einen Tag vor dem 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR. Dieser Überfall steigerte sich vor 80 Jahren in einer Offensive der Hitlerwehrmacht zur Eroberung der kaukasischen Erdölgebiete und in den Mord an Millionen jüdischen Menschen. Die »deutsche Zurückhaltung« setzte sich dann noch drei Jahre lang fort. 27 Millionen Tote allein in der UdSSR waren Opfer der faschistischen »Zurückhaltung«. Selbst wenn Klingbeil nicht 80 Jahre, sondern 77 Jahre zurückblicken wollte, so sei er daran erinnert, dass die deutsche Zurückhaltung bereits 1999 mit Bomben auf Belgrad ihr Ende fand.
Möchte er nun statt Zurückhaltung den andauernden militärischen Konflikt? Der SPD-Vorsitzende hatte erst kürzlich betont, mit Russland sei keine Friedensordnung möglich. Und Kanzler Scholz sieht es ähnlich, wie im Bundestag zu vernehmen war. Jetzt wissen wir, was die Zeitenwende bedeutet: Nie wieder Krieg ohne Deutschland an der Spitze. Kurzfristig heißt das, im Winter zu frieren, um Putin zu besiegen. Langfristig: Am deutschen Wesen soll wieder mal die Welt genesen.
Lars Klingbeil gehört zu den Politikern, die nicht nur auf Lobbyisten hören, sondern selbst Lobbyarbeit im Interesse der Rüstungsindustrie betreiben. Ja, die Lobbyisten der Rüstungsindustrie sitzen direkt im Bundestag. Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und Fürsprecherin von Waffenexporten größten Ausmaßes für den Ukrainekrieg, sitzt im Präsidium des »Förderkreises Deutsches Heer«. »In dem Kreis arbeitet die Frau mit Vertretern von Lockheed Martin, ThyssenKrupp, Airbus, Daimler, Rheinmetall, Krauss-Maffei-Wegmann, der Waffenschmiede Diehl und der französischen Thales-Gruppe zusammen«, berichtet am 9. Mai 2022 die Schweriner Volkszeitung und fährt fort: »In der ›Gesellschaft für Wehrtechnik‹ ist Strack-Zimmermann ebenfalls im Präsidium, in der ›Bundesakademie für Sicherheitspolitik‹ im Beirat.« Der Verein LobbyControl erklärte: Die Gesellschaft für Wehrtechnik und der Förderkreis Deutsches Heer seien »von der Rüstungsindustrie stark beeinflusste Organisationen«, es sei kritisch zu sehen, dass dort Abgeordnete des Bundestages leitende Funktionen übernehmen.
Die Gipfel von EU, G7 und Nato, die hinter uns liegen, haben leider keine Absage an Scholz und Klingbeil gebracht. Es soll nie wieder so werden wie vor dem Krieg Putins, sagte Scholz. Wir werden also nicht wirklich Frieden bekommen, keine Lösungen für die Klimakrise, die Inflation, die Pandemie und die weltweite Hungerkrise. Der G7-Gipfel sagte der Welthungerhilfe 4,5 Milliarden Dollar zum Kampf gegen den Hunger zu, dem heute Millionen Menschen ausgeliefert sind. Doch diese Mittel der G7 für die globale Ernährung seien – so die Welthungerhilfe – viel zu gering. Das Welternährungsprogramm erfordere 21,5 Milliarden Dollar. Es fehle zudem ein Schuldenerlass. Auf jeden Dollar an Hilfsgeldern kämen zwei Dollar, die einkommensschwache Länder an ihre Gläubiger zahlen müssten.
Um zu den eingangs genannten Hymnen eine weitere hinzuzufügen, die als »Internationale« wiederbelebt werden sollte, sei dies den Armen der Welt anempfohlen: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, / die stets man noch zum Hungern zwingt! / Das Recht wie Glut im Kraterherde / nun mit Macht zum Durchbruch dringt. / Reinen Tisch macht mit den Bedrängern! / Heer der Sklaven, wache auf! / Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger / Alles zu werden, strömt zuhauf!«