Ich erlebte Igor Levit im Konzertsaal vor einigen Jahren bei seiner Aufführung von Frederic Rzewskis 36 Variationen über »El Pueblo unido jamas sera vencido«. Da stand dieser junge Mann, der eben noch die Goldstein-Variationen von Bach ohne alle Allüren mit einer unglaublichen Leichtigkeit durch den Konzertraum hatte perlen lassen, und erklärte den Hörern, dass Rzewski immer 5 Variationen (dabei zeigte er die fünf Finger seiner rechten Hand) in einer sechsten zusammenfasse (dabei ballte er langsam und sehr bewusst die Finger zur Faust), und das Konzertpublikum hielt den Atem an. Mit dieser Geste hatte er allen gezeigt: Er ist ein linker Überzeugungstäter, der das Werk eines Kommunisten spielte, mit dem dieser nach dem Putsch in Chile der vom Militär besiegten Unidad Popular ein musikalisches Denkmal gesetzt hatte. Und nachdem Igor Levit alle emotionalen Tiefen und Höhen dieses – auch pianistisch – ungeheuren Werks durchlitten hatte, spielte er in der 36. Variation mit einer nicht zu widerlegenden Gelassenheit das Thema, das in Sprache übersetzt lautet: Ja, das vereinte Volk wird nie unterliegen! Ohne Auftrumpfen, geradezu wissenschaftlich abgeklärt.
Damals schon war klar: Igor Levit ist nicht nur ein Pianist, der genau weiß, was er spielt, er hat auch eine Haltung, die bei Musikern ziemlich selten ist.
Nun habe ich voller Spannung das Buch »Hauskonzert« gelesen, das der Journalist Florian Zinnecker auf Grund von Gesprächen mit Igor Levit geschrieben hat. Und ich bin nicht enttäuscht worden. Levit hatte mit Beginn des ersten Lockdowns, als die Absagen seiner Konzerte kamen, spontan »Hauskonzerte« organisiert über Twitter. Jeden Abend um 19.00 Uhr konnten seine Follower dabei sein, wenn er zu Hause auf seinem Flügel spielte – die technische Qualität der Aufnahme mangelhaft, die emotionale Qualität des Erlebnisses wunderbar. Ihn hat das, laut eigener Aussage, gerettet vor der Depression, seinen Zuhörern hat es geholfen, die Einsamkeit und den Mangel an kulturellen Erlebnissen zu überstehen.
Igor Levit lebt in Deutschland seit seinem achten Lebensjahr. Seine Eltern waren sich sicher, seine Hochbegabung, die gepaart war mit Sturheit und einem eigenen Kopf, in Russland nicht genug fördern zu können. Er passte einfach nicht in die »Wunderkind«-Schublade. An der Musikhochschule Hannover fand er die Lehrer, die er brauchte, jetzt ist er selbst dort Professor. Aber seine Karriere war nicht geradlinig steil nach oben, er fand lange keine Dirigenten, keine Konzertagenten, die ihn förderten. Dass er eine Jahrhundertbegabung ist, fiel vielen rasch auf, aber vermarktbar und anpassungsfähig war und ist er nicht. Aber es kommt in seinem Fall noch etwas hinzu: Ein Zufallsbekannter, dem er seine Lage schilderte, erklärte ihm das so: »Sie sind zwar in Deutschland aufgewachsen. Aber Sie dürfen nie vergessen, dass Sie zu einer Bevölkerungsgruppe gehören, die zwar hier lebt, deren Anwesenheit hier aber nicht mehr vorgesehen war.« Dieser Antisemitismus, der ihm und allen anderen jüdischen Menschen das Lebensrecht in Deutschland abspricht, hat ihn geprägt. Igor Levit kämpft an gegen Hass, der auch ihm entgegenschlägt. Nicht nur auf Twitter und wegen seiner politischen Haltung. Ein bekannter Musikkritiker schreibt Verrisse seiner Konzerte, Tenor: Levit setze sich nur in Pose, er empfinde nicht wirklich, was er spielt. Genauso schrieb Richard Wagner über »das Judenthum in der Musik«.
Diese Stelle kommt erst spät im Buch, sie nimmt beim Lesen geradezu den Atem, und sie lässt den Abgrund spüren, über dem Igor Levit spielt. Florian Zinnecker beschreibt Situationen, die er mit Igor Levit erlebt, er schreibt über Gespräche mit ihm, Geschichten über ihn, es ist keine »ordentliche« Biografie, er lässt das Gesagte und Erlebte sprechen, man wird als Leser hineingezogen in den Dialog mit diesem Aktivisten, Pianisten, Twitterer und Träger des Bundesverdienstkreuzes. Eine Parforce-Tour durch ein Leben, so wie Igor Levit Parforce-Touren durch die Klavierliteratur spielt. Atemberaubend und bereichernd.
Igor Levit und Florian Zinnecker: Hauskonzert, Hanser Verlag, April 2021, 256 Seiten, 24 €.