Am 10. Januar 1937 notierte Victor Klemperer in seinem Tagebuch: »Vielleicht kommt der Krieg, der alle Tage näher droht.« Klemperer dachte dabei an eine mögliche Ausweitung des Spanischen Bürgerkriegs, in dem Deutschland an der Seite italienischer und spanischer Faschisten Kriegspartei war. Er dachte an das »Raubtiergeschrei nach Kolonien«, an das Toben gegen »Rußland-Juda« und an den deutsch-polnischen Konflikt um Danzig, das formell ein Freistaat war, sich jedoch immer mehr als Teil Deutschlands sah. Doch der Krieg kam 1937 nicht, und die Danziger Bevölkerung konnte erst 1939 »heim ins Reich«.
Das Jahr 1937 war, politisch gesehen, so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Deutschland hatte im Vorjahr mit der Ausrichtung der Olympiade in Berlin um internationale Anerkennung gebuhlt, jetzt machte Mussolini seinen Antrittsbesuch. Unübersehbar war, wie Deutschland sich in den vier Hitler-Jahren verändert hatte. Die Nationalsozialisten hatten ihre Macht konsolidiert. Die Bevölkerung hatte sich weitgehend den neuen Gegebenheiten angepasst, sie mit hocherhobener rechter Hand willkommen geheißen, und absolvierte unter Anweisungen von Haus- und Blockwarten eifrig Luftschutzübungen.
Dieses Jahr 1937 ist Handlungszeitraum von Transatlantik, dem im Oktober erschienenen neunten Band der Gereon-Rath-Romane von Volker Kutscher, dem vorletzten der auf zehn Bücher angelegten Reihe. Die Bände 1 und 2 haben die literarische Vorlage für das TV-Ereignis »Babylon Berlin« geliefert. Erneut ist Kutscher ein Pageturner gelungen: sauber recherchiert, mit genauem Blick auf das pathologische Verhalten der Deutschen, voller überraschender Wendungen. Drei Abende habe ich für die 588 Seiten gebraucht, dann war ich mit dem äußerst spannenden Buch durch.
Protagonist des Bandes ist diesmal jedoch nicht wie bisher Kommissar Gereon Rath, die Hauptrolle fiel an seine Ehefrau Charlotte, genannt Charlie. Gereon musste untertauchen, verfolgt von den Spürhunden der SS und des SD, die nicht wahrhaben wollen, dass die offizielle Todesnachricht korrekt ist. Eigentlich hatte Charlotte Rath schon mit falschem Pass Deutschland verlassen, doch dann musste sie aus Prag zurück nach Berlin. Ihr ehemaliger Pflegesohn war in die geschlossene Abteilung einer Nervenheilanstalt eingewiesen worden, weil er zu viel wusste über einen Mord, in den die SS verwickelt war: ein Handlungsstrang aus Band 8. Charlie beginnt vor Gericht den Kampf um seine Freilassung. Und neben der Ungewissheit über das Schicksal ihres Mannes treibt sie noch die Sorge um ihre beste Freundin Greta um, die verschwunden und unter Mordverdacht geraten ist. Charlie, die bei der Kriminalpolizei Abschied nehmen musste, da Frauen dort neuerdings nicht mehr geduldet sind, beginnt zu ermitteln und gerät dadurch selbst in Lebensgefahr.
Die Spannung in dem Buch rührt auch daher, dass Kutscher in dem Vorgänger-Band Olympia zahlreiche lose Enden hinterlassen hat. Hier setzt Transatlantik nahtlos an. Im Mittelpunkt des stärksten offenen Handlungsstrangs steht Gereon Rath persönlich. Rath ist nach seiner Flucht aus Berlin in Wiesbaden untergetaucht, arbeitet für einen Winzer als Auslieferer und hat keinen Kontakt zu seiner Frau Charlotte. Als seine Tarnung auffliegt, muss er erneut fliehen. Mit Hilfe einer Komplizin schafft er es an Bord des Luftschiffs LZ 129, der »Hindenburg«. Der Zeppelin explodiert bei der Landung in Lakehurst/USA und wird durch das Feuer zerstört, so dass »man kaum glauben konnte, irgendjemand von den Passagieren oder der Mannschaft könnte entrinnen«. Mit diesem Cliffhanger hatte der achte Band geendet. Ich habe es vor zwei Jahren in Ossietzky beschrieben (23/2020).
Auch diesmal treibt die Handlung fulminant den dramatischen Konfrontationen entgegen, diesseits und jenseits des Atlantiks, wo Gereon Rath, der den Absturz überlebt hat, nach der Gesundung als Postbote arbeitet. Doch die Vergangenheit holt ihn ein. Der ehemalige SS-Gruppenführer und heimliche Gangsterboss von Berlin, Marlow (siehe den gleichnamigen Band 7 der Reihe), in dessen zwielichtige Gesellschaft Rath in Berlin geraten war, ist inzwischen in den USA eine Größe im Heroin-Geschäft. Er trachtet Rath und auch Charlie im fernen Berlin nach dem Leben, will Rache für den Tod seines Sohnes, für den er den früheren Kommissar verantwortlich macht – noch ein loser Strang aus Band 8. Überhaupt ist Rache ein zentrales Handlungsmotiv verschiedener Akteure. Und auch diesmal kommt es, wie schon in Band 8, Olympia, zu Situationen, in denen eigentlich »nichts mehr geht«, die aber von Kutscher schlüssig aufgelöst werden. Daher ist meine Empfehlung die gleiche wie vor zwei Jahren: Machen Sie sich ein paar spannende Stunden, lesen Sie dieses Buch. Und als Zugabe erhalten sie en passant eine gehörige Portion Zeitgeschichte und Zeitkolorit.
Volker Kutscher: Transatlantik, Piper Verlag, München 2022, 588 S., 26 €.