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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Happy Birthday, BVerfG

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt fei­ert am 28. Sep­tem­ber 70. Geburts­tag. Als höch­stes Ver­fas­sungs­or­gan der Justiz gilt es als Hüter der deut­schen Ver­fas­sung, ins­be­son­de­re der Grund­rech­te der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. ATTAC Karls­ru­he wür­digt den Gerichts­hof, der gegen­über Bun­des­re­gie­rung und Bun­des­tag selb­stän­dig und unab­hän­gig ist, auf eige­ne Wei­se mit einem kri­ti­schen Rede­bei­trag und einer künst­le­ri­schen Per­for­mance (»Chor der Men­schen­rech­te«). Die Akti­on fin­det am 30. Sep­tem­ber um 16 Uhr auf dem Platz vor dem BVerG statt.

Über Jahr­zehn­te ist eine tie­fe Kluft ent­stan­den zwi­schen Arm und Reich, zwi­schen der Poli­tik und den Men­schen, zwi­schen garan­tier­ten Grund- und Men­schen­rech­ten und ihrer Ver­wirk­li­chung. Die­se Kluft hat Fol­gen für das Ver­trau­en in den Staat und für die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung. Und sie hat poli­ti­sche Ursa­chen, die wir ange­hen müssen.

Recht­zei­tig vor Beginn der Geburts­tags­fei­er­lich­kei­ten hat sich des­halb die Zeit­schrift Ossietzky in einem Son­der­heft (Heft 16/​17) des wich­ti­gen The­mas »Armut« ange­nom­men. Denn es bleibt gera­de in die­ser Hin­sicht viel zu tun für das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG). Die Rea­li­tät läuft dem Geist der Ver­fas­sung zuwi­der: In Deutsch­land wach­sen etwa drei Mil­lio­nen Kin­der in Armut auf. Ob sie ihr Grund­recht auf freie Ent­fal­tung ihrer Per­sön­lich­keit, ihr Recht auf Gesund­heit, Bil­dung und sozia­le Teil­ha­be wahr­neh­men kön­nen, hängt vom sozia­len Sta­tus ihrer Eltern ab. Ent­spre­chen sol­che Ver­hält­nis­se einem sozia­len Rechts­staat – oder einem Feu­dal­staat? Die sozia­le Lage der Fami­lie und die Her­kunft der Kin­der dür­fen nicht über ihre Lebens­chan­cen bestim­men! Die unter­schied­li­che Lebens­er­war­tung von Babys in einer wohl­ha­ben­den oder einer armen Fami­lie beruht nicht auf einem Natur­ge­setz, son­dern auf poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen – und es ent­spricht weder der Men­schen­wür­de noch dem Staats­ziel »sozia­ler Rechtsstaat«.

Der ehe­ma­li­ge Ver­fas­sungs­rich­ter Sieg­fried Broß hat­te vor Jah­ren gemahnt: Die Gesell­schaft bricht aus­ein­an­der, wenn nur ein Teil auf der Son­nen­sei­te des Lebens steht. Das Gemein­wohl dür­fe auf kei­nen Fall gleich­ge­setzt wer­den mit den Inter­es­sen einer Klas­se. Die staat­li­che Ord­nung müs­se des­halb den Macht­miss­brauch einer Klas­se der Besit­zen­den hem­men. Wir stel­len fest: Genau das pas­siert nicht! Das wis­sen alle, denn sie erle­ben es ständig.

Neh­men wir das The­ma Woh­nen. Laut Arti­kel 11 der wirt­schaft­lich-sozia­len und kul­tu­rel­len Men­schen­rech­te gibt es ein Men­schen­recht auf Woh­nen, eben­so laut Arti­kel 16 der Euro­päi­schen Sozi­al­char­ta. Wie viel sind denn die­se garan­tier­ten Rech­te wert, solan­ge sie nur auf dem Papier ste­hen, in der Rea­li­tät aber das Woh­nen dem Pro­fit­stre­ben von Immo­bi­li­en­spe­ku­lan­ten aus­ge­lie­fert wird – mit der bekann­ten Fol­ge, dass die Mie­ten für Fami­li­en mit Durch­schnitts­ein­kom­men unbe­zahl­bar wer­den? Das Glei­che gilt für die Gesund­heit, die zu einer Ware gemacht wird, mit fata­len Kon­se­quen­zen für Pati­en­ten und Personal.

Oder The­ma »Ren­ten«: Die Bun­des­re­gie­rung muss­te auf par­la­men­ta­ri­sche Anfra­gen hin immer wie­der zuge­be­nen, dass Mil­lio­nen von Men­schen mit ihrem Ver­dienst bei Wei­tem nicht die Grund­si­che­rung im Alter errei­chen. Eine Frau, die den der­zeit gül­ti­gen Min­dest­lohn von 9,60 Euro ver­dient, müss­te 55 Jah­re voll arbei­ten, um mit ihrer Ren­te auf die Grund­si­che­rung zu kom­men. Der Sozio­lo­ge Ste­fan Sell rech­net vor: Wenn sie »nur« 45 Jah­re durch­hält, müss­te der Min­dest­lohn heu­te schon bei 16,50 Euro lie­gen, um den Sozi­al­hil­fe­satz zu bekom­men. Mas­sen­haf­te Alters­ar­mut ist vor­pro­gram­miert für Mil­lio­nen – und poli­tisch gebil­ligt! Was hat das mit Gerech­tig­keit zu tun, wenn gleich­zei­tig die Zahl der Mil­lio­nä­re in Deutsch­land beson­ders stark auf 1,5 Mil­lio­nen ange­stie­gen ist? Vie­le Rei­che sind in der Pan­de­mie noch rei­cher gewor­den. Was sozia­le Ungleich­heit betrifft, gehört Deutsch­land bei 30 OECD-Län­dern zur abso­lu­ten Spitze.

Wir fra­gen das BVerfG: Wie tief darf die sozia­le Kluft in einem sozia­len Rechts­staat sein? Wie­viel Armut ver­trägt eine Demo­kra­tie? Ent­spricht Armut in einem rei­chen Land der Men­schen­wür­de und der Gleich­wer­tig­keit aller Men­schen? Sind die Inter­es­sen gro­ßer Kapi­tal­ver­mö­gen höher­wer­tig als das Gemein­wohl? Und: Von wem kön­nen wir die Ver­wirk­li­chung der Grund- und Men­schen­rech­te erwarten?

Die besten Ver­fas­sungs­ar­ti­kel nüt­zen nichts, wenn sie abstrak­te Rechts­prin­zi­pi­en blei­ben. Der Staats­recht­ler Her­mann Hel­ler, der im Faschis­mus Deutsch­land ver­las­sen muss­te, wies schon 1930 dar­auf hin: Wer­den die tat­säch­li­chen Macht­ver­hält­nis­se in einem Staat nicht berück­sich­tigt, dann wer­den nur die wirt­schaft­lich-poli­tisch Mäch­ti­gen ihre Rech­te und Inter­es­sen durch­set­zen. Des­halb hat die ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­samm­lung 1948 die Grund­sät­ze eines sozia­len Rechts­staa­tes beschlos­sen, nicht die eines bür­ger­lich-libe­ra­len wie in der Wei­ma­rer Repu­blik. Danach muss der Staat und muss auch das BVerfG dafür sor­gen, dass gesetz­lich und ver­fas­sungs­recht­lich fest­ge­leg­te Rech­te nicht nur for­ma­le Gül­tig­keit besit­zen; sie müs­sen viel­mehr real für alle Men­schen gelten.

Das BVerfG ist nach dem Gesetz ein »allen übri­gen Ver­fas­sungs­or­ga­nen gegen­über selb­stän­di­ger und unab­hän­gi­ger Gerichts­hof«. Also dürf­te es nicht zulas­sen, dass durch poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen die Besitz- und Macht­ver­hält­nis­se immer unge­rech­ter wer­den und eine Umver­tei­lung statt­fin­det – nicht nur von Ein­kom­men und Ver­mö­gen, son­dern auch von Mit­spra­che, Teil­ha­be und Lebens­chan­cen. Das BVerfG kann Nor­men set­zen. Das hat es, etwa beim The­ma infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung, auch getan. Wenn es in einem Staat mög­lich ist, eine Schul­den­brem­se in die Ver­fas­sung auf­zu­neh­men, dann müss­te es umso mehr mög­lich sein, eine Armuts­brem­se ver­fas­sungs­recht­lich fest­zu­le­gen. Wenn Quo­ten für Frau­en in Kon­zern­vor­stän­den beschlos­sen wer­den, müss­te es eben­so Quo­ten für Armut von allein­er­zie­hen­den Frau­en oder Rent­ne­rin­nen geben kön­nen. Ent­spre­chen her­kunfts­un­ab­hän­gi­ge Bil­dungs­ab­schlüs­se nicht dem Grund­ge­setz – ohne dass sie auch nur dis­ku­tiert wür­den? Bei CO2 wer­den drin­gend not­wen­di­ge Quo­ten und Fri­sten beschlos­sen, war­um nicht auch beim Nied­rig­lohn? Das BVerfG kann kei­ne Geset­ze beschlie­ßen, aber die Prin­zi­pi­en des sozia­len Rechts­staa­tes und die Umset­zung der Grund- und Men­schen­rech­te einfordern.

Wenn der sozia­le Rechts­staat nur in Reden gefei­ert, aber nicht ver­wirk­licht wird, ver­ant­wor­tet die poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Eli­te den Abbau der Demo­kra­tie, die all­seits beklag­te Ver­ro­hung (auch der Rei­chen), den Ver­lust des sozia­len Zusam­men­halts. Wer­den die Men­schen nicht als gleich­wer­tig respek­tiert und behan­delt, wächst eine gefähr­li­che Stim­mung. Ungleich­heit und Unge­rech­tig­keit zer­stö­ren das Zusam­men­le­ben. Das BVerfG kann und soll­te dafür sor­gen, dass Grund- und Men­schen­rech­te für alle ver­wirk­licht werden.