Das Bundesverfassungsgericht feiert am 28. September 70. Geburtstag. Als höchstes Verfassungsorgan der Justiz gilt es als Hüter der deutschen Verfassung, insbesondere der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. ATTAC Karlsruhe würdigt den Gerichtshof, der gegenüber Bundesregierung und Bundestag selbständig und unabhängig ist, auf eigene Weise mit einem kritischen Redebeitrag und einer künstlerischen Performance (»Chor der Menschenrechte«). Die Aktion findet am 30. September um 16 Uhr auf dem Platz vor dem BVerG statt.
Über Jahrzehnte ist eine tiefe Kluft entstanden zwischen Arm und Reich, zwischen der Politik und den Menschen, zwischen garantierten Grund- und Menschenrechten und ihrer Verwirklichung. Diese Kluft hat Folgen für das Vertrauen in den Staat und für die Stimmung in der Bevölkerung. Und sie hat politische Ursachen, die wir angehen müssen.
Rechtzeitig vor Beginn der Geburtstagsfeierlichkeiten hat sich deshalb die Zeitschrift Ossietzky in einem Sonderheft (Heft 16/17) des wichtigen Themas »Armut« angenommen. Denn es bleibt gerade in dieser Hinsicht viel zu tun für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Die Realität läuft dem Geist der Verfassung zuwider: In Deutschland wachsen etwa drei Millionen Kinder in Armut auf. Ob sie ihr Grundrecht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihr Recht auf Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe wahrnehmen können, hängt vom sozialen Status ihrer Eltern ab. Entsprechen solche Verhältnisse einem sozialen Rechtsstaat – oder einem Feudalstaat? Die soziale Lage der Familie und die Herkunft der Kinder dürfen nicht über ihre Lebenschancen bestimmen! Die unterschiedliche Lebenserwartung von Babys in einer wohlhabenden oder einer armen Familie beruht nicht auf einem Naturgesetz, sondern auf politischen Entscheidungen – und es entspricht weder der Menschenwürde noch dem Staatsziel »sozialer Rechtsstaat«.
Der ehemalige Verfassungsrichter Siegfried Broß hatte vor Jahren gemahnt: Die Gesellschaft bricht auseinander, wenn nur ein Teil auf der Sonnenseite des Lebens steht. Das Gemeinwohl dürfe auf keinen Fall gleichgesetzt werden mit den Interessen einer Klasse. Die staatliche Ordnung müsse deshalb den Machtmissbrauch einer Klasse der Besitzenden hemmen. Wir stellen fest: Genau das passiert nicht! Das wissen alle, denn sie erleben es ständig.
Nehmen wir das Thema Wohnen. Laut Artikel 11 der wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Menschenrechte gibt es ein Menschenrecht auf Wohnen, ebenso laut Artikel 16 der Europäischen Sozialcharta. Wie viel sind denn diese garantierten Rechte wert, solange sie nur auf dem Papier stehen, in der Realität aber das Wohnen dem Profitstreben von Immobilienspekulanten ausgeliefert wird – mit der bekannten Folge, dass die Mieten für Familien mit Durchschnittseinkommen unbezahlbar werden? Das Gleiche gilt für die Gesundheit, die zu einer Ware gemacht wird, mit fatalen Konsequenzen für Patienten und Personal.
Oder Thema »Renten«: Die Bundesregierung musste auf parlamentarische Anfragen hin immer wieder zugebenen, dass Millionen von Menschen mit ihrem Verdienst bei Weitem nicht die Grundsicherung im Alter erreichen. Eine Frau, die den derzeit gültigen Mindestlohn von 9,60 Euro verdient, müsste 55 Jahre voll arbeiten, um mit ihrer Rente auf die Grundsicherung zu kommen. Der Soziologe Stefan Sell rechnet vor: Wenn sie »nur« 45 Jahre durchhält, müsste der Mindestlohn heute schon bei 16,50 Euro liegen, um den Sozialhilfesatz zu bekommen. Massenhafte Altersarmut ist vorprogrammiert für Millionen – und politisch gebilligt! Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun, wenn gleichzeitig die Zahl der Millionäre in Deutschland besonders stark auf 1,5 Millionen angestiegen ist? Viele Reiche sind in der Pandemie noch reicher geworden. Was soziale Ungleichheit betrifft, gehört Deutschland bei 30 OECD-Ländern zur absoluten Spitze.
Wir fragen das BVerfG: Wie tief darf die soziale Kluft in einem sozialen Rechtsstaat sein? Wieviel Armut verträgt eine Demokratie? Entspricht Armut in einem reichen Land der Menschenwürde und der Gleichwertigkeit aller Menschen? Sind die Interessen großer Kapitalvermögen höherwertig als das Gemeinwohl? Und: Von wem können wir die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte erwarten?
Die besten Verfassungsartikel nützen nichts, wenn sie abstrakte Rechtsprinzipien bleiben. Der Staatsrechtler Hermann Heller, der im Faschismus Deutschland verlassen musste, wies schon 1930 darauf hin: Werden die tatsächlichen Machtverhältnisse in einem Staat nicht berücksichtigt, dann werden nur die wirtschaftlich-politisch Mächtigen ihre Rechte und Interessen durchsetzen. Deshalb hat die verfassungsgebende Versammlung 1948 die Grundsätze eines sozialen Rechtsstaates beschlossen, nicht die eines bürgerlich-liberalen wie in der Weimarer Republik. Danach muss der Staat und muss auch das BVerfG dafür sorgen, dass gesetzlich und verfassungsrechtlich festgelegte Rechte nicht nur formale Gültigkeit besitzen; sie müssen vielmehr real für alle Menschen gelten.
Das BVerfG ist nach dem Gesetz ein »allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof«. Also dürfte es nicht zulassen, dass durch politische Entscheidungen die Besitz- und Machtverhältnisse immer ungerechter werden und eine Umverteilung stattfindet – nicht nur von Einkommen und Vermögen, sondern auch von Mitsprache, Teilhabe und Lebenschancen. Das BVerfG kann Normen setzen. Das hat es, etwa beim Thema informationelle Selbstbestimmung, auch getan. Wenn es in einem Staat möglich ist, eine Schuldenbremse in die Verfassung aufzunehmen, dann müsste es umso mehr möglich sein, eine Armutsbremse verfassungsrechtlich festzulegen. Wenn Quoten für Frauen in Konzernvorständen beschlossen werden, müsste es ebenso Quoten für Armut von alleinerziehenden Frauen oder Rentnerinnen geben können. Entsprechen herkunftsunabhängige Bildungsabschlüsse nicht dem Grundgesetz – ohne dass sie auch nur diskutiert würden? Bei CO2 werden dringend notwendige Quoten und Fristen beschlossen, warum nicht auch beim Niedriglohn? Das BVerfG kann keine Gesetze beschließen, aber die Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und die Umsetzung der Grund- und Menschenrechte einfordern.
Wenn der soziale Rechtsstaat nur in Reden gefeiert, aber nicht verwirklicht wird, verantwortet die politische und wirtschaftliche Elite den Abbau der Demokratie, die allseits beklagte Verrohung (auch der Reichen), den Verlust des sozialen Zusammenhalts. Werden die Menschen nicht als gleichwertig respektiert und behandelt, wächst eine gefährliche Stimmung. Ungleichheit und Ungerechtigkeit zerstören das Zusammenleben. Das BVerfG kann und sollte dafür sorgen, dass Grund- und Menschenrechte für alle verwirklicht werden.