Was schon im März 2018 völlig klar war, steht auch jetzt, knapp ein Jahr später, außer allem Zweifel: Das Buch »Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955-2003« von Peter Hacks ist die wichtigste und bedeutendste Neuerscheinung des vergangenen Jahres im deutschsprachigen Raum. Der Band versammelt Essays, Artikel, Briefe, Analysen, Notate, Skizzen, Vorworte und Konspekte, die zum Teil aus dem Nachlass sowie vervollständigend aus diversen früheren Veröffentlichungen zusammengestellt sind. Die Herausgabe im Auftrag der Peter-Hacks-Gesellschaft Berlin hat der Goethe-Forscher Heinz Hamm geleistet. Er hat den Band auch mit einer glänzenden Einführung versehen. Und damit ist bereits gesagt, dass die Arbeit wissenschaftlich wie editorisch keinerlei Wünsche offenlässt – bis auf zwei.
Eine ähnlich umfangreiche und gehaltvolle Neuerscheinung originaler Hacks-Texte von solcher Relevanz kann es durch den 2003 erfolgten Tod des Dichters und Dramatikers nicht wieder geben. Der andere Wunsch allerdings dürfte in der Zukunft erfüllbar sein, denn Hamm konnte bei seiner Auswahl der Nachlass-Texte eben unmöglich Vollständigkeit erreichen, diese hätte den Umfang der Ausgabe gesprengt und fordert eine gesonderte publizistische Auswertung des Hacks-Nachlasses. Auch wünscht man sehr, den äußerst bedeutsamen Briefwechsel mit Kurt Gossweiler, der eine frühere und längst vergriffene Auswahl politischer Texte von Hacks komplettierte, bald auch und wieder in einer eigenen Edition haben zu können. Ach, schade ist auch, dass der schöne Brief an eine damals junge Kommunistin fehlt, den Hacks 1990 auf die Frage nach den Gründen für den Untergang der DDR schrieb. Zum Trost werden die in den »Marxistischen Hinsichten« aufgezählt.
Hacks‘ Bestandsaufnahme der Weltzustände ist keineswegs, wie man es von seinen Gedichten, Kindergeschichten und dergleichen gewohnt ist, erheiternd, doch immer aufschlussreich und anregend, bisweilen verstörend, manches zu Widerspruch, aber jedenfalls zu Nachdenken reizend. Sein schier unbestechlicher Blick, gnadenlos und durchdringend, befasst sich nicht mit dem Design der Dinge; deren moralische Betrachtung und Wertung ist ihm zuwider, und er entlarvt sie, wo immer er sie trifft, und zwar tödlich. Hacks fesselt wie gewohnt mit erhellender Klarheit, mit Witz und mit übersprudelndem Wissen. Hacks konnte nie anders: Alles geriet ihm zu Ästhetik, unter jeder Bedingung – und die ästhetischen Lektionen im Politischen sind nicht das Nebensächliche am Ganzen, die Realismusfrage wird erörtert, sie ist zentral für das Demokratieverständnis jeweiliger Gesellschaften. Keineswegs erschöpft sich das Interesse mithin im bloßen Nachverfolgen der Entwicklungsgeschichte des politischen Schreibens von Hacks, so spannend der Bogen, den diese Sammlung schlägt, für das Lebens- und Werkverständnis sein mag. Vielmehr sehen wir die Epoche gespiegelt, die Probleme des Realsozialismus in der Auseinandersetzung mit dem feindlichen Westen, die Kulturpolitik inmitten ökonomisch-politischer Spannungen, schließlich die Konterrevolution und die Restaurationsphase danach – betrachtet von hoher Warte aus, die diesem Denker von seiner enormen Geschichtskenntnis ermöglicht ist und von der aus er mit politischem Scharfsinn seine Überlegungen vorträgt.
Ich denke, es gibt nur wenig Literatur, die solch einen produktiven Einblick in die deutsch-deutsche Problematik eröffnet, das heißt zur Konfrontation der Weltmächte formuliert wurde – und nicht bloß aus einer (an)klagenden Traumperspektive heraus. Den gängigen Erzählungen, Legenden und Mythen steht das alles freilich quer. Unsere Gegenwartszeit und den Impuls zu seinen letzten theoretischen Arbeiten benennt Hacks in einem Vorwort-Entwurf so: »Die Jahre seit der Konterrevolution sind von solch quälender | erstickender Langeweile, daß in ihnen jede Möglichkeit zu Kunstproduktion abstarb, und ich zu dem einzigen Gegenmittel greifen mußte: diese Langeweile zum Gegenstand meines wissenschaftlichen Interesses zu machen. Zu denken übrig blieb allein die Frage: Warum ist sie so langweilig?« (S. 445)
Seine trefflichen Antworten plante Hacks zuletzt in einem Projekt mit dem Titel »Marxistische Hinsichten« systematisch zusammenzufassen, sein Tod unterbrach die Vorbereitungen, und Heinz Hamm hat aus dem Nachlass mit Weisheit entsprechend Wertvolles zu Tage gebracht. Diese Erstveröffentlichungen machen den zweiten Teil des Bandes aus, während der erste hauptsächlich aus verschiedenen Texten gebildet wird, von denen die meisten Hacks seinerzeit aus unterschiedlichen Anlässen publiziert hatte. Davon seien nur jene drei Texte erwähnt, die zu lesen ich heutigen Tags für schier unabweislich halte: insbesondere der Essay »Die Schwärze der Welt im Eingang des Tunnels« (1990), der die gegenwärtige Phase in ihren historischen Zusammenhang stellt, sowie die nicht minder hochaktuelle Polemik »Unter den Medien schweigen die Musen« (1989/90) über die anti-kulturelle Barbarei des bourgeoisen Rollbacks, das uns dämmert und wohl einst mit dem Untergang der Antike verglichen werden könnte, falls es solches Einst geben wird. Nicht zuletzt erwähnt sei das erst 2016 nach Tonbandprotokollen rekonstruierte Gespräch »Ich bin an Freiheit absolut uninteressiert«, das der österreichische Theatermann Frank Tichy 1992 mit Hacks führte und wo dieser den definitiven Satz zur DDR äußert: »Der Staat ist nicht gescheitert, der Staat ist durch eine Übereinkunft zwischen Moskau und Washington abgeschafft worden.« (S. 278) Wem solches drollig vorkommt, möge weiterlesen und tiefer.
Wer noch irgendetwas heute verstehen will von dem, was in der Welt geschieht, möchte diese Texte des unbeirrten Hacks gelesen haben. Der Band ist mit einem Lesebändchen ausgestattet – doch könnte er mindestens 500 davon aufweisen, um die bemerkenswertesten Stellen zu markieren. Ich bedaure Mitmenschen, die das in jeder Hinsicht marxistische Buch nicht lesen (können und oder wollen). Das Lese-Vergnügen und der geistige Gewinn der Lektüre wetteifern miteinander.
Beides lässt sich indes bereits heute steigern, indem man die ebenfalls im Eulenspiegel Verlag erschienenen »Gespräche mit Hacks 1963 – 2003«, die André Müller sen. aufgezeichnet hat, quasi parallel beziehungsweise abwechselnd als eine Art Äquivalent dazu liest. Ein erstaunliches Konvolut, mit dem der Freund die gemeinsamen Erkundungen des Seins und Schaffens dokumentiert. Am Ende versteht man beiläufig, was Hacks und Müller sen. in ihrer Sicht etwa zu Shakespeares Werk meinen – und inwiefern Staatswissen Voraussetzung für Drama ist beziehungsweise Drama die höchste politische Kunst. Es geht um Wesentliches, aber es wird weder im Spekulativen oder Schreckenston illuminiert noch modisch in zynischer Beliebigkeit vereist. Nicht der Konjunktiv ist Weg des Gedankens, sondern die dialektische Analyse. Zwei Bücher, die mit ihrer Realitätsspiegelung zusammengehören. Für jede weitere Beschäftigung mit Hacks und der Welt jedenfalls geben sie die Ausgangsbasis.
Obendrein ist übrigens auch die von Hacks selber getroffene Auswahl »Hundert Gedichte« im selben Verlag jüngst neu erschienen – angemessen in einem Goldumschlag.
Das Fazit von Hacks klingt so: »Es gibt auch heute ›nur zwei Parteien‹, die des Imperialismus und die des Sozialismus, (und der Satz würde auch an dem Tag nicht aufhören, wahr zu sein, an welchem China, Kuba, Vietnam und Nordkorea ins Meer gesprengt oder der Weltbank unterstellt wären).« Wer das versteht, versteht auch die unsterbliche Heiterkeit und Komik der Gedichte und Kindergeschichten von Hacks. Und, worum es in unserer Zeit geht.
Heinz Hamm (Hrsg.), Peter Hacks: »Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955 – 2003«, 608 Seiten, 19,99 €; André Müller sen., Peter Hacks: »Gespräche mit Peter Hacks 1963-2003«, 464 Seiten, 24,80 €; Peter Hacks: »Hundert Gedichte«, 180 Seiten, 10 € – alle erschienen im Eulenspiegel Verlag