Beginnen wir mit einem kleinen Quiz. Von wem stammen die folgenden Aussagen und Forderungen zur Außen- und Militärpolitik: von der amtierenden Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) oder der grünen Kandidatin für das Kanzlerinamt, Annalena Baerbock?
»Das Wichtigste ist derzeit, den Druck auf Russland zu erhöhen.«
Es gibt eine »klare russische Bedrohung«, der wir aus einer »Position der Stärke« begegnen müssen.
»Wir müssen erst über eine strategische Neuaufstellung (der Bundeswehr) sprechen, dann über die Ausgaben.«
Wir brauchen eine »Erneuerung der Bundeswehr«, eine »Modernisierung der Waffensysteme«.
Der Ostseepipeline Nord Stream 2 muss die »politische Legitimation entzogen« werden.
Ich bin »offen für ein Moratorium Nord Stream 2«.
Die Ukraine braucht eine Perspektive »in der EU und in der Nato«.
(Auflösung: Die Sprecherinnen wechseln sich ab, Baerbock hat begonnen.)
»Washington ist (…) in einen kleinen Baerbock-Hype verfallen«, schreibt das Handelsblatt (2.5.21). Kein Wunder: Eine politische Analyse einiger Interviews mit der grünen Kanzlerkandidatin zeigt in der Außen- und Militärpolitik eine grundlegende Übereinstimmung mit der derzeit vorherrschenden Praxis: Die wirtschaftliche Expansion Deutschlands und der EU muss militärisch unterfüttert werden. Der Feind steht im Osten – da hilft nur Druck und Härte, also weitere Aufrüstung und waffentechnische Modernisierung.
Diese Sicht auf die Welt, die wir aus vergangenen Jahrzehnten so gut kennen, wird durch Fakten nicht getrübt. Die kürzlich vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI veröffentlichten Rüstungsdaten müssten eigentlich nachdenklich stimmen. Die Militärausgaben haben mit 1981 Milliarden US-Dollar global einen Rekordwert erreicht, trotz der Mahnungen von UN-Generalsekretär António Guterres, sich statt dem Ausbau der Waffenarsenale der Bekämpfung der Pandemie zu widmen. Spitzenreiter sind die USA mit 778 Milliarden: knapp 40 Prozent aller Militärausgaben. Deutschland hat 2020 seine Rüstungsausgaben mehr als jeder andere Staat gesteigert – in den letzten zehn Jahren um 28 Prozent – großzügige Ausgaben, die den Tod von Menschen durch Kriege, Hunger oder behandelbare Krankheiten nicht nur in Kauf nehmen, sondern befördern.
Daran wollen die Grünen nichts ändern. Es überrascht daher nicht, dass die Hoffnungsträgerin der aufstrebenden grünen Macht in Deutschland von den meisten Medien wohlwollend begleitet wird: Für die vorherrschende Politik geht von ihr keine Gefahr aus. Frau Baerbock ist in transatlantischen Strukturen und Zirkeln fest verankert (etwa in der Lobbygruppe German Marshall Fund und dem Europa/Transatlantik-Beirat der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung); sie bekennt sich zur Nato als »zentralem Akteur« für die Sicherheit. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat sich erst im Januar pathetisch für Nato und Aufrüstung gegen Russland und China engagiert (vgl. IMI-Analyse 3/2021). Frau Baerbock vernetzt sich mit der jungen Elite des Weltwirtschaftsforums (Young Global Leaders). Auf ein »Hinausposaunen von Visionen« (gemeint ist die Friedensbewegung) verzichtet die Realpolitikerin gern. Und manchmal auch auf wahrheitsgemäße Feststellungen.
Denn wie könnte sie sonst behaupten: »Das Wichtigste ist derzeit, den Druck auf Russland zu erhöhen, damit das Minsker Abkommen (zur politischen Beilegung des Konfliktes in der Ostukraine, G. R.) eingehalten wird«? Sie übergeht nonchalant die Tatsache, dass es die Regierung der Ukraine ist, die das Minsker Abkommen ablehnt und eine militärische Lösung mit Hilfe des Westens sucht (vgl. Reiner Braun, »Ukraine: Stehen wir vor dem nächsten (großen) Krieg?« auf den NachDenkSeiten, 11.4.21). Übrigens führt die Nato zurzeit mit »Defender 21« das bislang größte Militärmanöver in Süd-Ost-Europa und der Schwarzmeerregion durch, mit rund 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 26 Ländern – einschließlich der Ukraine. Nach der offiziellen Nato-Planung ist bei dem Manöver die »Abwehr eines Angriffs aus dem Osten« die zentrale Herausforderung.
Baerbock möchte Deutschland in der Nato verankern. Sie befürwortet bewaffnete Drohnen. Nicht einmal die nukleare Teilhabe Deutschlands lehnt sie ab. Sie will den Industriestandort Deutschland ausbauen, natürlich im Rahmen der »Marktwirtschaft«. Die »Werte der liberalen Demokratien« (eine neue Formel für »westliche Wertegemeinschaft«) müssen nach ihr hochgehalten werden. Meint sie damit die zahllosen Kriege, die (a)soziale Kluft, die undemokratischen Freihandelsverträge, das Sterben der Flüchtlinge, die Macht der Konzerngiganten, die Zerrissenheit der Welt? Mit ihren Politikzielen lösen sich rot-grün-rote Koalitionsträume auf.
Wenn die Politologin Baerbock in der FAZ (23.1.21) schreibt: »Demokratie, Menschenrechte und eine rechtebasierte Weltordnung bilden die gemeinsame Wertebasis, auf der die Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA gründet«, denkt sie dann auch daran, wie der Krieg nach Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien gebracht wurde, im Namen der Menschenrechte? Unter welchen Bedingungen, mit welchen Zielen der Putsch in der Ukraine zustande kam? Welche Erfahrungen der Iran und all die Länder Südamerikas und Afrikas mit dieser rechtebasierten Weltordnung und der Politik des Regime Change gemacht haben? Oder Russland mit der Nato-Erweiterung? Denkt sie beim Einklagen der Menschenrechte (bei denen übrigens nie von den wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Menschenrechten die Rede ist!) an den Journalisten Assange, an Flüchtlingslager in der EU, an Drohnenangriffe der Nato? Nimmt sie eigentlich auch Kenntnis von den Kollateralschäden der »liberalen Demokratie« und der kapitalistischen »Marktwirtschaft«, also von Kinder- und Altersarmut, sozialer Ungleichheit und Ausbeutung von Mensch und Natur? Das Einfordern der Menschenrechte bekommt hier einen heuchlerischen Beiklang.
Der erstarkende grüne Machtanspruch findet in Teilen der Bevölkerung, die sich angewidert von den Machtspielen und Skandalen der Großen Koalition abwendet, Anklang – anderen macht er Angst. Denn zumindest die neue Führungsriege zeichnet sich nicht gerade nach der Suche nach einer friedlichen Welt aus. Wo sind die Konzepte für Abrüstung und für gewaltfreie Konfliktlösung, wo bleibt die Kritik des Militarismus, wo zeigt sich die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die »andere Seite« hineinzuversetzen? Imperiale Wirtschaftsstrategien und weltweite Militäreinsätze kennen die Menschen zur Genüge. Für eine neue Politik bedarf es zuerst einer gründlichen und aufrichtigen Analyse der historischen und sozialen Zusammenhänge von Kaltem Krieg, imperialer und neokolonialer Politik sowie der Rolle der USA, der EU und der Nato bei alledem. Darauf muss eine aktive Abrüstungs- und Friedenspolitik aufbauen.
Bei genauerer Betrachtung sieht das nette Gesicht der neuen grünen Macht deshalb in Wahrheit ganz schön alt aus.