Den Vater Paul Maar (82) lieben alle Kinder, seitdem er 1973 mit »Eine Woche voller Samstage« das respektlose Sams mit seinen roten Haaren, der Rüsselnase und den blauen Punkten im Gesicht auf die Familie Taschenbier losließ. Ein Dutzend weitere vergnügliche Abenteuer folgten. Dass Taschenbiers in der E.T.A.-Hoffmann-Straße wohnen, ist nur eine von vielen literarischen Anspielungen, die sich Paul M. erlaubte. Sie alle auszuloten, wäre eine Aufgabe für seinen Sohn Michael.
Michael Maar (60) ist Germanist und wie der Vater Schriftsteller. Darüber hinaus und vor allem aber hat er sich als Literaturkritiker einen Namen gemacht, gleichermaßen geschätzt und geehrt als Literatenflüsterer wie als Literatensezierer.
Wen hat er nicht alles mit der Zeit unter die Lupe genommen oder durch die Mangel gedreht. Marcel Proust zum Beispiel in »Proust Pharao«. Vladimir Nabokov und dessen »schöne böse Welt« – eine Welt, »die so abgründig ist, als würde sie nicht von Gott, sondern von einem bösen Demiurgen gelenkt« – in »Solus Rex«, der ersten deutschsprachigen Monografie über den Schriftsteller.
Vor allem aber ist Thomas Mann zu nennen. Als dieser 1928 von einer Frauenzeitschrift nach dem stärksten literarischen Eindruck seines Lebens befragt wurde, antwortete er: die Märchen von H. C. Andersen. Maar spürte in »Geister und Kunst« dieser Andeutung nach und entdeckte das »offene Geheimnis« des in Lübeck geborenen Dichters, »eines der dauerhaftesten Tabus der neueren Literarturgeschichte: die Darstellung der Liebe zwischen Männern«, wie es Hanjo Kesting in seinem Michael Maar gewidmeten Essay »Zauberer und Märchendichter« formuliert hat.
Die Märchen ließen Michael Maar nicht los. In »Hexengewisper« beschäftigte er sich mit der Frage, warum sie »unsterblich« sind. Dornröschen, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Andersens Seejungfrau erscheinen plötzlich in einem ganz anderen Licht und mit anderem Sinn. Für Kinder Eintritt verboten.
Märchenhaft klingt auch der Titel des neuesten Buches des Literaturforschers: »Die Schlange im Wolfspelz«. Auch hier geht es um etwas Verborgenes, um das »Geheimnis großer Literatur«. Zitieren wir aus dem Klappentext:
»Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Wer kann Dialog, wer nicht? Warum wird Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt? Warum bräche ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils weg? Warum ist Kafka ein Alien, und warum reicht nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heran?«
Und weiter: Wie macht es der Autor, die Autorin, welche stilistischen Instrumente werden eingesetzt? Wie gehen sie mit Metaphern um, wie mit Adjektiven? (Im Metaphorik-Kapitel enthüllt sich auch der Titel des Buches. Die »Schlange im Wolfspelz« ist eine verdrehte Redensart, vergleichbar der »Maske des Biedermeiers« oder »mit der Kirche ins Dorf fallen«.)
Fast 170 Seiten spürt Maar diesen Fragen nach, bevor er die Türen zu seiner Bibliothek aufstößt und ankündigt: »Diese Privatbibliothek hat große Lücken und ist von Vorlieben, Desinteressen und Abneigungen bestimmt.« Fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer zeigen: Dieses Buch ist Essenz und Quintessenz in einem, es ist das Haupt- und Lebenswerk eines Homme de Lettres, eines Agent Littèraire, der vierzig Jahre lang gelesen und gelesen hat und auf einen randvollen Zettelkasten zugreifen kann, bildlich gesprochen.
Doch schauen wir uns jene Lücken an, die sofort ins Auge fallen. Literaturlexika und Wikipedia mögen sich noch so bemühen, die Literaturnobelpreisträger Günter Grass und Heinrich Böll als die bedeutendsten und international geachtetsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit hervorzuheben. Für ihr literarisches Werk hat Maar nur Desinteresse übrig. Oder Spott, wenn er zum Beispiel Peter Sloterdijk den Dichter Gerhart Hauptmann einen »deutschen Repräsentanztölpel vom Dienst« nennen und fortfahren lässt, »bevor Günter Grass das Amt übernahm«. Siegfried Lenz ist noch nicht einmal im Register erwähnt.
In Maars Bibliothek gibt es keine Unterscheidung zwischen Hoch und Unterhaltungsliteratur: »Wer würde auf die einsame Insel Finnegans Wake mitnehmen, wenn im Köfferchen auch Platz für Harry Potter wäre?« (Maars Einschätzung dieses Bucherfolgs ist in »Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte« zu finden.)
Und weil die Unterscheidung zwischen E und U in Maars Bibliothek nicht stattfindet, »sei niemand überrascht, wenn wir uns einer Autorin zuwenden, die in den üblichen Literaturbetrachtungen fehlt«: Hildegard Knef. Verblüffung. Großzügig lässt Maar die Frage offen, ob sie einen Ghostwriter hatte – eine Frage, die ich persönlich für wesentlich erachte – aber: »Im Zweifelsfall für die Angeklagte.« (Solch einen Richter hätte sich wohl Franziska Giffey gewünscht.)
Die Knef ist auch heute noch als Schauspielerin bekannt, na ja, den Jüngeren vielleicht nicht mehr. »Unbekannt«, das schreibt Maar selbst, ist sie jedoch »als Virtuosin der Sprache«. Für ihn ist die Verfasserin des Memoiren-Bandes »Der geschenkte Gaul« eine »Erzählerin ersten Ranges«.
Dann aber kommt eine Textstelle, die viele Ossietzky-Leserinnen und -Leser verstören dürfte: »Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: Für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.« Sprach’s wie Luther und hakte die Schriftstellerin ab. Wie zuvor schon Grass und Böll und Lenz.
Dennoch, trotz dieser Anmerkungen, »Die Schlange im Wolfspelz« ist großes Kopfkino: Man kann das Buch aufschlagen, wo man will, jede Seite lädt dazu ein, Zeit und Raum zu vergessen. Wo auch immer man hineinliest: Wie ein Audioguide in einer Ausstellung dem Besucher den Zugang zu einem Gemälde eröffnet, so schafft es Maar, die literarischen Werke aufzuschlüsseln und aufzuschließen: in Stil und Form.
Wie nahe Maar am Ende aber tatsächlich dem Geheimnis großer Literatur gekommen ist, dem Zauber, der nicht nur dem Anfang innewohnt, das muss jede Leserin, jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz, Rowohlt Verlag 2020, 655 S., 34 €.