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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Griechenland und Polen lassen nicht locker

Gin­ge es nach der deut­schen Macht­eli­te, dann hät­te sich die Fra­ge der Kom­pen­sa­ti­on der aus dem Zwei­ten Welt­krieg her­rüh­ren­den mate­ri­el­len Zer­stö­run­gen und huma­ni­tä­ren Schä­den längst erle­digt. Jedoch zeigt die Ent­wick­lung der letz­ten Jah­re, dass sich zumin­dest zwei vom deut­schen Okku­pa­ti­ons­ter­ror betrof­fe­ne Län­der nicht von der­ar­ti­gen Abwehr­re­fle­xen abschrecken las­sen: Grie­chen­land und Polen.

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Im März 2015 ver­ab­schie­de­te das grie­chi­sche Par­la­ment eine Reso­lu­ti­on, in der es Deutsch­land ein­mal mehr zur Beglei­chung sei­ner Besat­zungs­schul­den und zur Ent­schä­di­gung der Jüdi­schen Gemein­de Thes­sa­lo­ni­ki auf­for­der­te. Kur­ze Zeit spä­ter teil­te der Rech­nungs­hof des Lan­des einem Par­la­ments­aus­schuss die Ergeb­nis­se eines Gut­ach­tens mit, das er zur Fra­ge der offe­nen deut­schen Kriegs­ent­schä­di­gun­gen erar­bei­tet hat­te. Das Gut­ach­ten selbst blieb geheim, wur­de jedoch wenig spä­ter von einer Athe­ner Tages­zei­tung als limi­tier­ter Son­der­druck ver­öf­fent­licht. Die Initia­ti­ve ver­san­de­te in den fol­gen­den Mona­ten auf­grund der Kapi­tu­la­ti­on der grie­chi­schen Regie­rung vor dem drit­ten »Troika«-Diktat im Juli 2015. Im Novem­ber 2015 berief das Par­la­ment einen wei­te­ren Aus­schuss ein. Er absol­vier­te drei­zehn Sit­zun­gen, bei denen die Opfer­ver­bän­de, das Natio­nal­ko­mi­tee zur Ein­for­de­rung der Ent­schä­di­gun­gen und juri­sti­sche Exper­ten­gre­mi­en gehört wur­den. Der Aus­schuss leg­te dem Par­la­ment Ende Juli 2016 sei­nen Schluss­be­richt vor. Der Bericht basier­te auf dem Gut­ach­ten des Rech­nungs­hofs, wies ihm gegen­über jedoch eini­ge Vor­zü­ge auf: Er bezog die indi­vi­du­el­le Ent­schä­di­gung für erlit­te­ne Kriegs­ver­bre­chen und Zwangs­ar­beit in die Gesamt­rech­nung ein und unter­brei­te­te kon­kre­te Vor­schlä­ge zum wei­te­ren Vor­ge­hen. Bis heu­te wur­de er jedoch weder ver­öf­fent­licht noch vom Par­la­ment ver­ab­schie­det. Im Febru­ar 2018 kün­dig­te Par­la­ments­prä­si­dent Nikos Vout­sis eine neue Initia­ti­ve an. Als Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er im Okto­ber 2018 Athen besuch­te, erin­ner­ten ihn die Grie­chen nur mit all­ge­mein gehal­te­nen Wen­dun­gen an die deut­schen Hypo­the­ken. Nach neue­sten Infor­ma­tio­nen soll der Schluss­be­richt nun im Janu­ar 2019 ver­ab­schie­det wer­den und eine regie­rungs­of­fi­zi­el­le Initia­ti­ve an die Ber­li­ner Adres­se einleiten.

Der­ar­ti­ge Samt­hand­schu­he brauch­ten sich die grie­chi­schen und die sie unter­stüt­zen­den deut­schen Basis­in­itia­ti­ven nicht anzu­le­gen. Im April 2015 ver­öf­fent­lich­ten die Jüdi­sche Gemein­de Thes­sa­lo­ni­ki und die deut­sche Bür­ger­initia­ti­ve »Zug der Erin­ne­rung« eine gemein­sa­me Erklä­rung, in der sie von der Deut­schen Bun­des­bahn – der Rechts­nach­fol­ge­rin der Deut­schen Reichs­bahn – die Rück­erstat­tung der Trans­port­ko­sten for­der­ten, die den in die Ver­nich­tungs­la­ger depor­tier­ten grie­chi­schen Juden abge­presst wor­den waren. Sie schei­ter­ten an der Intran­si­genz des Bahn­vor­stands und der Bun­des­re­gie­rung. Auch eine brei­te Unter­schrif­ten­kam­pa­gne bewirk­te nichts.

Par­al­lel dazu ent­schlos­sen sich Ein­zel­per­so­nen zum Han­deln. Auf­se­hen erreg­te eine Akti­on der ehe­ma­li­gen Par­la­ments­prä­si­den­tin Zoi Kon­stan­to­pou­lou: Sie stell­te sich im Juni 2017 dem deut­schen Bot­schaf­ter in den Weg, als er sich wäh­rend der Gedenk­fei­er für die Opfer des Mas­sa­kers von Dis­to­mo anschick­te, am Denk­mal einen Kranz nie­der­zu­le­gen. Eben­falls im Juni 2017 wur­de die 14. docu­men­ta in Kas­sel eröff­net. Sie stand unter dem Mot­to »Von Athen ler­nen«, um auf die Demü­ti­gung Grie­chen­lands durch die Troi­ka-Dik­ta­te auf­merk­sam zu machen. Die Grup­pe AK Dis­to­mo ver­an­stal­te­te am Rand der Auf­takt­ver­an­stal­tung eine Kund­ge­bung. Anschlie­ßend mach­te der Dis­to­mo-Über­le­ben­de Argy­ris Sfoun­tou­ris im »Par­la­ment der Kör­per« auf die uner­le­dig­te deut­sche Repa­ra­ti­ons­schuld auf­merk­sam. Zum Abschluss der Aus­stel­lung wur­de im Sep­tem­ber ein »Kas­se­ler Mani­fest« ver­ab­schie­det und eines der zen­tra­len Ver­an­stal­tungs­ge­bäu­de den Nach­kom­men der Mas­sa­ker­op­fer sym­bo­lisch übereignet.

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Auch in Polen ist es in den letz­ten zwei Jah­ren zu einer Reak­ti­vie­rung der Ent­schä­di­gungs­de­bat­te gekom­men. Anläss­lich des Jah­res­tags des War­schau­er Auf­stands (1. August 1944) mach­ten Spit­zen­po­li­ti­ker der neu an die Regie­rung gewähl­ten natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Par­tei Recht und Gerech­tig­keit (PIS) auf die unge­heu­ren deut­schen Okku­pa­ti­ons­ver­bre­chen auf­merk­sam. Dies wur­de in Deutsch­land bis weit in die Lin­ke als wohl­fei­le poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung gedeu­tet. Das Urteil erwies sich jedoch rasch als all­zu ver­kürzt und ein­sei­tig. Wie in Grie­chen­land haben auch alle pol­ni­schen Regie­run­gen immer wie­der Ent­schä­di­gungs­lei­stun­gen für die über zehn Mil­lio­nen Opfer des Okku­pa­ti­ons­ter­rors ein­ge­for­dert, beson­ders seit den 1970er Jah­ren und zu Beginn der 1990er Jah­re wäh­rend der Ver­hand­lun­gen zum 2+4-Vertrag und erneut 2004/​2005. Alle Akti­vi­tä­ten zeig­ten, wie tief das Wis­sen um die skan­da­lö­se deut­sche Ver­wei­ge­rungs­hal­tung in der pol­ni­schen Gesell­schaft ver­an­kert ist. Im Sep­tem­ber 2017 ver­öf­fent­lich­te das Ana­ly­se­bü­ro des pol­ni­schen Par­la­ments (Sejm) ein rechts­hi­sto­ri­sches Gut­ach­ten, das auf hohem wis­sen­schaft­li­chen Niveau die Berech­ti­gung der pol­ni­schen Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen nach­wies. Kurz dar­auf wur­de ein Par­la­ments­aus­schuss gegrün­det, der wie in Grie­chen­land die archi­va­li­schen Über­lie­fe­run­gen durch­for­ste­te und mit den Ergeb­nis­sen der in den frü­hen Nach­kriegs­jah­ren ange­stell­ten Unter­su­chun­gen abglich. Mit einer Ver­öf­fent­li­chung und Ver­ab­schie­dung des Schluss­be­richts ist in den näch­sten Mona­ten zu rech­nen. Im Anschluss dar­an dürf­ten auch in War­schau ent­spre­chen­de Demar­chen in Rich­tung Ber­lin nicht auf sich war­ten lassen.

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Grie­chen­land ist somit nicht mehr der ein­zi­ge Akteur in der Repa­ra­ti­ons- und Ent­schä­di­gungs­fra­ge. Seit neue­stem eröff­net sich die Chan­ce eines gemein­sa­men Vor­ge­hens, und dadurch dürf­ten sich die anste­hen­den inner­eu­ro­päi­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um ein Pro­blem­feld erwei­tern, das aus­schließ­lich auf die immer wie­der ver­tag­te Beglei­chung der deut­schen Repa­ra­ti­ons­schuld fokus­siert ist. Dabei eröff­nen sich für die grie­chi­sche und die pol­ni­sche Regie­rung bemer­kens­wer­te Optio­nen, die aller­dings vor­aus­set­zen, dass sie abge­stimmt vor­ge­hen: Sie kön­nen erstens die zustän­di­gen euro­päi­schen poli­ti­schen Gre­mi­en anru­fen (EU-Par­la­ment, EU-Kom­mis­si­on, OSZE). Sie kön­nen zwei­tens eine gemein­sa­me diplo­ma­ti­sche Initia­ti­ve star­ten und die Ein­be­ru­fung einer euro­päi­schen Repa­ra­ti­ons­kon­fe­renz for­dern, die im Anschluss an das Lon­do­ner Schul­den­ab­kom­men von 1953 und den 2+4-Vertrag die Abgel­tung der deut­schen Hypo­the­ken ver­han­delt. Soll­te sich die deut­sche Macht­eli­te dem ver­wei­gern, steht ein OSZE-Schieds­ver­fah­ren oder die Anru­fung des Inter­na­tio­na­len Gerichts­hofs in Aus­sicht. Soweit soll­te es aber nach Mög­lich­keit nicht kom­men. Wenn sich die Basis­in­itia­ti­ven der betrof­fe­nen Län­der und in Deutsch­land ihrer­seits auf ein gemein­sa­mes Vor­ge­hen ver­stän­di­gen, kön­nen sie die Pro­zes­se auf der insti­tu­tio­nell-poli­ti­schen Ebe­ne beschleunigen.

Denn eines ist klar: Nur mas­si­ver inter­na­tio­na­ler Druck kann die deut­sche Macht­eli­te in der Repa­ra­ti­ons­fra­ge zum Ein­len­ken zwingen.