Ginge es nach der deutschen Machtelite, dann hätte sich die Frage der Kompensation der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden materiellen Zerstörungen und humanitären Schäden längst erledigt. Jedoch zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass sich zumindest zwei vom deutschen Okkupationsterror betroffene Länder nicht von derartigen Abwehrreflexen abschrecken lassen: Griechenland und Polen.
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Im März 2015 verabschiedete das griechische Parlament eine Resolution, in der es Deutschland einmal mehr zur Begleichung seiner Besatzungsschulden und zur Entschädigung der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki aufforderte. Kurze Zeit später teilte der Rechnungshof des Landes einem Parlamentsausschuss die Ergebnisse eines Gutachtens mit, das er zur Frage der offenen deutschen Kriegsentschädigungen erarbeitet hatte. Das Gutachten selbst blieb geheim, wurde jedoch wenig später von einer Athener Tageszeitung als limitierter Sonderdruck veröffentlicht. Die Initiative versandete in den folgenden Monaten aufgrund der Kapitulation der griechischen Regierung vor dem dritten »Troika«-Diktat im Juli 2015. Im November 2015 berief das Parlament einen weiteren Ausschuss ein. Er absolvierte dreizehn Sitzungen, bei denen die Opferverbände, das Nationalkomitee zur Einforderung der Entschädigungen und juristische Expertengremien gehört wurden. Der Ausschuss legte dem Parlament Ende Juli 2016 seinen Schlussbericht vor. Der Bericht basierte auf dem Gutachten des Rechnungshofs, wies ihm gegenüber jedoch einige Vorzüge auf: Er bezog die individuelle Entschädigung für erlittene Kriegsverbrechen und Zwangsarbeit in die Gesamtrechnung ein und unterbreitete konkrete Vorschläge zum weiteren Vorgehen. Bis heute wurde er jedoch weder veröffentlicht noch vom Parlament verabschiedet. Im Februar 2018 kündigte Parlamentspräsident Nikos Voutsis eine neue Initiative an. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Oktober 2018 Athen besuchte, erinnerten ihn die Griechen nur mit allgemein gehaltenen Wendungen an die deutschen Hypotheken. Nach neuesten Informationen soll der Schlussbericht nun im Januar 2019 verabschiedet werden und eine regierungsoffizielle Initiative an die Berliner Adresse einleiten.
Derartige Samthandschuhe brauchten sich die griechischen und die sie unterstützenden deutschen Basisinitiativen nicht anzulegen. Im April 2015 veröffentlichten die Jüdische Gemeinde Thessaloniki und die deutsche Bürgerinitiative »Zug der Erinnerung« eine gemeinsame Erklärung, in der sie von der Deutschen Bundesbahn – der Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn – die Rückerstattung der Transportkosten forderten, die den in die Vernichtungslager deportierten griechischen Juden abgepresst worden waren. Sie scheiterten an der Intransigenz des Bahnvorstands und der Bundesregierung. Auch eine breite Unterschriftenkampagne bewirkte nichts.
Parallel dazu entschlossen sich Einzelpersonen zum Handeln. Aufsehen erregte eine Aktion der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou: Sie stellte sich im Juni 2017 dem deutschen Botschafter in den Weg, als er sich während der Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von Distomo anschickte, am Denkmal einen Kranz niederzulegen. Ebenfalls im Juni 2017 wurde die 14. documenta in Kassel eröffnet. Sie stand unter dem Motto »Von Athen lernen«, um auf die Demütigung Griechenlands durch die Troika-Diktate aufmerksam zu machen. Die Gruppe AK Distomo veranstaltete am Rand der Auftaktveranstaltung eine Kundgebung. Anschließend machte der Distomo-Überlebende Argyris Sfountouris im »Parlament der Körper« auf die unerledigte deutsche Reparationsschuld aufmerksam. Zum Abschluss der Ausstellung wurde im September ein »Kasseler Manifest« verabschiedet und eines der zentralen Veranstaltungsgebäude den Nachkommen der Massakeropfer symbolisch übereignet.
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Auch in Polen ist es in den letzten zwei Jahren zu einer Reaktivierung der Entschädigungsdebatte gekommen. Anlässlich des Jahrestags des Warschauer Aufstands (1. August 1944) machten Spitzenpolitiker der neu an die Regierung gewählten nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) auf die ungeheuren deutschen Okkupationsverbrechen aufmerksam. Dies wurde in Deutschland bis weit in die Linke als wohlfeile politische Instrumentalisierung gedeutet. Das Urteil erwies sich jedoch rasch als allzu verkürzt und einseitig. Wie in Griechenland haben auch alle polnischen Regierungen immer wieder Entschädigungsleistungen für die über zehn Millionen Opfer des Okkupationsterrors eingefordert, besonders seit den 1970er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre während der Verhandlungen zum 2+4-Vertrag und erneut 2004/2005. Alle Aktivitäten zeigten, wie tief das Wissen um die skandalöse deutsche Verweigerungshaltung in der polnischen Gesellschaft verankert ist. Im September 2017 veröffentlichte das Analysebüro des polnischen Parlaments (Sejm) ein rechtshistorisches Gutachten, das auf hohem wissenschaftlichen Niveau die Berechtigung der polnischen Entschädigungsforderungen nachwies. Kurz darauf wurde ein Parlamentsausschuss gegründet, der wie in Griechenland die archivalischen Überlieferungen durchforstete und mit den Ergebnissen der in den frühen Nachkriegsjahren angestellten Untersuchungen abglich. Mit einer Veröffentlichung und Verabschiedung des Schlussberichts ist in den nächsten Monaten zu rechnen. Im Anschluss daran dürften auch in Warschau entsprechende Demarchen in Richtung Berlin nicht auf sich warten lassen.
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Griechenland ist somit nicht mehr der einzige Akteur in der Reparations- und Entschädigungsfrage. Seit neuestem eröffnet sich die Chance eines gemeinsamen Vorgehens, und dadurch dürften sich die anstehenden innereuropäischen Auseinandersetzungen um ein Problemfeld erweitern, das ausschließlich auf die immer wieder vertagte Begleichung der deutschen Reparationsschuld fokussiert ist. Dabei eröffnen sich für die griechische und die polnische Regierung bemerkenswerte Optionen, die allerdings voraussetzen, dass sie abgestimmt vorgehen: Sie können erstens die zuständigen europäischen politischen Gremien anrufen (EU-Parlament, EU-Kommission, OSZE). Sie können zweitens eine gemeinsame diplomatische Initiative starten und die Einberufung einer europäischen Reparationskonferenz fordern, die im Anschluss an das Londoner Schuldenabkommen von 1953 und den 2+4-Vertrag die Abgeltung der deutschen Hypotheken verhandelt. Sollte sich die deutsche Machtelite dem verweigern, steht ein OSZE-Schiedsverfahren oder die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs in Aussicht. Soweit sollte es aber nach Möglichkeit nicht kommen. Wenn sich die Basisinitiativen der betroffenen Länder und in Deutschland ihrerseits auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen, können sie die Prozesse auf der institutionell-politischen Ebene beschleunigen.
Denn eines ist klar: Nur massiver internationaler Druck kann die deutsche Machtelite in der Reparationsfrage zum Einlenken zwingen.