Er erkannte – wohl als einziger –, womit im Bonner Bundestag jener 9. November endete, der in Deutschlands neue Kriege führte: »Sie saßen nicht mehr, und sie standen noch nicht. Wippen in der Hocke, den Hintern zehn Zentimeter überm Sitz, den Kopf hilfesuchend nach rechts und links und schräg hinten gedreht: So fing die Kamera sie ein, die Grünen im Bundestag. Sekunden zuvor hatten sich die Abgeordneten erst der Regierungsfraktionen, dann der SPD erhoben und das Deutschlandlied angestimmt. Sollte, durfte, mußte man jetzt auch aufstehen und mitsingen? Jeder, jede spürte, daß dies die Entscheidung war, an der sich vorbeizumogeln den eigenen und den Erfolg der Bewegung ausgemacht hatte. Weit und breit keine Nische, in die man sich hätte drücken können, wie es einst der Nazi Globke getan haben wollte, als der Eid auf den Führer geleistet wurde. Ach, wäre man doch vor fünf Minuten zum Pinkeln gegangen! Und so balancierten sie denn, endlose Sekunden lang, über den Sitzflächen, zwischen Vaterland und Szene, Chuzpe und Scham, Freiheit und Sozialismus.«
Und sie erhoben sich zu voller deutscher Größe, die Grünen, sangen das Deutschlandlied mit. Die Sozialdemokraten sowieso. Gremliza in der darauffolgenden Konkret-Ausgabe (12/89) weiter: »Ob sich einer oder eine von ihnen in diesem Augenblick daran erinnerte, wann zuletzt das Deutschlandlied in einem deutschen Parlament so spontan gegrölt worden war; an jenen 17. Mai 1933, an dem sich nach der außenpolitischen Erklärung des Führers und Reichskanzlers die Abgeordneten der NSDAP, des Zentrums und auch der Sozialdemokratie zum Gesang des ›Deutschland, Deutschland über alles‹ verbanden?«
Die SPD-Abgeordneten hatten Routine im falschen Aufstehen und im üblen Gesang, 1914 jubelten sie dem Kaiser des Hohenzollerngesindels zu, das uns heute wieder belästigt, sie sagten Ja zu den Kriegskrediten, die Millionen Menschen das Leben kosteten. Gremliza 1989: »Zum dritten Mal in diesem Jahrhundert, nach 1914 und 1933, gab es in einem deutschen Parlament keine Parteien mehr. Und zum dritten Mal Grund für alle, die noch einen Kopf zu verlieren haben, sich in Sicherheit zu bringen. Was denn hätte die Geschichte lehren können, wenn nicht dies: daß man besser in Deckung geht, wenn Deutsche Deutsche wg. erwiesenen Deutschseins umarmen.«
Rudolf Augstein – er entfernte 1971 Gremliza aus dem Spiegel – verharmloste damals: »Laßt uns doch aufhören, die preußisch-deutsche Geschichte als Schreckgespenst ins Feld zu führen, mit ihr ist es zu Ende. Der neue Staat würde, wie andere auch, nur noch wirtschaftlich expandieren wollen.« Gremlizas Antwort: »›Nur noch‹ – als hätte das deutsche Kapital 1914 und 1933 etwas anderes gewollt – damals wurden zu diesem Zweck zwar Weltkriege geführt, aber einer Sprache, in der die Erinnerung an Auschwitz heute als ›Schreckgespenst‹ vorkommt, ist auch morgen keine imperialistische Brutalität fremd.«
Auch morgen. Zehn Jahre nach dem gemeinsamen Grölen seiner Nationalhymne erreichte das wieder zusammenverwachsene Deutschland den Endsieg im Krieg gegen die Serben, den Wilhelm Zwo begonnen und Adolf Hitler fortgeführt hat.
Hermann Gremliza starb am 20. Dezember 2019. Dreißig Jahre zuvor schrieb er in seiner Kolumne zum Ausbruch der Deutschen Einheit: »Wie immer haben auch hier die schlimmsten Prognosen die besten Chancen, Wirklichkeit zu werden.«
Wir werden ohne ihn sein, wenn nächstes Jahr im Januar dieses im Schloss zu Versailles aus Krieg und Korruption geborene Deutschland seinen 150. Geburtstag feiert. Im verschwundenen Palast der Republik, an dessen Stelle rechtzeitig das Schloss Wilhelm II. wirklichkeitsgetreu wiederaufgebaut ist.
Hermann muss es nicht mehr erleben.