Es ist vor allem eine Liebesgeschichte aus den späten achtziger Jahren, die in der Rückschau mithilfe von Dokumenten aus zwei Kartons rekonstruiert wird. Zu Beginn sind der Zauber und das Glück groß, das die neunzehnjährige Katharina und den um Jahrzehnte älteren Hans aneinanderfesseln. Er ist Schriftsteller und Musikwissenschaftler, verheiratet mit Sohn -– ein typischer DDR-Intellektueller aus den oberen Schichten, der sich in seinem Staat gut eingerichtet hat. Er kann der jungen Frau viel an Wissen und Erfahrung geben. Durch ihn erschließt sich ihr ein ganzer Kosmos: Mozart, Bach, Brecht, Eisler. Aber es dauert nicht lange, und er nutzt – ohne sich dessen bewusst zu sein, denn Selbstkritik und Rücksichtnahme sind seine Sache nicht – seine Überlegenheit aus, indem er die Art des Miteinanders dominiert, kontrolliert und der jungen Geliebten vorschreibt, was sie zu tun hat. Sie fügt sich, denn diese Liebe ist eine Obsession. Beim Lesen habe ich gestaunt, wieviel sie sich gefallen lässt und wie lange es dauert, bis sich die beiden endgültig trennen. Aus dem anfangs so sympathischen klugen Schöngeist ist ein Monstrum geworden, aus Liebe Qual.
Gegen Ende des Romans wird das Umfeld – das Zeitgeschehen – immer wichtiger und drängender, denn die gesellschaftliche Wende mit einschneidenden Ereignissen bringt das Leben dieser Creme der DDR-Intelligenz gehörig durcheinander. Dadurch bekommt das Buch einen weiteren Akzent, zumal Jenny Erpenbeck das in aller Kürze eindrucksvoll schildert. Sie bleibt – wie schon bei der eigentlichen Liebesgeschichte – Berichterstatterin, die einzig die Fakten sprechen lässt. Das ist wohl das Aufregende und Besondere an diesem Buch: Zwar distanziert, aber kaum wertend oder Partei ergreifend, erzählt sie vom glücklichen Augenblick, dessen Gott Kairos zwar an der Stirn eine Locke zum Festhalten habe, aber auf der Hinterseite kahl sei.
Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. 379 S., 22 €.