Viel war in den letzten Wochen vom »Versagen« der Bundesregierung wie auch ihrer westlichen Partner beim Abzug aus Afghanistan die Rede. Die Bundeswehr ließ, als sie im Juni abzog, die dortigen Ortskräfte größtenteils zurück, mit vagen Versprechungen, sie könnten ja vielleicht nachkommen, falls sich die Lage verschlechtert, aber sie werde sich schon nicht verschlechtern. Das kann man in der Tat als beschämend bezeichnen, denn die Gefahr, dass diese Kräfte jetzt als Kollaborateure angesehen und der Rache durch die Taliban ausgesetzt sind, ist nicht zu unterschätzen. Die Gleichgültigkeit bzw. Kaltherzigkeit selbst gegenüber den engsten Helfern ist allerdings symptomatisch für den generellen Umgang mit afghanischen Staatsangehörigen, die Schutz benötigen. Das »Versagen« ist in Wirklichkeit eine kalkulierte, flüchtlingsfeindliche Politik, die schon viele Jahre lang betrieben wird.
Was die Ortskräfte angeht, ist die Politik allerdings nicht nur beschämend, sondern aus Sicht des Militärs auch tendenziell kontraproduktiv. Schließlich ist jedes Militär im Ausland darauf angewiesen, dass ihm Einheimische zuarbeiten; der vollständige Import von Dolmetschern, Fahrern, Köchen, Reinigungskräften usw. wäre weder finanziell noch logistisch zu stemmen. Die Furcht, es könne sich auch in anderen Einsatzgebieten, wie etwa Mali, herumsprechen, dass die Ortskräfte einfach im Stich gelassen werden, woraus künftig ein Mangel an ebendiesen Kräften resultieren könne, war gerade in Bundeswehrkreisen deutlich zu spüren. Darin dürfte auch der Grund liegen, warum das Verteidigungsministerium noch am meisten Energie aufwandte, die Ortskräfte herauszuholen, während Innenminister Seehofer viel zu lange an einem bürokratisierten und langwierigen Verfahren festhielt.
Dieses bestand bis zuletzt, also bis die Taliban praktisch schon vor den Toren Kabuls standen, darin, dass zunächst eine sogenannte Gefährdungsanzeige beim derzeitigen oder ehemaligen Arbeitgeber gestellt werden musste. Darin musste plausibel dargelegt werden, dass die Ortskraft nicht nur einer »latenten« Gefahr ausgesetzt war, sondern einer konkreten. Man musste also abwarten, bis die eine oder andere Drohung erfolgt war oder man angegriffen wurde. Und man musste nachweisen, dass diese Drohungen in direktem Zusammenhang mit der Beschäftigung standen, nicht zuletzt musste der Sachverhalt, wie das Bundesinnenministerium (BMI) noch im Juli 2021 festhielt, »widerspruchsfrei« dargelegt werden. Das ist im Juli nur der Hälfte der 227 Antragsteller gelungen, die dem deutschen Polizeiprojekt in Afghanistan zugearbeitet hatten. Im Verteidigungsministerium war man im Juni 2021 wenigstens dazu übergegangen, auf einen individuellen Gefährdungsnachweis zu verzichten.
Generell waren die Chancen, dieses Verfahren zu bestehen, stets gering, wie Zahlen aus der Vergangenheit zeigen. Zwischen 2016 und 2018 standen 13 Bewilligungen 79 Ablehnungen gegenüber, und im April 2020 und März 2021 gab es 17 Zusagen, aber 29 Ablehnungen. Der ehemalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe sprach bereits 2014, angesichts einer damaligen Ablehnungsquote von 60 Prozent, von einem »beschämenden« Umgang mit den Ortskräften. Im Mai dieses Jahres schlug eine Expertengruppe, bestehend aus mehreren ehemaligen Wehrbeauftragten, Politikern und Bundeswehrangehörigen, erneut Alarm und forderte eine »zügige und unbürokratische Aufnahme«, und zwar »parallel zum laufenden Abzug des deutschen Kontingents«. Der Ruf verhallte ungehört. Im Juni legten dann die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag Anträge vor, mit denen eine schnelle und unbürokratische Aufnahme der Ortskräfte gefordert wurde. Beide wurden abgelehnt.
Bis zum Abzug der Bundeswehr waren ohnehin nur solche Ortskräfte antragsberechtigt, deren Beschäftigung nicht länger als zwei Jahre zurücklag – nur dann, so die Annahme, sei ein Zusammenhang mit der Beschäftigung plausibel. Dass diese Annahme mit dem zunehmenden Kontrollverlust der afghanischen Regierung nach dem Abzug der westlichen Truppen so nicht mehr haltbar war, sah die Bundeswehr durchaus ein, sie strich die Zwei-Jahres-Klausel. Für Ortskräfte im Bereich des Innenministeriums oder der Entwicklungshilfe blieb sie allerdings bestehen, exakt bis zur Einnahme Kabuls durch die Taliban.
Bis vor kurzem explizit ausgeschlossen vom Aufnahmeverfahren waren auch jene Kräfte, die nicht direkt bei Bundesressorts oder Nichtregierungsorganisationen angestellt waren, sondern bei afghanischen Subunternehmern. Erst im Zuge der chaotischen Evakuierungsoperationen Mitte August 2021 wurde auch ihnen eine Aufnahme prinzipiell zugesagt. Für alle indes gilt bis zum heutigen Tag: Wer bereits vor 2013 die Beschäftigung beendete, hat überhaupt keinen Anspruch auf Aufnahme.
Bis Mitte August 2021 mussten jene, deren Gefährdung amtlich bestätigt wurde, sich anschließend um ein Visum kümmern. Das erforderte eine Reise nach Kabul, bzw., nachdem die dortige Botschaft 2017 durch einen Anschlag zerstört worden war, zur deutschen Vertretung entweder in Islamabad oder in Neu-Delhi. Die Zumutung, mehrfach mitten durch ein Kriegsgebiet zu reisen, teilten sich Ortskräfte mit allen anderen, die ein Visum beantragen wollten, etwa jenen, die zu Angehörigen in Deutschland nachziehen wollten. Vor der Erteilung des Visums erfolgte eine Sicherheitsüberprüfung durch das BMI, und wer am Ende glücklich ein Visum hatte, musste sich dann einen Flug nach Deutschland buchen – auf eigene Kosten. Auch das wurde erst im Sommer 2021 geändert.
Aber, wie gesagt: Der Umgang mit Ortskräften ist nur die Spitze eines Eisbergs. Schon seit Jahren müssen Tausende afghanischer Geflüchteter, die es – ohne Regierungshilfe – nach Deutschland geschafft hatten, erdulden, dass ihr Recht auf Familiennachzug durch die Bundesregierung verschleppt wird.
Schon vor der Machtübernahme der Taliban mussten afghanische Staatsangehörige zwischen einem und zwei Jahren auf einen Konsulatstermin in Islamabad oder Neu-Delhi warten. 3000 Afghanen warteten etwa Anfang Mai dieses Jahres auf einen Termin zur Visumsbeantragung. Zu dieser Wartezeit kommt noch die oft langwierige Bearbeitungszeit. Das Auswärtige Amt begründet die Situation mit der pandemiebedingten, vorübergehenden Schließung der Visastellen. Doch das ist nicht der einzige Grund: Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion geht hervor, dass das Personal in Islamabad und Neu-Delhi im Laufe der letzten zwei Jahre von 47 auf 39 Stellen zusammengestrichen wurde.
Nicht vergessen werden darf zudem, dass viele afghanische Geflüchtete in Deutschland zunächst keinen Anspruch auf Familienzusammenführung haben – was oftmals ein Fehler der Asylbehörde ist. Die Fehlerquote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist bei Asylexperten berüchtigt, besonders drastisch ist sie beim Herkunftsland Afghanistan: Mehr als drei Viertel der angefochtenen Afghanistan-Bescheide des BAMF erweisen sich zuletzt bei inhaltlicher Prüfung durch die Gerichte als rechtswidrig. Allein in diesem Jahr mussten die Gerichte in 3203 Fällen Bescheide des BAMF zugunsten der Schutzsuchenden korrigieren. All diesen Menschen war der dringend benötigte Schutz zunächst vorenthalten oder nur ein unzureichender Schutzstatus erteilt worden.
Doch anstatt die hohe Fehlerquote zu beseitigen, hat die Asylbehörde im bisherigen Jahr bis Ende Mai bereits 5.724 Widerrufsprüfungsverfahren afghanischer Staatsangehöriger, also Überprüfungen des erteilten Schutzstatus, eingeleitet. Die Zahl dieser eingeleiteten Verfahren steigt seit 2016 massiv an, obwohl die Sicherheitslage in Afghanistan bereits in den letzten Jahren katastrophal war und nichts darauf hindeutete, dass die Situation sich nachhaltig verbessern könnte. Mitte August hat das Bundesamt nun einen Entscheidungsstopp bei den Verfahren afghanischer Flüchtlinge verhängt. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert dies als das »Herauszögern« einer offensichtlich notwendigen Schutzgewährung, da erst mit der Anerkennung als Flüchtling Rechte wie das Recht auf Familienzusammenführung einhergehen. Wobei »Familienzusammenführung« stets nur die »Kernfamilie« meint, ohne erwachsene Kinder oder Geschwister.
So schäbig das Verhalten gegenüber den Ortskräften gewesen ist: Noch ärger dran sind zweifellos Flüchtlinge, die nicht bei deutschen Regierungsstellen beschäftigt waren. Die unterschiedliche Behandlung ist unverblümter Ausdruck einer Nützlichkeitserwägung, die in Europa Konsens ist. Das wurde spätestens mit der Entschließung der EU-Innenminister vom 31. August deutlich. »Bleibt dort«, hatte der österreichische Innenminister Karl Nehammer zuvor in Richtung Afghanistan gerufen, sekundiert von zahlreichen Amtskollegen aus anderen Mitgliedstaaten. Bundesinnenminister Seehofer warnte, man dürfe keinesfalls »Pull-Effekte« schaffen.
Die EU-Erklärung reiht sich ein in eine Serie flüchtlingsfeindlicher Dokumente, mit denen die EU sich selbst ihrer Maske als Hort der Menschlichkeit beraubt. Die eigenen Ortskräfte will man zwar (angeblich?) herausholen, aber vom Schutzbedarf etwa von Journalistinnen, Anwältinnen, Menschenrechtsaktivistinnen usw. ist in dem Dokument nicht einmal die Rede. Allenfalls »könnten« Staaten, die das gern machen möchten, möglicherweise einige Angehörige besonders schutzbedürftiger Gruppen (genannt werden Frauen und Kinder) aufnehmen – schon klar, dass die meisten EU-Länder nicht »hier« rufen.
In einem waren sich die Minister einig: »2015« darf sich nicht wiederholen. Man sei fest entschlossen, zu verhindern, dass erneut »unkontrollierte illegale Migrationsbewegungen« auftreten. Dafür, dass sich afghanische Flüchtlinge nicht auf den Weg Richtung Europa machen, sollen Afghanistans Nachbarstaaten sorgen. Aber warum sollten die das wollen? In Iran und Pakistan leben beispielsweise bereits geschätzt sechs Millionen afghanischer Flüchtlinge.
Die EU setzt hierzu unverblümt auf das »Modell« ihres Deals mit der Türkei: Zum einen verspricht sie umfangreiche humanitäre Hilfe, allein Deutschland hat das Budget kurzfristig um über eine halbe Milliarde Euro erhöht. Zum anderen kündigt sie an, den betreffenden Ländern bei der Stärkung des »Grenzmanagements« zu helfen. Frontex steht praktisch schon Gewehr bei Fuß, um sein Know-how einzubringen, Ausrüstungsgüter von Büromöbeln bis zu Wärmebildkameras dürften dann bald folgen. Dass die Menschenrechtslage in Iran und Pakistan, vorsichtig ausgedrückt, nicht die beste ist, hat die EU auch schon in Hinsicht auf die Türkei nicht gestört. Hauptsache, die Flüchtlinge werden aufgehalten.
Wie ein bloßer Zynismus mutet da der Schluss der Erklärung an, in dem die Mitgliedstaaten ankündigen, sie würden »auf Versuche, illegale Migration für politische Zwecke zu instrumentalisieren, und auf andere hybride Bedrohungen reagieren«. Damit spielen sie auf die Machthaber in Marokko, der Türkei und aktuell Belarus an, die zeit- und fallweise Flüchtlinge aus ihrem Land in das Hoheitsgebiet eines EU-Staates hinauslassen. Zweifellos ist dies eine Instrumentalisierung von Flüchtlingen, mit der die EU unter Druck gesetzt werden soll. Aber es ist die EU selbst, die sich unter Druck setzt. Wer die simple Tatsache, dass Drittstaaten Reisefreiheit gewähren und Flüchtlinge nicht hinter Stacheldraht festhalten, als »Bedrohung« betrachtet, hat keinerlei Anspruch darauf, sich humanitär aufzuplustern.