Zuletzt war es still um ihn geworden. Jetzt ist der Theologe Gerd Lüdemann, der in den Jahren nach 1998 große Beachtung auch in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit gefunden hatte, fast 75jährig in Göttingen gestorben.
Eine Prognose sei gewagt: Seine zahlreichen Veröffentlichungen werden weiterhin ihre Wirksamkeit entfalten. Desgleichen wird sein jahrelanger Rechtsstreit mit den staatlichen Behörden, die dazu von der evangelischen Kirche veranlasst worden waren, nicht der Vergessenheit anheimfallen. Streitpunkt war, ob ihm sein Lehrstuhl an der – staatlichen (sic) – theologischen Fakultät auf Druck der Kirchen entzogen werden kann. Der »Fall Lüdemann«, der vorerst 2008 mit einem Beschluss der Bundesverfassungsgerichtet beendet wurde, wird sicherlich dann wieder von Belang werden, wenn es grundsätzlich um die Vorrechte der »Religionsgemeinschaften« in der Gesellschaft geht, etwa bei Grundrechtsverletzungen in ihren Bereichen oder auch bei der seit 121 Jahren überfälligen »Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften« nach GG Art. 140 in Verbindung mit Art. 138 (1) WRV.
Gerd Lüdemann wurde geboren in dem kirchlich geprägten Heideort Visselhövede. Als Theologiestudent fand er zu der historisch-kritischen Bibelforschung, der er zeitlebens konsequent verpflichtet blieb. Mit dieser Konsequenz steht er in einer Reihe großer Theologen, die auch bei allen Nachteilen, die sie erfuhren, ihren kritischen Forschungserkenntnissen an der Bibel treu blieben. Es seien genannt: Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), David Friedrich Strauss (1808-1878) und im 20. Jahrhundert Rudolf Bultmann (1884-1976).
Mit Reimarus, der in Hamburg als Orientalist lehrte und sich der »Aufklärung« verpflichtet wusste, kam die historisch-kritische Betrachtungsweise von Bibeltexten in die Theologie. Durch die zahlreichen Widersprüche darin waren bei ihm Zweifel an der Glaubwürdigkeit der »Heiligen Schrift« entstanden, insbesondere an der Geschichtlichkeit der »Auferstehungserzählungen«. Er kam dabei zu der begründeten Aussage: Wenn das Grab Jesu wirklich »leer« war, so müssen seine Jünger »seinen Leichnam gestohlen haben«. Solche Aussagen waren damals, auch in der Handelsstadt Hamburg, existenzbedrohend. Hier bestimmte der strenge lutherische Fundamentalist Johann Melchior Goeze, was der Bürger zu glauben habe: Jede Bibelstelle ist irrtumslos richtig, jede Geschichte der Bibel ist historisch so geschehen, dieser Glauben hat Vorrang vor aller Vernunft. Erst nach Reimarus Tod brachte Gotthold Ephraim Lessing, ein Freund der Familie Reimarus, als Bibliothekar in Wolfenbüttel in den Jahren 1774-1778 die Erkenntnisse Reimarus unter dem Titel »Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten« heraus, die den sogenannten »Fragmentenstreit« auslösten. Der wurde zu der wohl größten wissenschaftlichen Kontroverse des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in dessen Verlauf der Herzog von Braunschweig, der Landesherr Lessings, für seinen Bibliothekar ein Schreibverbot verhängte. Um seinen Kampf für Aufklärung und Toleranz gegen eine bornierte Religion fortzusetzen, wandte Lessing sich wieder »seiner alten Kanzel, dem Theater« zu, ob man ihn dort »wenigstens noch ungestört will predigen lassen«: Er schrieb seinen »Nathan«.
Das aufklärerische Anliegen des Reimarus, die biblischen Erzählungen historisch- kritisch zu lesen, wurde im 19. Jahrhundert insbesondere von David Friedrich Strauss aufgenommen und in seiner Schrift von 1834, »Leben Jesu«, weitergegeben.
Die Berichte in den Evangelien von der Auferstehung Jesu, die ohnehin erst 40ff Jahre nach dem Tode Jesu schriftlich festgehalten worden waren, erkannte er als Mythen, »als unbewusst erzeugte Phantasieprodukte der Gemeinde«. Sein Buch erzielte in nichtkirchlichen Kreisen höchste Wirkung und Anerkennung, in kirchlichen Kreisen, insbesondere in seiner pietistischen Heimat Württemberg, löste es jedoch blankes Entsetzen aus und führte dazu, dass Strauss sein Amt als Pfarrer verlor. Die »Leben-Jesu-Forschung«, deren Geschichte der Theologe, Arzt, Orgelkünstler und Friedensaktivist Albert Schweitzer, der 1952 den Friedensnobelpreis erhielt, eindrucksvoll beschrieben hat (1906, »Von Reimarus zu Wrede«), wäre ohne die Vorarbeiten von Strauss sicher nicht entstanden.
Neben Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer gilt Rudolf Bultmann zu Recht als der bedeutendste protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts. Als Neutestamentler war auch er der historisch-kritischen Forschung verpflichtet. Sein Programm, das er in einer Schrift 1941 (»Neues Testament und Mythologie«) vorgestellt hatte, wurde als »Entmythologisierung der biblischen Geschichten« bekannt. Darin heißt es bezeichnend: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister - und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.« Zur Auferstehung Jesu erklärte Bultmann: »Jesus ist ins Kerygma, in die Verkündigung, auferstanden«; wo immer sie in seinem Namen geschieht, da sei er lebendig.
Im Jahre 1952 wurde von den deutschen lutherischen Bischöfen eine »Erklärung gegen die Entmythologisierung« herausgegeben. Auf Grund dieser Erklärung wurde der Verfasser dieser Zeilen als angehender Theologiestudent von einem Vertreter seiner hannoverschen Landeskirche offiziell gewarnt, »zum Studium nach Marburg zu gehen«, wo Bultmann damals noch lebte.
In diese Reihe der »Aufklärungstheologen« – Reimarus-Strauss-Bultmann – gehört also auch Gerd Lüdemann hinein. Nach dem Escheinen seines Buches »Der große Betrug« (1998) wurde die »Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen« beim Wissenschaftsminister, damals Thomas Oppermann, in Hannover vorstellig, um den beamteten Wissenschaftler Lüdemann aus dem »Staatsdienst zu entlassen«. Einer der Antragssteller war der Landesbischof der hannoverschen Landeskirche, Horst Hirschler, der einige Jahre zuvor einer breiten Öffentlichkeit dadurch bekannt geworden war, dass er »keine Homosexuellen im Kirchenamt« haben wollte. Der SPIEGEL schrieb in 50/1993 dazu: »In Niedersachsen sehen sich homosexuell lebende Christen von ihrer Kirche verfolgt. Wortführer der Intoleranz ist der lutherische Landesbischof Horst Hirschler.« Nun, 1998, hatte er in Lüdemann einen neuen Gegner. Der erinnert sich 2000: »Ich bin vom Hannoverschen Bischof Hirschler beschimpft worden. Er sagte öffentlich über mich: ´Dieser Mann will geschlagen werden› und hielt mir wissenschaftliche Inkompetenz vor. Doch verweigerte er wie auch andere ein Streitgespräch« (Materialien und Informationen zur Zeit. Politisches Magazin für Konfessionslose und Atheisten, II/2000) – kein Wunder in der Zeit 1998/99. Damals war Hirschler nämlich eine Art theologischer Berater des neuen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Nach Beginn des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien mit deutscher Beteiligung schrieb dieser Hirschler im Mai 1999 in einem Brief an den Bundeskanzler: »Sie haben in den vergangenen Wochen immer wieder die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit dieser militärischen Aktion betont. Ich halte das, soweit ich Einblick habe, für richtig« (SPIEGEL 30.05.2000) – Kriegsbejahung, echt lutherisch.
Professor Lüdemann war trotz des mächtigen Gegners zwar nicht aus dem Staatsdienst entlassen worden, verlor aber seinen neutestamentlichen Lehrstuhl in der theologischen Fakultät und vertrat dort fortan stattdessen eine eigens für ihn eingerichtete Abteilung für »Geschichte und Literatur des frühen Christentums«, einer Art Katzentisch in der Fakultät mit gekürzten Rechten: Verlust einer Assistentenstelle, Entzug jeglicher Prüfungsrechte, Kürzung von Forschungsmitteln.
Gegen diese Maßnahmen beschritt Lüdemann mit Hinweis auf Art. 5 (3) GG (»Freiheit der Wissenschaft«) den Rechtsweg bis zum Bundesverfassungsgericht. Unterstützer fand er kaum in seiner Fakultät, wohl aber bei etlichen Wissenschaftlern in den USA. Mit seinem Grundsatzurteil vom 28.10.2008 (1. BvG 426/05) stellte das Bundesverfassungsgericht in seiner Kernaussage zu dem Verfahren fest: »Die Wissenschaftsfreiheit von Hochschullehrern der Theologie findet ihre Grenzen am Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften.«
Da lachte der alte Hauptpastor Goeze, er war dadurch praktisch selbst wieder auferstanden: »Der Glaube hat wieder Vorrang vor aller Vernunft und vor der Freiheit der Forschung und Wissenschaft.«
Mit nur ein wenig juristischer Kenntnis kann nun dieser Urteilsspruch für alle Konflikte in Religionsgemeinschaften, welcher Art sie auch immer sind, herangezogen werden. Meinungs-, Informations-, Kunst-, Versammlungs-, Koalitionsfreiheit können danach für Mitarbeiter und Gläubige ihre Grenzen am Selbstbestimmungsrecht ihrer Religionsgemeinschaft finden.
Es ist daher nun dringend geboten, diese Glaubensgemeinschaften von ihrer Selbstjustiz, wie sie bei der »Aufarbeitung« der Missbrauchsfälle in den Kirchen so schändlich praktiziert wurde, zu befreien und dazu in das GG Art. 140 einen Satz einzufügen: »Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften findet seine Grenzen an den ´Grundrechten› des Grundgesetzes, Artikel 1-19.« Das würde zugleich eine wissenschaftliche Rehabilitation für Professor Gerd Lüdemann bedeuten.
Von den zahlreichen Veröffentlichungen Lüdemanns werden empfehlend genannt: »Die Auferstehung Jesu«, 1994; »Das Unheilige in der Heiligen Schrift«, 1996; »Der große Betrug«, 1998; »Jungfrauengeburt?«, 2008.