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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Glaube ohne Kirchen

Nun ist ein­ge­tre­ten, was vie­le pro­gno­sti­ziert hat­ten: Weni­ger als die Hälf­te der Bevöl­ke­rung hier­zu­lan­de ist noch Mit­glied in der katho­li­schen oder evan­ge­li­schen Kir­che. Etwa 360.000 Men­schen haben 2021 die katho­li­sche Kir­che ver­las­sen – fast ein Drit­tel mehr als im bis­he­ri­gen Rekord­jahr. Ein Grund: der Miss­brauchs­skan­dal. Auch bei der evan­ge­li­schen Kir­che stieg die Zahl der Kir­chen­aus­trit­te im Ver­gleich zum Vor­jahr um 60.000 auf rund 280.000. Erst­mals sind die Mit­glie­der der bei­den Kir­chen in Deutsch­land in der Minderheit.

Es herrscht Ero­si­on auf allen Ebe­nen. Im Erz­bis­tum Köln – einem der reich­sten Bis­tü­mer der Welt – stie­gen die Aus­tritts­zah­len um mehr als 130 Pro­zent im Ver­gleich zum Jahr 2020. Von einem »Woel­ki-Tsu­na­mi« ist dort die Rede, um zu beschrei­ben, was sich dort ereig­net hat: 40.000 Aus­trit­te allein in der jüng­sten Amts­zeit des Erz­bi­schofs Rai­ner Maria Woel­ki. Der Ver­trau­ens­ver­lust ist enorm. Der skan­da­lö­se Umgang mit dem Miss­brauchs­skan­dal, hoch­ris­kan­te Finanz- und Immo­bi­li­en­ge­schäf­te, zuletzt star­re Reform­ver­wei­ge­run­gen auf dem Syn­oda­len Weg, all das lässt Gläu­bi­ge ver­zwei­feln – und aus­tre­ten. Nicht nur im Köl­ner Spren­gel. Im Erz­bis­tum Ham­burg tra­ten im ver­gan­ge­nen Jahr rund 50 Pro­zent mehr aus als im Vor­jah­res­zeit­raum. Der Mit­glie­der-Nie­der­gang gras­siert lan­des­weit – und damit der Ver­lust beträcht­li­cher Kirchensteuer-Einnahmen.

Die Zah­len reprä­sen­tie­ren nach Wor­ten des Lim­bur­ger Bischofs Georg Bät­zing, der auch Vor­sit­zen­der der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz ist, die »tief­grei­fen­de Kri­se« der katho­li­schen Kir­che in Deutsch­land. Er sei »zutiefst erschüt­tert« über die extrem hohe Zahl an Aus­trit­ten. Sein Kol­le­ge, der Main­zer Bischof Peter Kohl­graf, beschwört indes wei­ter­hin die Kir­che als Hort der Sinn­stif­tung und gibt die Hoff­nung nicht auf, dass »trotz vie­ler Feh­ler in unse­rer Kir­che« die Strahl­kraft »des geleb­ten Christ­seins in den vie­len Gemein­den wei­ter­hin wir­ke«. Doch in den Nie­de­run­gen des Kir­chen-All­tags fehlt es nicht nur an Strahl­kraft, es fehlt vor allem an Ver­trau­en und Glaub­wür­dig­keit. Auch die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land (EKD) ver­zeich­net sin­ken­de Mit­glie­der­zah­len. Sie hat­te ihre Sta­ti­stik bereits im März veröffentlicht.

Ob Katho­lik oder Pro­te­stant – Tat­sa­che ist, die mei­sten Kir­chen­mit­glie­der sind schon lan­ge kei­ne über­zeug­ten Anhän­ger ihrer Kir­che mehr, son­dern soge­nann­te »Tauf­schein­chri­sten«. Gera­de etwas über 3 Pro­zent der evan­ge­li­schen und knapp 10 Pro­zent der katho­li­schen Kir­chen­mit­glie­der besu­chen regel­mä­ßig noch den sonn­täg­li­chen Got­tes­dienst. Die Bin­de­kraft bröckelt. Gläu­bi­ge Schäf­chen ver­las­sen mas­sen­haft die Her­de. Die gro­ße Mehr­heit, ob Katho­li­ken oder Pro­te­stan­ten, nennt einer Stu­die der Ev. Kir­che zufol­ge über­haupt kei­nen kon­kre­ten Anlass für ihren Aus­tritt. Sie haben sich im Lau­fe der Jah­re ein­fach von der Kir­che ent­frem­det und zie­hen irgend­wann den Schluss­strich. Hin­zu kommt: in Zei­ten gras­sie­ren­der Teue­run­gen der Lebens­hal­tungs­ko­sten wird der jah­re­lang auf­ge­scho­be­ne Aus­tritt aus einer Kir­che, die einem ohne­hin nichts bedeu­tet, nun end­lich voll­zo­gen. Frei­lich: Nicht mehr Mit­glied der Kir­che zu sein, muss nicht zur Fol­ge haben, von sei­nem Glau­ben abzu­fal­len. Glau­be geht auch ohne Kirche.

Und die Poli­tik? Obwohl die aktu­el­len Sta­ti­sti­ken ein Beleg dafür sind, dass nur noch ein Bruch­teil der Bevöl­ke­rung über­haupt hin­ter den Kir­chen und ihren Glau­bens­sät­zen steht, scheint die Poli­tik das zu igno­rie­ren. Noch immer gibt es eine Fül­le ana­chro­ni­sti­scher Geset­ze und Sub­ven­tio­nen, etwa bei der hor­ren­den öffent­li­chen Finan­zie­rung von Kir­chen­ta­gen oder der Ablö­sung der Staats­lei­stun­gen an die Kir­chen, die Finan­zie­rung theo­lo­gi­scher Fakul­tä­ten an staat­li­chen Uni­ver­si­tä­ten bis hin zu Kir­chen­re­dak­tio­nen in Lan­des-Rund­funk­an­stal­ten. Dar­an wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Zu stark ist der kle­ri­ka­le Lob­by­is­mus, die Kir­chen­hö­rig­keit der Politik.

Deutsch­land ist kein Kir­chen­staat. Es ist an der Zeit, dass die Poli­tik ange­sichts des mas­si­ven gesell­schaft­li­chen Bedeu­tungs­ver­lusts der Kir­chen erkennt, dass die Kir­chen immer weni­ger Rück­halt in der Bevöl­ke­rung haben. Erst­mals sind die Mit­glie­der der bei­den Kir­chen in der Min­der­heit. Dem muss die Poli­tik gerecht wer­den. Die Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Staat und Kir­che ist nicht mehr zeit­ge­mäß, sie muss ein Ende haben.

Für all­zu gro­ßen Opti­mis­mus frei­lich ist kein Platz. In Ber­lin, dem bis­lang noch letz­ten kon­kor­dat-frei­en Bun­des­land, steht die Schlie­ßung eines neu­en Staats­ver­trags mit dem »Hei­li­gen Stuhl« kurz vor einem Abschluss. Dar­in sichert sich die katho­li­sche Kir­che auch in Zukunft zahl­rei­che Pri­vi­le­gi­en und ihren Ein­fluss, vor allem im päd­ago­gi­schen und schu­li­schen Bereich. Etwa ver­trag­lich fest­ge­hal­te­ne Erzie­hungs­zie­le wie: »Die Jugend ist in der Ehr­furcht vor Gott und im Gei­ste der christ­li­chen Näch­sten­lie­be zu erzie­hen.« So ist ein an der staat­li­chen Hum­boldt-Uni­ver­si­tät gegrün­de­tes »Zen­tral­in­sti­tut für Katho­li­sche Theo­lo­gie« eben­falls Gegen­stand des ersten katho­li­schen Staats­ver­trags des Lan­des. Dort sol­len das »Stu­di­en­an­ge­bot, die orga­ni­sa­to­ri­sche Ver­an­ke­rung des Insti­tuts an der Uni­ver­si­tät sowie die Beru­fung von Pro­fes­so­rin­nen und Pro­fes­so­ren« fort­an unter Feder­füh­rung der christ­li­chen Orga­ni­sa­ti­on statt­fin­den. Sobald die regie­ren­de Bür­ger­mei­ste­rin Fran­zis­ka Gif­fey (SPD) und die Wis­sen­schafts­se­na­to­rin Ulri­ke Gote (Grü­ne) den Ver­trags­ent­wurf mit Erz­bi­schof Niko­la Etero­vić unter­zeich­net haben, wird die­ser gel­ten­des Recht. Das Ver­fas­sungs­ge­bot, das eine Tren­nung von Kir­che und Staat ver­langt, wird von der rot-grü­nen Lan­des­re­gie­rung igno­riert. Wie­der einmal.

Buch-Tipp: Hel­mut Ort­ner, EXIT – War­um wir weni­ger Reli­gi­on brau­chen. Eine Abrech­nung, Nomen Ver­lag, 320 S., 20 €.