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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Giovanni Giacometti

Zusam­men mit dem um 15 Jah­re älte­ren Fer­di­nand Hod­ler und dem gleich­alt­ri­gen Cuno Amiet gehör­te Gio­van­ni Gia­co­metti vor gut hun­dert Jah­ren zum »Drei­ge­stirn der Schwei­zer Kunst«, das die Male­rei in die Moder­ne führ­te. Sein älte­ster Sohn war der welt­be­rühm­te Bild­hau­er Alber­to Giacometti.

Erst­mals zeigt jetzt das Bünd­ner Kunst­mu­se­um in Chur, in deren Obhut sich die wohl größ­te Gia­co­metti-Samm­lung befin­det, die drei gro­ßen Pan­ora­men die­ses Erneue­rers der Schwei­zer Male­rei des 20. Jahr­hun­derts: das vier­tei­li­ge Pan­ora­ma von Muot­tas Muragl von 1898, die Ansicht der Ober­enga­di­ner Land­schaft mit dem mäch­ti­gen Hotel Palace in Majo­la von 1899 und das Tri­pty­chon für das Hotel Wald­haus in Flims von 1904. Zugleich wird den Früh­wer­ken des Malers eine eige­ne Aus­stel­lung gewid­met. So kann man die Vor­ar­bei­ten und Stu­di­en zu den in glei­ßen­des Licht getauch­ten Berg- und Land­schafts­pan­ora­men von Ber­gell und von Majo­la, wo Gia­co­mett­is Som­mer­ate­lier stand, und sei­ne zu glei­cher und spä­te­rer Zeit ent­stan­de­nen Arbei­ten betrach­ten und bekommt einen fas­zi­nie­ren­den Ein­druck von dem sich zwi­schen Impres­sio­nis­mus, Post­im­pres­sio­nis­mus, Fau­vis­mus und Expres­sio­nis­mus bewe­gen­den Werk Giacomettis.

Die frü­hen Bil­der Gia­co­mett­is sind in der Art der spä­ten divi­sio­ni­sti­schen Mal­wei­se sei­nes Men­tors Gio­van­ni Segan­ti­ni gemalt. Die­ser, ein wich­ti­ger Ver­tre­ter des Sym­bo­lis­mus im Fin-de-Siè­cle und zugleich ein Mei­ster der Hoch­ge­birgs­land­schaft, trug die Far­be in fei­nen Pin­sel­stri­chen unver­mischt auf die Lein­wand auf, um ihre Leucht­kraft zu stei­gern. Er hat­te die Absicht, ein gro­ßes Pan­ora­ma vom Enga­din für die Welt­aus­stel­lung in Paris im Jah­re 1900 zu malen. Außer Gia­co­metti soll­ten auch Hod­ler und Amiet mit­ar­bei­ten. Doch das Unter­neh­men zer­schlug sich. Wäh­rend Segan­ti­ni sei­ne Stu­di­en aus dem Enga­din für sein »Tri­pty­chon der Alpen« ver­wen­de­te, nahm Gia­co­metti sei­ne Vor­ar­bei­ten zur Grund­la­ge für ein gro­ßes vier­tei­li­ges Pan­ora­ma von Muot­tas Muragl. Vom Vor­der­grund – von auf einer Anhö­he wei­den­den Scha­fen mit ihrem Hir­ten – glei­tet der Blick des Betrach­ters hin­un­ter in ein tief­lie­gen­des Fluss­tal mit sei­nen Ort­schaf­ten und zwei Seen und von dort wie­der hin­auf zu dem groß­ar­ti­gen Gebirgs­mas­siv mit sei­nen wei­ßen Berg­gip­feln. Gia­co­mett­is Stri­chel­tech­nik zeigt sich vor­wie­gend in den Wald­par­tien, deren sat­tes Grün mit kom­ple­men­tä­rem Rot durch­setzt ist. Die Fels­par­tien erschei­nen nicht in stump­fem Grau, son­dern sind aus einer rei­chen Palet­te von Gelb, Grün, Blau und Rosa auf­ge­baut. Gia­co­metti mal­te den Him­mel, der die vier Bild­fel­der zusam­men­bin­det und oben abschließt, eben­falls nicht als kom­pak­te Flä­che, son­dern – im Unter­schied zu Segan­ti­ni – mit lan­gen, faden­ar­ti­gen Strich­la­gen, die dem Blau eine leben­di­ge Struk­tur verleihen.

Nach Segan­ti­nis Tod 1899 ent­fern­te sich Gia­co­metti mehr und mehr von der Segan­ti­ni­schen Mal­wei­se mit ihren meist par­al­le­len Schraf­fu­ren und ging um 1902 zur Tupf­tech­nik der fran­zö­si­schen Neo­im­pres­sio­ni­sten und von da – etwa um 1907 – zur expres­si­ven, lei­den­schaft­li­chen Strich­füh­rung Vin­cent van Goghs über.

Das Flim­ser Tri­pty­chon von 1904 fes­selt durch sei­ne avant­gar­di­sti­sche Gestal­tung: Eine atem­be­rau­ben­de Berg­ku­lis­se brei­tet sich aus. Im gro­ßen Mit­tel­teil erstreckt sich der Blick von einer Anhö­he zu dem von der Berg­ku­lis­se fast ver­schwin­den­den Ensem­ble der Hotel­bau­ten auf die ein­deu­tig zu iden­ti­fi­zie­ren­den Gip­fel des impo­san­ten Pan­ora­mas. Die Luft- und Farb­per­spek­ti­ve zeu­gen hier von einer Tie­fen­il­lu­si­on, die bis zu der mäch­ti­gen Wol­ke reicht, die den bogen­för­mi­gen Abschluss des Fir­ma­ments mar­kiert. Dage­gen sind die seit­li­chen Tei­le wesent­lich abstrak­ter gehal­ten: Die leuch­ten­den Far­ben – jetzt fast irra­tio­na­le Farb­tö­ne – domi­nie­ren auch hier, doch die Far­ben von Him­mel und Land­schaft wer­den nun pris­ma­tisch gebro­chen und spie­geln sich im See wider. Auf der rech­ten Tafel bringt der fast abstrakt-kubi­sche Block des Flim­ser­steins – so kann man im Kata­log lesen – asym­me­tri­sche Span­nung in das Bild hin­ein, die mit der frei­en Form der Wol­ken kontrastiert.

Das stim­mungs­vol­le Spiel von Hell und Dun­kel erin­nert in sei­ner rei­nen Aus­drucks­kraft bei Gia­co­metti an Arbei­ten der deut­schen Expres­sio­ni­sten. Und die Brücke-Künst­ler fühl­ten sei­ne Nähe zu ihnen und haben ihn 1908 zu einer ihrer Aus­stel­lun­gen in Dres­den eingeladen.

1912 hat­te Gia­co­metti eine gro­ße Aus­stel­lung von über 80 Bil­dern im Kunst­haus Zürich. Es waren Bil­der von einer uner­hör­ten Far­ben­pracht, von glei­ßen­den Licht- und spar­sa­men Schat­ten­par­tien gepräg­te Land­schaf­ten von fast schmerz­haf­ter Inten­si­tät. Wäh­rend er in »Nuo­va Neve« (Neu­schnee, 1902) erst­mals die poin­til­li­sti­sche Mal­wei­se auf­ge­nom­men hat­te – locker über die gan­ze Lein­wand gesetz­te Farb­flecke erge­ben ein Bild des win­ter­li­chen Dor­fes in Ber­gell –, schei­nen sich in ande­ren Arbei­ten wie­der For­men und Far­ben zu ver­wi­schen und bei­na­he auf­zu­lö­sen. In »Pri­ma­va­ra« (1905) kom­men eine kulis­sen­ar­tig über­ein­an­der­ge­schich­te­te Flä­chig­keit, beweg­te und zu Abstrak­ti­on ten­die­ren­de Jugend­stil­for­men und far­bi­ger Poin­til­lis­mus zusam­men. Dage­gen löst wie­der­um in »Son­nen­flecken« (1912) das Son­nen­licht far­bi­ge Erup­tio­nen gera­de auch in den Schat­ten­par­tien aus. Jede Far­be erscheint in qua­li­ta­tiv ver­schie­den­ar­ti­gen Abstu­fun­gen, die weit mehr sind als Hell­dun­kel-Wer­te. Küh­ne Farb­klän­ge erin­nern an die Fau­ves, eine Grup­pe von Künst­lern um Hen­ri Matis­se, die die Farb­ge­bung nicht mehr der illu­sio­ni­sti­schen Dar­stel­lung eines Gegen­stan­des unter­ord­nen woll­te; ein lei­den­schaft­lich beweg­ter Pin­sel­strich und ein kräf­ti­ger Farb­auf­trag las­sen dann wie­der an van Gogh den­ken. Doch alle sei­ne Bil­der strah­len eine far­bi­ge Hel­lig­keit aus, selbst die dun­kel­sten Schat­ten sind kräf­ti­ge Farben.

Gia­co­mett­is in glei­ßen­des, vibrie­ren­des Licht getauch­te Berg- und Land­schafts­bil­der sind zu sei­nem Mar­ken­zei­chen geworden.

Gio­van­ni Gia­co­metti – Die gro­ßen Pan­ora­men. Bünd­ner Kunst­mu­se­um Chur, bis 29. August. Kata­log (Ver­lag Scheid­eg­ger & Spiess Zürich) 38 .