Zusammen mit dem um 15 Jahre älteren Ferdinand Hodler und dem gleichaltrigen Cuno Amiet gehörte Giovanni Giacometti vor gut hundert Jahren zum »Dreigestirn der Schweizer Kunst«, das die Malerei in die Moderne führte. Sein ältester Sohn war der weltberühmte Bildhauer Alberto Giacometti.
Erstmals zeigt jetzt das Bündner Kunstmuseum in Chur, in deren Obhut sich die wohl größte Giacometti-Sammlung befindet, die drei großen Panoramen dieses Erneuerers der Schweizer Malerei des 20. Jahrhunderts: das vierteilige Panorama von Muottas Muragl von 1898, die Ansicht der Oberengadiner Landschaft mit dem mächtigen Hotel Palace in Majola von 1899 und das Triptychon für das Hotel Waldhaus in Flims von 1904. Zugleich wird den Frühwerken des Malers eine eigene Ausstellung gewidmet. So kann man die Vorarbeiten und Studien zu den in gleißendes Licht getauchten Berg- und Landschaftspanoramen von Bergell und von Majola, wo Giacomettis Sommeratelier stand, und seine zu gleicher und späterer Zeit entstandenen Arbeiten betrachten und bekommt einen faszinierenden Eindruck von dem sich zwischen Impressionismus, Postimpressionismus, Fauvismus und Expressionismus bewegenden Werk Giacomettis.
Die frühen Bilder Giacomettis sind in der Art der späten divisionistischen Malweise seines Mentors Giovanni Segantini gemalt. Dieser, ein wichtiger Vertreter des Symbolismus im Fin-de-Siècle und zugleich ein Meister der Hochgebirgslandschaft, trug die Farbe in feinen Pinselstrichen unvermischt auf die Leinwand auf, um ihre Leuchtkraft zu steigern. Er hatte die Absicht, ein großes Panorama vom Engadin für die Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 zu malen. Außer Giacometti sollten auch Hodler und Amiet mitarbeiten. Doch das Unternehmen zerschlug sich. Während Segantini seine Studien aus dem Engadin für sein »Triptychon der Alpen« verwendete, nahm Giacometti seine Vorarbeiten zur Grundlage für ein großes vierteiliges Panorama von Muottas Muragl. Vom Vordergrund – von auf einer Anhöhe weidenden Schafen mit ihrem Hirten – gleitet der Blick des Betrachters hinunter in ein tiefliegendes Flusstal mit seinen Ortschaften und zwei Seen und von dort wieder hinauf zu dem großartigen Gebirgsmassiv mit seinen weißen Berggipfeln. Giacomettis Stricheltechnik zeigt sich vorwiegend in den Waldpartien, deren sattes Grün mit komplementärem Rot durchsetzt ist. Die Felspartien erscheinen nicht in stumpfem Grau, sondern sind aus einer reichen Palette von Gelb, Grün, Blau und Rosa aufgebaut. Giacometti malte den Himmel, der die vier Bildfelder zusammenbindet und oben abschließt, ebenfalls nicht als kompakte Fläche, sondern – im Unterschied zu Segantini – mit langen, fadenartigen Strichlagen, die dem Blau eine lebendige Struktur verleihen.
Nach Segantinis Tod 1899 entfernte sich Giacometti mehr und mehr von der Segantinischen Malweise mit ihren meist parallelen Schraffuren und ging um 1902 zur Tupftechnik der französischen Neoimpressionisten und von da – etwa um 1907 – zur expressiven, leidenschaftlichen Strichführung Vincent van Goghs über.
Das Flimser Triptychon von 1904 fesselt durch seine avantgardistische Gestaltung: Eine atemberaubende Bergkulisse breitet sich aus. Im großen Mittelteil erstreckt sich der Blick von einer Anhöhe zu dem von der Bergkulisse fast verschwindenden Ensemble der Hotelbauten auf die eindeutig zu identifizierenden Gipfel des imposanten Panoramas. Die Luft- und Farbperspektive zeugen hier von einer Tiefenillusion, die bis zu der mächtigen Wolke reicht, die den bogenförmigen Abschluss des Firmaments markiert. Dagegen sind die seitlichen Teile wesentlich abstrakter gehalten: Die leuchtenden Farben – jetzt fast irrationale Farbtöne – dominieren auch hier, doch die Farben von Himmel und Landschaft werden nun prismatisch gebrochen und spiegeln sich im See wider. Auf der rechten Tafel bringt der fast abstrakt-kubische Block des Flimsersteins – so kann man im Katalog lesen – asymmetrische Spannung in das Bild hinein, die mit der freien Form der Wolken kontrastiert.
Das stimmungsvolle Spiel von Hell und Dunkel erinnert in seiner reinen Ausdruckskraft bei Giacometti an Arbeiten der deutschen Expressionisten. Und die Brücke-Künstler fühlten seine Nähe zu ihnen und haben ihn 1908 zu einer ihrer Ausstellungen in Dresden eingeladen.
1912 hatte Giacometti eine große Ausstellung von über 80 Bildern im Kunsthaus Zürich. Es waren Bilder von einer unerhörten Farbenpracht, von gleißenden Licht- und sparsamen Schattenpartien geprägte Landschaften von fast schmerzhafter Intensität. Während er in »Nuova Neve« (Neuschnee, 1902) erstmals die pointillistische Malweise aufgenommen hatte – locker über die ganze Leinwand gesetzte Farbflecke ergeben ein Bild des winterlichen Dorfes in Bergell –, scheinen sich in anderen Arbeiten wieder Formen und Farben zu verwischen und beinahe aufzulösen. In »Primavara« (1905) kommen eine kulissenartig übereinandergeschichtete Flächigkeit, bewegte und zu Abstraktion tendierende Jugendstilformen und farbiger Pointillismus zusammen. Dagegen löst wiederum in »Sonnenflecken« (1912) das Sonnenlicht farbige Eruptionen gerade auch in den Schattenpartien aus. Jede Farbe erscheint in qualitativ verschiedenartigen Abstufungen, die weit mehr sind als Helldunkel-Werte. Kühne Farbklänge erinnern an die Fauves, eine Gruppe von Künstlern um Henri Matisse, die die Farbgebung nicht mehr der illusionistischen Darstellung eines Gegenstandes unterordnen wollte; ein leidenschaftlich bewegter Pinselstrich und ein kräftiger Farbauftrag lassen dann wieder an van Gogh denken. Doch alle seine Bilder strahlen eine farbige Helligkeit aus, selbst die dunkelsten Schatten sind kräftige Farben.
Giacomettis in gleißendes, vibrierendes Licht getauchte Berg- und Landschaftsbilder sind zu seinem Markenzeichen geworden.
Giovanni Giacometti – Die großen Panoramen. Bündner Kunstmuseum Chur, bis 29. August. Katalog (Verlag Scheidegger & Spiess Zürich) 38 €.