Im In- und Ausland gilt die deutsche Erinnerungspolitik, der Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte und der Shoah als beispielhaft. Dieses Bild muss jedoch teilweise bröckeln: So finden sich in Landes- und Bundesparlamenten immer mehr Abgeordnete, die ethnonationalistisches Gedankengut zum Ausdruck bringen und geschichtsrevisionistische bis hin zu antisemitischen Aussagen unverhohlen tätigen. Die Anzahl der polizeilich erfassten antisemitischen Delikte sind 2020 gegenüber dem Vorjahr um 319 auf 2.351 angestiegen. Vor zehn Jahren lag die Zahl der Delikte bei 1.268. Die Grenzen des Sagbaren und des »Machbaren« scheinen sich weiter nach rechts zu verschieben.
Jüngst wurden im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hierzulande Israel-Fahnen in Brand gesetzt, Synagogen mit Steinen beworfen und Denkmäler geschändet. Öffentlich werden im Rahmen der Corona-Pandemie immer wieder Gleichsetzungen mit Gegebenheiten um die NS-Zeit herum angestellt. So werden von Corona-Leugnern, Verschwörungstheoretikern und Rechten die derzeitigen Einschränkungen nicht selten mit der damaligen Situation um 1933 und dem Ermächtigungsgesetz gleichgesetzt. Auf den Querdenkerdemonstrationen sieht man gelbe Sterne, die an die »Judensterne« der NS-Zeit erinnern sollen. Andere vergleichen sich mit damaligen Widerstandskämpfern und meinen, gerade ähnliches durchleben zu müssen. Jana aus Kassel verglich sich auf einer Kundgebung gar mit der vom NS-Regime hingerichteten Widerstandskämpferin Sophie Scholl, und für den Wirtschaftswissenschaftler Stefan Homburg sind die aktuellen Einschränkungen nichts anderes als die Repressionen seit 1933. Die Forderung vom AFD-Landtagsabgeordneten Björn Höcke nach einer 180 Grad-Wendung im Zusammenhang mit der Erinnerungspolitik und die Posse um das Berliner Holocaust-Denkmal, das er als »Denkmal der Schande« bezeichnete, untermauern – ebenso wie die sogenannten »Querdenker-Demonstrationen« am Jahrestag der Novemberpogrome – die Diskursverschiebung nach rechts und das bewusste Kokettieren mit geschichtlichen Ereignissen.
Solche geschichtsverfälschenden, diffamierenden Aussagen und geschichtsrelativierenden Handlungen sind nicht nur infantil, sie müssen zweifelsohne als instinktlos und als Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Sie verdeutlichen darüber hinaus, dass das vorbildhafte Bild der deutschen Erinnerungspolitik zumindest in Teilen unhaltbar ist. So war die Bundesrepublik der Nachkriegszeit vielmehr damit beschäftig, sich ihrer Altlasten zu entledigen, als einer fundierten Aufarbeitung der Geschichte nachzukommen. Nicht selten wurden Irrwege einer vermeintlichen Aufarbeitung, die gegenteiliges – nämlich Verdrängung und Verleumdung – bewirkten, beschritten. So erfolgte im Nachkriegsdeutschland eine berufliche und politische Integration vieler Nazitäter. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn konstatiert in seinem streitbaren, aber lesenswerten Essay »Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern«, dass »die Geschichtsvergessenheit (…) besonders dann in der bundesdeutschen Geschichte zu attestieren (ist), wenn es um den Nationalsozialismus und die Shoah geht.« Weiterhin bezeichnet er die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als »größte Lebenslüge der Bundesrepublik«.
Die skizzierten Ereignisse und Entwicklungen zeigen auf, dass erinnerungs- und bildungspolitisch Versäumnisse stattgefunden haben. Der erinnerungskulturelle Duktus ist in der Vergangenheit immer wieder zu einem vermeintlichen deutschen Opferzentrismus verkommen, der zum Beispiel die Opfererfahrungen im Rahmen der Shoah mit den Vertreibungen aus den Ostgebieten oder den Bombardements durch die Alleierten gleichsetzt.
Viel mehr noch als bisher müssen Täterbiografien in den Blick genommen werden – wie etwa in der beispielhaften Studie des Historikers Michael Wildt: »Die Genration des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes«. Aber nicht nur die Wissenschaft ist gefordert. Auch in der eigenen Familienhistorie und im Freundes- sowie Bekanntenkreis sollte nach Tätern, Mitläufern und Unterstützern gefragt und sich nicht länger hinter einem Opferparadigma, wie er unter anderem häufig von Vertriebenenverbänden aufrechterhalten wird, versteckt werden. Eine verantwortungsvolle Aufarbeitung und Auseinandersetzung tut weiterhin dringend not, um einer zunehmenden Gesellschaftsfähigkeit von geschichtsrevisionistischen, ethnonationalistischen und antisemitischen Aussagen entschieden entgegenzuwirken. Zu häufig bereits ist ein kollektives Erinnern von Verdrängung statt verantwortungsbewusster kritischer Auseinandersetzung geprägt.
Hierzu bedarf es historisch-politischer Bildungssettings, die eine kritisch reflektierte und emanzipative Meinungsbildung, basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen, ermöglichen. Historisch-politische Bildung muss dabei einen festen und zentralen Rahmen im Schulunterricht, in der Aus-, Fort und Weiterbildung und in Hochschulen erhalten.