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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichtsrevisionismus gesellschaftsfähig?

Im In- und Aus­land gilt die deut­sche Erin­ne­rungs­po­li­tik, der Umgang mit der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Geschich­te und der Sho­ah als bei­spiel­haft. Die­ses Bild muss jedoch teil­wei­se bröckeln: So fin­den sich in Lan­des- und Bun­des­par­la­men­ten immer mehr Abge­ord­ne­te, die eth­no­na­tio­na­li­sti­sches Gedan­ken­gut zum Aus­druck brin­gen und geschichts­re­vi­sio­ni­sti­sche bis hin zu anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen unver­hoh­len täti­gen. Die Anzahl der poli­zei­lich erfass­ten anti­se­mi­ti­schen Delik­te sind 2020 gegen­über dem Vor­jahr um 319 auf 2.351 ange­stie­gen. Vor zehn Jah­ren lag die Zahl der Delik­te bei 1.268. Die Gren­zen des Sag­ba­ren und des »Mach­ba­ren« schei­nen sich wei­ter nach rechts zu verschieben.

Jüngst wur­den im Zusam­men­hang mit dem Kon­flikt zwi­schen Isra­el und den Palä­sti­nen­sern hier­zu­lan­de Isra­el-Fah­nen in Brand gesetzt, Syn­ago­gen mit Stei­nen bewor­fen und Denk­mä­ler geschän­det. Öffent­lich wer­den im Rah­men der Coro­na-Pan­de­mie immer wie­der Gleich­set­zun­gen mit Gege­ben­hei­ten um die NS-Zeit her­um ange­stellt. So wer­den von Coro­na-Leug­nern, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern und Rech­ten die der­zei­ti­gen Ein­schrän­kun­gen nicht sel­ten mit der dama­li­gen Situa­ti­on um 1933 und dem Ermäch­ti­gungs­ge­setz gleich­ge­setzt. Auf den Quer­denker­de­mon­stra­tio­nen sieht man gel­be Ster­ne, die an die »Juden­ster­ne« der NS-Zeit erin­nern sol­len. Ande­re ver­glei­chen sich mit dama­li­gen Wider­stands­kämp­fern und mei­nen, gera­de ähn­li­ches durch­le­ben zu müs­sen. Jana aus Kas­sel ver­glich sich auf einer Kund­ge­bung gar mit der vom NS-Regime hin­ge­rich­te­ten Wider­stands­kämp­fe­rin Sophie Scholl, und für den Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Ste­fan Hom­burg sind die aktu­el­len Ein­schrän­kun­gen nichts ande­res als die Repres­sio­nen seit 1933. Die For­de­rung vom AFD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Björn Höcke nach einer 180 Grad-Wen­dung im Zusam­men­hang mit der Erin­ne­rungs­po­li­tik und die Pos­se um das Ber­li­ner Holo­caust-Denk­mal, das er als »Denk­mal der Schan­de« bezeich­ne­te, unter­mau­ern – eben­so wie die soge­nann­ten »Quer­den­ker-Demon­stra­tio­nen« am Jah­res­tag der Novem­ber­po­gro­me – die Dis­kurs­ver­schie­bung nach rechts und das bewuss­te Koket­tie­ren mit geschicht­li­chen Ereignissen.

Sol­che geschichts­ver­fäl­schen­den, dif­fa­mie­ren­den Aus­sa­gen und geschichts­re­la­ti­vie­ren­den Hand­lun­gen sind nicht nur infan­til, sie müs­sen zwei­fels­oh­ne als instinkt­los und als Ver­höh­nung der Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus bezeich­net wer­den. Sie ver­deut­li­chen dar­über hin­aus, dass das vor­bild­haf­te Bild der deut­schen Erin­ne­rungs­po­li­tik zumin­dest in Tei­len unhalt­bar ist. So war die Bun­des­re­pu­blik der Nach­kriegs­zeit viel­mehr damit beschäf­tig, sich ihrer Alt­la­sten zu ent­le­di­gen, als einer fun­dier­ten Auf­ar­bei­tung der Geschich­te nach­zu­kom­men. Nicht sel­ten wur­den Irr­we­ge einer ver­meint­li­chen Auf­ar­bei­tung, die gegen­tei­li­ges – näm­lich Ver­drän­gung und Ver­leum­dung – bewirk­ten, beschrit­ten. So erfolg­te im Nach­kriegs­deutsch­land eine beruf­li­che und poli­ti­sche Inte­gra­ti­on vie­ler Nazi­tä­ter. Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Samu­el Salz­born kon­sta­tiert in sei­nem streit­ba­ren, aber lesens­wer­ten Essay »Kol­lek­ti­ve Unschuld. Die Abwehr der Sho­ah im deut­schen Erin­nern«, dass »die Geschichts­ver­ges­sen­heit (…) beson­ders dann in der bun­des­deut­schen Geschich­te zu atte­stie­ren (ist), wenn es um den Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Sho­ah geht.« Wei­ter­hin bezeich­net er die Auf­ar­bei­tung des Natio­nal­so­zia­lis­mus als »größ­te Lebens­lü­ge der Bundesrepublik«.

Die skiz­zier­ten Ereig­nis­se und Ent­wick­lun­gen zei­gen auf, dass erin­ne­rungs- und bil­dungs­po­li­tisch Ver­säum­nis­se statt­ge­fun­den haben. Der erin­ne­rungs­kul­tu­rel­le Duk­tus ist in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der zu einem ver­meint­li­chen deut­schen Opfer­zen­tris­mus ver­kom­men, der zum Bei­spiel die Opfer­er­fah­run­gen im Rah­men der Sho­ah mit den Ver­trei­bun­gen aus den Ost­ge­bie­ten oder den Bom­bar­de­ments durch die Allei­er­ten gleichsetzt.

Viel mehr noch als bis­her müs­sen Täter­bio­gra­fien in den Blick genom­men wer­den – wie etwa in der bei­spiel­haf­ten Stu­die des Histo­ri­kers Micha­el Wildt: »Die Gen­ra­ti­on des Unbe­ding­ten. Das Füh­rungs­korps des Reichs­si­cher­heits­haupt­am­tes«. Aber nicht nur die Wis­sen­schaft ist gefor­dert. Auch in der eige­nen Fami­li­en­hi­sto­rie und im Freun­des- sowie Bekann­ten­kreis soll­te nach Tätern, Mit­läu­fern und Unter­stüt­zern gefragt und sich nicht län­ger hin­ter einem Opfer­pa­ra­dig­ma, wie er unter ande­rem häu­fig von Ver­trie­be­nen­ver­bän­den auf­recht­erhal­ten wird, ver­steckt wer­den. Eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Auf­ar­bei­tung und Aus­ein­an­der­set­zung tut wei­ter­hin drin­gend not, um einer zuneh­men­den Gesell­schafts­fä­hig­keit von geschichts­re­vi­sio­ni­sti­schen, eth­no­na­tio­na­li­sti­schen und anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen ent­schie­den ent­ge­gen­zu­wir­ken. Zu häu­fig bereits ist ein kol­lek­ti­ves Erin­nern von Ver­drän­gung statt ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ter kri­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung geprägt.

Hier­zu bedarf es histo­risch-poli­ti­scher Bil­dungs­set­tings, die eine kri­tisch reflek­tier­te und eman­zi­pa­ti­ve Mei­nungs­bil­dung, basie­rend auf aktu­el­len wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen und Erfah­run­gen, ermög­li­chen. Histo­risch-poli­ti­sche Bil­dung muss dabei einen festen und zen­tra­len Rah­men im Schul­un­ter­richt, in der Aus-, Fort und Wei­ter­bil­dung und in Hoch­schu­len erhalten.