Ein dokumentarischer Roman ist ein eisernes Holz, Romanerzählung und Dokumentation sind Gegensätze, die einander ausschließen. Trotzdem hat es seinen guten Sinn, dass Gernot Häublein in seinem Buch »Die Gehorsamen« die Schicksale dreier verschwägerter fränkischer Familien aus der Zeit der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus mit historiografischer Dokumentation ergänzend durchmischt und das Ganze einen »dokumentarischen Roman« nennt. Denn das Spannungsverhältnis zwischen der subjektiven und der objektiven Ebene, zwischen Einzelbiografie und Geschichtsprozess ist auch das Grunddilemma der sogenannten Erinnerungskultur, für die weder reines Faktenwissen noch bloße Empathie mit den Opfern allein schon ausreicht.
Bei Häublein ist sogar das Romanhafte von diesem inneren Widerspruch durchzogen. Denn erzählt wird nicht von fiktiven Figuren, die sich einem dichterischen Konzept beliebig einpassen lassen, sondern von realen Menschen, die tatsächlich existiert haben und damit einen Umriss vorgeben, der nicht abgewandelt, sondern lediglich mit etwas Farbe ausgemalt werden darf. Diese Einschränkung der erzählerischen Fantasie und Freiheit vermag Häublein fruchtbar zu machen für eine außerordentliche emotionale Vertiefung, weil die Familien, um die es geht, aufs engste mit seiner eigenen Herkunft, seinem Lebenshintergrund, verwoben sind.
Von Satz zu Satz spürt man, dass der Autor sich in sehr vielen Jahren abgearbeitet hat an einem überkommenen Leidenskosmos, und muss, wenn man kein Weltmeister der Abgebrühtheit ist, beim Lesen immer wieder erschüttert innehalten. Einschübe historischer Wissensvermittlung geben hier dem Gefühl eine Verschnaufpause, indem sie versachlichend an den Verstand appellieren, und dieser Wechsel der Ebenen, vergleichbar der Unterscheidbarkeit und doch Zusammengehörigkeit von Einatmen und Ausatmen, macht dieses Buch so wirksam als lebensnahe Vergegenwärtigung einer problembeladenen Vergangenheit.
Gehorsam sind die Menschen, von denen erzählt wird, eigentlich nicht so sehr gewohnten Obrigkeiten als vielmehr den Denkmustern diffuser Ideologien. Letztlich sind sie nicht gehorsam, sondern eher ausgeliefert. Das gilt zu Beginn für Dora Türk, die den jungen Anton Roth, der sie geschwängert hat, von sich stößt, weil er der Sohn eines getauften Juden ist. Es gilt für Anton, der nur noch im Selbstmord einen Ausweg sieht, und auf andere Weise für den Lehrer Karl Fleischmann, der die uneheliche Tochter Doras und Antons heiratet, zum begeisterten Nazi wird, am Ende ein dramatisches Spruchkammerverfahren durchläuft, das zum Berufsverbot führt, und eine ironische Schlusspointe setzt, indem er das goldene NSDAP-Parteiabzeichen mit der sehr frühen Mitgliedsnummer 109 mit ins Grab nimmt. Ergänzend zu diesen Lebensschilderungen gibt es in vielen dokumentarischen Zwischentexten detailreiche und fundierte Information über den Aufstieg der NSDAP zur totalitären Herrschaft, den Kriegsverlauf und die kontinuierliche Steigerung der Judenverfolgung bis zur Ermordung von Millionen.
Weil dieses Buch, in rhythmischem Wechsel, Herz und Hirn gleichermaßen anspricht, dürfte es hervorragend geeignet sein, nachwachsende Generationen mit einer Geschichte vertraut zu machen, die erinnert werden muss, um vergangen zu sein.
Gernot Häublein: Die Gehorsamen. Dokumentarischer Roman über drei deutsche Familien 1878-1949. Vergangenheitsverlag, 456 Seiten, 18