Nach einem vorab bekannt gewordenen »Strategiepapier«, das die FAZ am 13. Mai der deutschen Öffentlichkeit vorstellte, will die Europäische Union bis zum Jahre 2027 »unabhängig von russischem Gas, Öl und russischer Kohle« werden. Ziel sei eine »Entkoppelung« von Russland, für die in den kommenden fünf Jahren 195 Milliarden Euro bereitgestellt werden sollen.
Die EU und die USA nehmen immer klarer Kurs darauf, zwischen sich und Russland einen eisernen Vorhang hinunterzulassen, durch den schon in naher Zukunft keine Kanne Öl, kein Kubikmeter Gas, kein Weizenkorn und kein Geldschein mehr seinen Besitzer wechseln soll.
Das wäre – von allen friedenspolitischen Aspekten einmal ganz abgesehen – schon unvernünftig genug, wenn es tatsächlich gelänge, das größte Land der Erde mit seinen über 140 Millionen Einwohnern vom restlichen Weltmarkt abzukoppeln. Wer die Berichterstattung in den letzten Monaten aber aufmerksam verfolgt hat, weiß, dass sich die Verhältnisse in eine ganz andere Richtung entwickeln. Als Ende April der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Japan besuchte, war zu lesen, dass er damit das Land stärken wolle, das sich als einziges außer drei anderen Ländern des asiatischen Kontinents den Sanktionsmaßnahmen der Nato-Staaten gegen Russland angeschlossen habe. Unter diesen vier war die Insel Taiwan, die völkerrechtlich kein eigenständiger Staat ist, schon mitgezählt. Wer also zwischen den Zeilen lesen konnte (diese Fähigkeit wird heutzutage auch hierzulande immer wichtiger), wusste: Der größte Kontinent der Weltkugel macht den Kurs auf »Entkoppelung« von Russland nicht mit. Nicht nur China, sondern auch Indien profitiert im Moment durch Rabatte auf russisches Öl und demnächst wahrscheinlich auch auf russisches Gas von diesem tendenziell größenwahnsinnigen Kurs des Wertewestens. Nicht Russland wird gegenwärtig ökonomisch isoliert, sondern Westeuropa zieht sich mit den USA in eine ökonomische Schmollecke zurück.
Zu den Hochzeiten der Globalisierung gab es weltweit eine Verneigung an das »Kommunistische Manifest«, in dem Karl Marx und Friedrich Engels auf Drang zur Herstellung eines einheitlichen Weltmarktes hingewiesen hatten: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.«
Zehn Jahre nach diesem 1848 veröffentlichten Manifest formulierte Marx in einem Brief an Engels diesen Gedanken noch schärfer: »Wir können nicht leugnen, dass die bürgerliche Gesellschaft zum 2tenmal ihr 16tes Jahrhundert erlebt hat, ein 16tes Jahrhundert, von dem ich hoffe, dass es sie ebenso zu Grabe läutet, wie das erste sie ins Leben poussierte. Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens den Umrissen nach, und einer auf seiner Basis beruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan zum Abschluss gebracht.«
Im folgenden Verlauf dieses interessanten Briefes vom 8. Oktober 1858 wird auch die Frage aufgeworfen, ob nicht eine mögliche Revolution auf dem europäischen Kontinent (»diesem kleinen Winkel«) nicht »notwendig gecrusht«, also zerdrückt wird, »da auf viel größerm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant (aufsteigend – M.S.) ist«.
Aber die Tendenz schien beiden damals schon eindeutig: Herstellung eines einheitlichen Weltmarktes. Unterbrochen von den imperialistischen Weltkriegen und vor allem gestört vom Aufstieg der ersten sozialistischen Weltmacht, der mit der Oktoberrevolution 1917 begann und 1990 mit der Auflösung der Sowjetunion endete, schien die Bourgeoisie zu Beginn unseres Jahrhunderts am Ziel: Sie war drauf und dran, ihre »eigentliche Aufgabe«, die »Herstellung des Weltmarkts« zu erfüllen. Russland lag am Boden und sollte die Funktion eines Lieferanten für Rohstoffe und Halbfertigprodukte zugewiesen bekommen. China sollte in den kapitalistischen Weltmarkt so integriert werden, dass über kurz oder lang auch seine sozialistische Orientierung und sein Festhalten an Marx und Engels im Sande verlaufen. So war der Plan, um die »eigentliche Aufgabe« zu erfüllen.
Nun liegt das alles in Scherben. Das Hauptergebnis des Wirtschaftskrieges gegen Russland ist dies: Die »Bourgeoisie«, um im Sprachbild des 19. Jahrhunderts zu bleiben, versemmelt ihre »eigentliche Aufgabe« der Herstellung eines Weltmarkts »wenigstens seinen Umrissen nach«. Stattdessen deutet sich eine Zweiteilung des Weltmarktes an. Auf der einen Seite steht der fast geschlossene asiatische Kontinent, in dem Indien, China, Russland, Iran und alle anderen Länder bis auf Japan, Südkorea und Singapur miteinander Handel treiben. Dieser Gruppe haben sich die meisten afrikanischen und sogar die meisten südamerikanischen Länder angeschlossen, die ebenfalls weiter Handelsschiffe nach Russland schicken und von dort empfangen. Westeuropa und die USA aber haben sich mit ihren wenigen Getreuen von den russischen Rohstoffen und Produkten abgeschnitten. Den Preis zahlen vor allem völlig unbeteiligte Länder, denen jetzt sogar der Weizen knapp und das Brot unerschwinglich teuer wird. Neben Russland selbst leiden aber auch die Völker mindestens Westeuropas, bei denen ebenfalls das Brot und alle Energiekosten im Preis rasant steigen.
Marx‘ Hoffnung, dass schon das 19. Jahrhundert den Kapitalismus »zu Grabe läutet«, hat sich nicht erfüllt. Vielleicht gelingt es mit zwei Jahrhunderten Verzögerung den jetzt Lebenden. Mit Sicherheit aber lässt sich schon heute sagen: Die Herstellung einer einheitlichen harmonischen Weltwirtschaft, diese »eigentliche Aufgabe« der kapitalistisch geprägten Welt, wird dieses Jahrhundert nicht sehen. Dazu bedarf es einer Gesellschaft, die nicht auf dem Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln mit dem Ziel beruht, aus beidem möglichst viel Profit herauszuschlagen. Die Welt als einer wirtschaftlichen Einheit zum Wohle aller Menschen dieses Planeten wird es nur auf sozialistischem Wege geben.