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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichtliche Aufgabe versemmelt

Nach einem vor­ab bekannt gewor­de­nen »Stra­te­gie­pa­pier«, das die FAZ am 13. Mai der deut­schen Öffent­lich­keit vor­stell­te, will die Euro­päi­sche Uni­on bis zum Jah­re 2027 »unab­hän­gig von rus­si­schem Gas, Öl und rus­si­scher Koh­le« wer­den. Ziel sei eine »Ent­kop­pe­lung« von Russ­land, für die in den kom­men­den fünf Jah­ren 195 Mil­li­ar­den Euro bereit­ge­stellt wer­den sollen.

Die EU und die USA neh­men immer kla­rer Kurs dar­auf, zwi­schen sich und Russ­land einen eiser­nen Vor­hang hin­un­ter­zu­las­sen, durch den schon in naher Zukunft kei­ne Kan­ne Öl, kein Kubik­me­ter Gas, kein Wei­zen­korn und kein Geld­schein mehr sei­nen Besit­zer wech­seln soll.

Das wäre – von allen frie­dens­po­li­ti­schen Aspek­ten ein­mal ganz abge­se­hen – schon unver­nünf­tig genug, wenn es tat­säch­lich gelän­ge, das größ­te Land der Erde mit sei­nen über 140 Mil­lio­nen Ein­woh­nern vom rest­li­chen Welt­markt abzu­kop­peln. Wer die Bericht­erstat­tung in den letz­ten Mona­ten aber auf­merk­sam ver­folgt hat, weiß, dass sich die Ver­hält­nis­se in eine ganz ande­re Rich­tung ent­wickeln. Als Ende April der deut­sche Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz Japan besuch­te, war zu lesen, dass er damit das Land stär­ken wol­le, das sich als ein­zi­ges außer drei ande­ren Län­dern des asia­ti­schen Kon­ti­nents den Sank­ti­ons­maß­nah­men der Nato-Staa­ten gegen Russ­land ange­schlos­sen habe. Unter die­sen vier war die Insel Tai­wan, die völ­ker­recht­lich kein eigen­stän­di­ger Staat ist, schon mit­ge­zählt. Wer also zwi­schen den Zei­len lesen konn­te (die­se Fähig­keit wird heut­zu­ta­ge auch hier­zu­lan­de immer wich­ti­ger), wuss­te: Der größ­te Kon­ti­nent der Welt­ku­gel macht den Kurs auf »Ent­kop­pe­lung« von Russ­land nicht mit. Nicht nur Chi­na, son­dern auch Indi­en pro­fi­tiert im Moment durch Rabat­te auf rus­si­sches Öl und dem­nächst wahr­schein­lich auch auf rus­si­sches Gas von die­sem ten­den­zi­ell grö­ßen­wahn­sin­ni­gen Kurs des Wer­te­we­stens. Nicht Russ­land wird gegen­wär­tig öko­no­misch iso­liert, son­dern West­eu­ro­pa zieht sich mit den USA in eine öko­no­mi­sche Schmoll­ecke zurück.

Zu den Hoch­zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung gab es welt­weit eine Ver­nei­gung an das »Kom­mu­ni­sti­sche Mani­fest«, in dem Karl Marx und Fried­rich Engels auf Drang zur Her­stel­lung eines ein­heit­li­chen Welt­mark­tes hin­ge­wie­sen hat­ten: »Das Bedürf­nis nach einem stets aus­ge­dehn­te­ren Absatz für ihre Pro­duk­te jagt die Bour­geoi­sie über die gan­ze Erd­ku­gel. Über­all muss sie sich ein­ni­sten, über­all anbau­en, über­all Ver­bin­dun­gen her­stel­len. Die Bour­geoi­sie hat durch ihre Explo­ita­ti­on des Welt­markts die Pro­duk­ti­on und Kon­sum­ti­on aller Län­der kos­mo­po­li­tisch gestaltet.«

Zehn Jah­re nach die­sem 1848 ver­öf­fent­lich­ten Mani­fest for­mu­lier­te Marx in einem Brief an Engels die­sen Gedan­ken noch schär­fer: »Wir kön­nen nicht leug­nen, dass die bür­ger­li­che Gesell­schaft zum 2tenmal ihr 16tes Jahr­hun­dert erlebt hat, ein 16tes Jahr­hun­dert, von dem ich hof­fe, dass es sie eben­so zu Gra­be läu­tet, wie das erste sie ins Leben pous­sier­te. Die eigent­li­che Auf­ga­be der bür­ger­li­chen Gesell­schaft ist die Her­stel­lung des Welt­markts, wenig­stens den Umris­sen nach, und einer auf sei­ner Basis beru­hen­den Pro­duk­ti­on. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolo­ni­sa­ti­on von Kali­for­ni­en und Austra­li­en und dem Auf­schluss von Chi­na und Japan zum Abschluss gebracht.«

Im fol­gen­den Ver­lauf die­ses inter­es­san­ten Brie­fes vom 8. Okto­ber 1858 wird auch die Fra­ge auf­ge­wor­fen, ob nicht eine mög­li­che Revo­lu­ti­on auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent (»die­sem klei­nen Win­kel«) nicht »not­wen­dig gecrusht«, also zer­drückt wird, »da auf viel grö­ßerm Ter­rain das move­ment der bür­ger­li­chen Gesell­schaft noch ascen­dant (auf­stei­gend – M.S.) ist«.

Aber die Ten­denz schien bei­den damals schon ein­deu­tig: Her­stel­lung eines ein­heit­li­chen Welt­mark­tes. Unter­bro­chen von den impe­ria­li­sti­schen Welt­krie­gen und vor allem gestört vom Auf­stieg der ersten sozia­li­sti­schen Welt­macht, der mit der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on 1917 begann und 1990 mit der Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on ende­te, schien die Bour­geoi­sie zu Beginn unse­res Jahr­hun­derts am Ziel: Sie war drauf und dran, ihre »eigent­li­che Auf­ga­be«, die »Her­stel­lung des Welt­markts« zu erfül­len. Russ­land lag am Boden und soll­te die Funk­ti­on eines Lie­fe­ran­ten für Roh­stof­fe und Halb­fer­tig­pro­duk­te zuge­wie­sen bekom­men. Chi­na soll­te in den kapi­ta­li­sti­schen Welt­markt so inte­griert wer­den, dass über kurz oder lang auch sei­ne sozia­li­sti­sche Ori­en­tie­rung und sein Fest­hal­ten an Marx und Engels im San­de ver­lau­fen. So war der Plan, um die »eigent­li­che Auf­ga­be« zu erfüllen.

Nun liegt das alles in Scher­ben. Das Haupt­er­geb­nis des Wirt­schafts­krie­ges gegen Russ­land ist dies: Die »Bour­geoi­sie«, um im Sprach­bild des 19. Jahr­hun­derts zu blei­ben, ver­sem­melt ihre »eigent­li­che Auf­ga­be« der Her­stel­lung eines Welt­markts »wenig­stens sei­nen Umris­sen nach«. Statt­des­sen deu­tet sich eine Zwei­tei­lung des Welt­mark­tes an. Auf der einen Sei­te steht der fast geschlos­se­ne asia­ti­sche Kon­ti­nent, in dem Indi­en, Chi­na, Russ­land, Iran und alle ande­ren Län­der bis auf Japan, Süd­ko­rea und Sin­ga­pur mit­ein­an­der Han­del trei­ben. Die­ser Grup­pe haben sich die mei­sten afri­ka­ni­schen und sogar die mei­sten süd­ame­ri­ka­ni­schen Län­der ange­schlos­sen, die eben­falls wei­ter Han­dels­schif­fe nach Russ­land schicken und von dort emp­fan­gen. West­eu­ro­pa und die USA aber haben sich mit ihren weni­gen Getreu­en von den rus­si­schen Roh­stof­fen und Pro­duk­ten abge­schnit­ten. Den Preis zah­len vor allem völ­lig unbe­tei­lig­te Län­der, denen jetzt sogar der Wei­zen knapp und das Brot uner­schwing­lich teu­er wird. Neben Russ­land selbst lei­den aber auch die Völ­ker min­de­stens West­eu­ro­pas, bei denen eben­falls das Brot und alle Ener­gie­ko­sten im Preis rasant steigen.

Marx‘ Hoff­nung, dass schon das 19. Jahr­hun­dert den Kapi­ta­lis­mus »zu Gra­be läu­tet«, hat sich nicht erfüllt. Viel­leicht gelingt es mit zwei Jahr­hun­der­ten Ver­zö­ge­rung den jetzt Leben­den. Mit Sicher­heit aber lässt sich schon heu­te sagen: Die Her­stel­lung einer ein­heit­li­chen har­mo­ni­schen Welt­wirt­schaft, die­se »eigent­li­che Auf­ga­be« der kapi­ta­li­stisch gepräg­ten Welt, wird die­ses Jahr­hun­dert nicht sehen. Dazu bedarf es einer Gesell­schaft, die nicht auf dem Pri­vat­ei­gen­tum an Grund und Boden und Pro­duk­ti­ons­mit­teln mit dem Ziel beruht, aus bei­dem mög­lichst viel Pro­fit her­aus­zu­schla­gen. Die Welt als einer wirt­schaft­li­chen Ein­heit zum Woh­le aller Men­schen die­ses Pla­ne­ten wird es nur auf sozia­li­sti­schem Wege geben.