Es erscheint als Widerspruch und ist – je nach Betrachtungsweise – sicherlich einer. Im Alltag begegnet uns Historie als Vergangenheit auf Schritt und Tritt – in Straßennamen, als Denkmal, Mahnmal oder Erinnerungsort, als Stolperstein, in Akten, Annalen und zeitgemäß im Internet. Über das Fach Geschichte in der Schule und seine Wertigkeit wäre gleichfalls nachzudenken. Landen wir in der Gegenwart.
Wie gehen wir mit Geschichte um, wie deuten wir Vergangenes mit dem Blick der heutigen Tage? Da gibt es die Deutungskämpfe der Historikerzunft wie Defizite allgemein beim Normalbürger, in den Medien und der Politik im Besonderen. Dort zählt nur, was ins gängige Bild passt oder mit entsprechender Wortwahl passend gemacht wird.
75 Jahre nach Beginn der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher und den Nazi-Klüngel erscheint es fast sensationell, dass endlich die besonders hohe NS-Belastung bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wissenschaftlich erforscht und publik gemacht wurde. Die Ergebnisse einer umfangreichen Studie des Rechtswissenschaftlers Christoph Safferling und des Historikers Friedrich Kießling zu ihren Forschungen liegen nun als Buch vor (»Staatsschutz im Kalten Krieg – Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Belastung, Spiegel-Affäre und RAF«).
Das Resultat an sich steht außer Frage. Bei den für die Strafverfolgung verantwortlichen Bundesanwälten waren 1966 zehn von elf früher NSDAP-Mitglieder. Dies entspricht einer Quote von 91 Prozent. Ist es die ganze Wahrheit? Warum erst jetzt? Am 2. Juli 1965 war auf einer internationalen Pressekonferenz von der DDR das Braunbuch »Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin« publik gemacht worden. Es enthielt die Namen von 2300 Nazi-Aktivisten mit allein 1118 Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern. So den des ehemaligen Generalbundesanwalts Wolfgang Fränkel. Seine berufliche Vita ist charakteristisch und bis heute geschönt.
Wenige Monate nach seiner Ernennung wurde Fränkel am 24. Juli 1962 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Wolfgang Fränkel sei als sogenannter »Hilfsarbeiter« von 1936 bis 1945 bei der Reichsanwaltschaft für die Bearbeitung von »Nichtigkeitsbeschwerden« zuständig gewesen. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er in mehreren Dutzend Fällen die Todesstrafe beantragt.
Konnte ein Hilfsarbeiter Todesstrafen fordern? Laut DDR-Braunbuch war der Mann Stellvertretender Reichsanwalt beim Reichsgericht in Leipzig. Und als Generalbundesanwalt kam er nicht von einem anderen Stern, sondern hatte sich zuvor von 1947 bis 1951 am Amtsgericht Rendsburg sowie von 1951 bis 1962 bereits als Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof seine Meriten auf der Karriereleiter erworben.
Die Kalte-Kriegs-Mentalität in und nach der Adenauer-Ära stand jeglichen Ansätzen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung entgegen. Womit wir bei den andauernden Deutungskämpfen und neuzeitlichen Betrachtungsweisen wären.
Vom 5. bis 8. Oktober 2021 hatte die Ludwig-Maximilians-Universität München zum 53. Historikertag geladen. Dank hervorragender Organisation war es Corona trotzend gelungen, erstmals eine digitale Kongresswoche mit rund 3.000 Besucherinnen und Besuchern aus dem In- und Ausland nicht nur reibungslos zu ermöglichen, sondern mit einem breiten Themenspektrum vom Altertum bis zur Zeitgeschichte aufzuwarten. Aus Sicht der Historiker wird über konkurrierende Deutungen der Vergangenheit nicht zuletzt die Zukunft verhandelt. Geschichtswissenschaft ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis für die Komplexität der Gegenwart und konkurrierende Perspektiven. Deshalb vor allem wird eine ständige, offensive und öffentliche Auseinandersetzung um solche Deutungen angesichts politisierter Angriffe auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse heute notwendiger denn je.
Hätte sich jemand vor kurzer Zeit vorstellen können, dass in einer Sektion des Kongresses die DDR-Aufarbeitung im »Zeitgeschichtsbiotop« der 1990er-Jahre in München einer anderen Ausgangsthese nachgegangen wurde? Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hatte nämlich nicht allein die Veränderung der staatlichen Strukturen zur Folge. Einher ging mit den bundesdeutschen Institutionen ein erinnerungskulturelles Wertesystem mit eingeführten Blickwinkeln auf die deutsch-deutsche Geschichte. Den Debatten liegen bis heute, vornehmlich in der Politik, die Diskursbedingungen der (alten) Bundesrepublik zugrunde, in die sich DDR-Themen und -Akteure integrieren mussten. In dieser Hinsicht dienten letztere der Bestätigung bestehender bundesrepublikanischer Selbst- und DDR-Geschichtsbilder.
Mit einem der Konflikte befasste sich Dr. Krijn Thijs vom »Duitsland Instituut« Amsterdam. Unter dem Titel »Überforderte Evaluierung. Wie Gutachter aus dem Westen den Geisteswissenschaften der (ehemaligen) DDR begegneten« untersuchte er unvoreingenommen Praktiken, Erfahrungen und Ergebnisse der Gutachtergremien im Evaluierungsverfahren der Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR. Am Beispiel der Arbeitsgruppe Geisteswissenschaften des Wissenschaftsrates sei bei den »Erkundungsreisen« der westdeutschen Gutachter deutlich geworden, dass ostdeutsche Gesprächspartner auf Augenhöhe fast völlig fehlten und bundesdeutsche Erwartungsrahmen und Diskussionslinien in den Osten hinein verlängert wurden. Diese Konstellation, so seine Ausgangsthese, habe dazu geführt, dass die »Vereinigungs«-konflikte des Jahres 1990 die ostdeutsche Forschungslandschaft auf viele Jahre (angemerkt: bis auf den heutigen Tag!) prägten. Der Tagesspiegel ging just vor einem Jahr der Frage nach, woran es liegt, dass kaum Ostdeutsche an der Spitze von Hochschulen stehen. Zum einen, weil die Lehrkörper zu einem guten Teil aus Personen bestünden, die ihre ersten akademischen Schritte in Westen getan haben und dort sozialisiert wurden (Selbstdarstellung). Zum anderen, weil es, wie in anderen Bereichen auch, Seilschaften gibt, wo dann die Stimme eher dem Kollegen aus dem Westen gegeben wird und nicht der Kandidatin aus dem Osten.
Ähnliches vollzog sich, heute fast vergessen, in gleicher Weise in den Naturwissenschaften und anderen Bereichen. So wurde das Zentralinstitut für Physikalische Chemie (ZIPC), das 1990 etwa 750 Mitarbeiter hatte, am 31. Dezember 1991 gemäß Einigungsvertrag »abgewickelt«. Sämtliche Mitarbeiter erhielten die fristlose Kündigung. Nur die Isothermischen Kugellabore blieben als Baudenkmal »Adlershofer Busen« an der Rudower Chaussee erhalten. Dieser entwürdigende wissenschaftliche und intellektuelle Kahlschlag passt so gar nicht in die fortwährenden Sonntagsreden zu blühenden Landschaften und zur deutsch-deutschen Vereinigungsgeschichte.
Mit Israel war in diesem Jahr ein Partnerland vertreten, das wie wenige andere Länder im Zentrum existentieller historischer und politischer Deutungskämpfe steht. Mit dieser Wahl sollte die besondere Bedeutung der Geschichte Israels und des Nahen Ostens insgesamt für die deutsche und europäische Wissenschaftslandschaft unterstrichen werden. Unter dem Titel »Erfahrung und Erinnerung. Israel, die deutschsprachige Linke und der Holocaust« wurde u. a. das Verhältnis der deutschsprachigen Linken zu Israel aus der bislang wenig beachteten Perspektive ihrer jüdischen Angehörigen betrachtet. Während sich etwa ein Großteil der Linken in Deutschland und Österreich infolge des Sechstagekrieges von Israel abwandte, habe sich eine Reihe linker Juden wie Michael Landmann, Jean Améry, Peter Edel oder Bruno Frei dieser Entwicklung versagt.
1967 hatten es vor allem Arnold Zweig, Peter Edel, Heinz Kamnitzer, Lin Jaldati, der Verbandspräsident der Jüdischen Gemeinden, Helmut Aris, und der Vorsitzende der Ostberliner Gemeinde, Heinz Schenk, abgelehnt, eine öffentliche Stellungnahme gegenüber Israel anlässlich dieses Krieges zu unterzeichnen. Sie wie andere sahen sich nach dem Holocaust wieder als Teil der jüdischen Welt und lehnten Vernichtungsdrohungen ab, obwohl sie der israelischen Politik nicht kritiklos gegenüberstanden. Ein Konfliktstoff der bis zum heutigen Tag alle Antisemitismus-Debatten prägt.
Und was hielt die mediale Öffentlichkeit von diesem Historiker-Kongress und seinen Deutungen? Die digitale Pressekonferenz zum Abschluss offenbarte die entlarvende Abstinenz von Presse, Funk und Fernsehen: Nur einzige Frage, offenbar vorbereitet, lag vor! Willkommen im Alltag der Gegenwart. Prof. Dr. Lutz Raphael, Seniorprofessor an der Universität Trier, mahnte als neugewählter Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V. für die Zukunft an, in der Öffentlichkeit stärker Präsenz zu zeigen und engagiert Stellung zu nehmen. Auch außerhalb des Hohenzollern-Streits bleibt es ein herausfordernder Sisyphos-Kampf gegen Ignoranz und Geschichtsimmunität. Aber nicht nur Historie an sich verfügt über einen langen Atem, sondern ebenso alle, die sich ihr mit Herz und Verstand verschrieben haben. Nach Rom, so heißt es, führen viele Wege. Zur Erkenntnis und Wahrheit desgleichen.
Der 54. Deutsche Historikertag 2023 wird in Leipzig stattfinden.
Postskriptum: Generationen von Juristen haben mit dem »Palandt« mit Kommentierungen zum BGB, dem »Maunz/Dürig« zum Grundgesetz und auch dem »Schönfelder« gearbeitet. Der Verlag C.H.BECK hat sich entschlossen, eine Reihe langjähriger Standardkommentare seines Verlagsprogramms umzubenennen, auf denen als Herausgeber oder Autoren solche Juristen genannt sind, die während der nationalsozialistischen Diktatur eine aktive Rolle eingenommen haben (siehe hierzu schon den Beitrag von Helmut Ortner: »Entnazifizierte Juristen«, in: Ossietzky 19/2021).