In Vorbereitung auf einen Vortrag für das »Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern« (BIP) habe ich in meinen frühen Arbeiten geblättert. Unter dem Titel »Zionismus-Staatsideologie und Rassismus« schrieb ich 1975 einen Kommentar zu der damals gerade verabschiedeten berüchtigten Resolution 3379, mit der die Generalversammlung mit Stimmenmehrheit (72:35:32) »den Zionismus (als) eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung« verurteilte. Ich schrieb damals: »Das nationalsozialistisch-antisemitische Erbe mag noch zu frisch sein, als dass man von der Bundesregierung eine gleiche Erkenntnis der zionistischen Ideologie erwarten könnte, wie von der Mehrheit der UN-Mitglieder. Aber die Bundesregierung stimmte gleichzeitig gegen zwei andere Resolutionen, in denen u. a. das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Staatsgründung und die Gleichberechtigung der Palästinensischen Befreiungsfront (PLO) bei der Teilnahme an allen Nah-Ost-Verhandlungen der UNO anerkannt wird.«
Resolution 3379 wurde im Dezember 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion aufgehoben, der Rassismus der israelischen Politik aber nicht. Und wir müssen feststellen, dass alle Bundesregierungen seitdem in ihrer Nah-Ost Politik immer tiefer auf diesem abschüssigen Weg des moralischen Verfalls auf die falsche Seite der Geschichte gerutscht sind, wie es jüngst Ilan Pappe der deutschen Politik vorgeworfen hat.
Tatsächlich sind inzwischen alle Illusionen, die sich mit den Namen von Oslo, Camp David und Taba verbunden haben, verflogen. Der Streit über eine Ein-Staat oder Zwei-Staaten-Lösung ist rein spekulativ und akademisch. Und seien wir ehrlich, auch der Streit darüber, ob Apartheid und Siedlerkolonialismus nur hasserfüllte Diffamierungen oder zutreffende sozialökonomische Begriffe der israelischen Realität sind, verändert diese Realität nicht. Warum aber stellen sich Politik und Medien so bedingungslos hinter die Verbrechen – denn Siedlungspolitik, Vertreibung und die regelmäßigen Todesopfer sind Verbrechen –, und wie ist dieser Konsens zu durchbrechen, um endlich Gerechtigkeit zu erlangen?
Als Alfred Grosser 2010 zum 72. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November in der Frankfurter Paulskirche sprach, wurde er vom Zentralrat der Juden schon im Vorfeld heftig kritisiert. Und Rafael Seligman warf ihm aus Tel Aviv vor, dass es ungehörig sei, an einem solchen Tag die israelische Regierung wegen ihres Umgangs mit den Palästinensern zu kritisieren. Grosser antwortete: Doch, »man muss es tun. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass junge Deutsche Auschwitz nur gedenken dürfen, wenn sie gleichzeitig für die Gleichheit der Menschen überall auf der Welt eintreten, also auch für die Palästinenser. Das ist die zwingende Konsequenz aus Auschwitz, und ein Gedenken daran verlangt geradezu, das offen auszusprechen.« Das ist die Interpretation von Auschwitz, wie sie Felicia Langer, Lea Zemel, Amira Haas, Gideon Levy, Avraham Burg, Mosche Zuckermann und viele andere Jüdinnen und Juden vertreten – sie ist dennoch eine Mindermeinung, vor allem in Deutschland.
Wer sich die vergangenen Kampagnen gegen Achille Mbembe aus Kamerun wegen einer geplanten Rede auf der Bochumer Ruhr-Triennale, gegen Ferid Esack aus Südafrika wegen einer Rede im Hamburger Rathaus oder Kamila Shamsie aus Großbritannien wegen der Verleihung des Nelly Sachs Preises der Stadt Dortmund in Erinnerung ruft und den Kampf um Veranstaltungsorte bis vor die höchsten Gerichte verfolgt hat, muss feststellen, dass mit der Verschärfung von Landraub und Vertreibung, sprich der Apartheid in Israel und den besetzten Gebieten, die Abwehr jeglicher Kritik an diesen Zuständen sich in gleichem Maße verschärft hat. Die Feststellung, dass die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) antisemitisch ist und damit kein Mittel des Widerstands sein kann, hat sogar parlamentarische Weihe bekommen. Das ist zwar seltsam für einen Staat, der mit immer schärferen Sanktionen gegen Iran, Syrien und Russland sogar an die eigene Schmerzgrenze geht, wird aber dann verständlich, wenn wir die Übermacht der Holocaust-Erinnerung in Rechnung stellen. Dieser Beschluss des Bundestages ist ein Tiefpunkt parlamentarischer Urteilskraft.
Die Einzigartigkeit des Holocaust und die andauernde Verantwortung der Deutschen für die NS-Verbrechen werden zwar schon lange als Fundament der deutschen Staatsräson verstanden. Mit dem Beschluss greift der Bundestag jedoch über seinen Machtbereich hinaus, indem er eine Widerstandsbewegung in Palästina mit diesem Tabu gleichsam illegalisiert. Erinnerung bleibt damit nicht mehr im offenen Feld der Kultur, sondern wird zum Machtfaktor mit exekutiven Befugnissen. Dieses Erinnerungsdiktat überlagert nicht nur alle Entscheidungen über die Zukunft des Neben- oder Miteinander von Israelis und Palästinensern, sondern stellt auch alle Diskussionen über den Konflikt unter das Gebot der Trauerarbeit.
Damit hängt zum Beispiel die Ablehnung zusammen, den Holocaust in die Reihe der Verbrechen des Kolonialismus einzuordnen. Die Kanonisierung der Holocaust-Erinnerung verbietet den Vergleich mit anderen Genoziden. Wie eine unablösbare Hypothek belastet sie alle Versuche, die Vergangenheit zu überwinden und die Zukunft neu zu gestalten. Mit dem scharfen Schwert des Antisemitismusvorwurfs kann sie nicht nur Kritik blockieren und die Meinungsfreiheit zensieren, sondern jede Diskussion unterbinden. Der Mythos der Einzigartigkeit verlangt nicht nur die totale Zuwendung zum israelischen Staat, sondern gleichzeitig den Ausschluss der Palästinenser mit ihren legitimen Ansprüchen gegen die koloniale Unterdrückung. Denn Antizionismus ist danach Antisemitismus. Und so wie der Holocaust keine anderen Genozide neben sich duldet, verträgt die Erinnerungskultur als das moralische Fundament der deutschen Politik keine Gleichbehandlung der Palästinenser. Das verhindert nicht materielle Hilfslieferungen und Entwicklungsprojekte zur Erleichterung der miserablen Situation. Sie macht sie leichter ertragbar, aber ohne sie zu verändern. Ein Gerechtigkeitsvertrag zwischen Israelis und Palästinensern ist auf dieser Basis unmöglich.
Wir wissen zwar, dass die Holocaust-Erinnerungskultur mit all ihren Ritualen, Denkmälern, Verpflichtungen und Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik erst zu ihrer geopolitischen Legitimität verhalf. Weder die Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch der Untergang der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers haben an diesem ideologischen Fundament Deutschlands etwas geändert. Wir müssen aber auch erkennen, dass sie sich wie eine Zwangsjacke um alles legt und einschnürt, was für einen Gerechtigkeitsvertrag mit den Palästinenserinnen und Palästinensern notwendig wäre: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Gewaltfreiheit und Menschenwürde. Um nicht falsch verstanden zu werden: ich bestreite nicht die Einzigartigkeit des Völkermords der Nazis, wende mich aber gegen seine Instrumentalisierung zur Unterbindung von Kritik und zur Rechtfertigung der Besatzung. Wir können nicht akzeptieren, dass sich sein Totalitätsanspruch bis auf die Forderung nach Straffreiheit für Verbrechen der Siedler und der israelischen Armee erstreckt, die die Bundesregierung entgegen all ihren beschworenen Werten unterstützt. Sie wehrte sich gemeinsam mit Israel gegen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs zur Untersuchung möglicher Verbrechen durch die Siedlungspolitik sowie möglicher Kriegsverbrechen im Krieg gegen Gaza 2014 und während des Gaza-Gedenkmarsches 2018. Als sich der Gerichtshof durch diese Allianz, zu der natürlich die USA hinzukommt, nicht beeindrucken ließ, stellte sich die Bundesregierung für die Verteidigung Israels vor dem Gericht zur Verfügung. Seit einem Jahr laufen die Voruntersuchungen. Ob je ein Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs in Israel oder Gaza aufgetaucht ist oder gar eine Anklage vorbereitet wird, ist unbekannt. Dazu wird es auch in absehbarer Zeit nicht kommen, denn der neue Chefankläger Karim Khan hat unmittelbar nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Ermittlungen gegen Russland wegen möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen. Inzwischen hat er 42 Experten zur Sicherung von Beweismaterial in die Ukraine entsandt. Die begrenzten Ressourcen des Strafgerichtshofs lassen weitere Untersuchungen offensichtlich nicht zu.
Doch kommen wir zurück auf die Erinnerungs-Kultur, die wie ein Zivilisationsanspruch keine Entlastung duldet. Solange dieser Anspruch besteht, dient er der Legitimierung einer Politik, die im Gleichschritt mit den jeweiligen israelischen Regierungen alle Verbrechen – zwar mit dem Ausdruck des Bedauerns, manchmal sogar der Bestürzung – mitträgt. Die Folgerung ist klar. Erst wenn dieser Totalitätsanspruch sich nicht mehr über alle Gerechtigkeitsansprüche der Palästinenser legt und sie schon im Ansatz erstickt, wird es einen Ausgleich zwischen den beiden Völkern geben, der den Begriff der Gerechtigkeit verdient. Das würde von der israelischen Gesellschaft die Zustimmung zu einem Frieden ohne Stiefel auf dem Nacken eines kolonisierten Volkes verlangen. Auch die deutsche Politik müsste sich aus den Fesseln ihres Erinnerungsdogmas befreien und den Gerechtigkeitsanspruch der Palästinenser frei von der Holocaustlast anerkennen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich die Legitimität ja Notwendigkeit der Erinnerung an die Verbrechen der Nazizeit bestreite. Die Erinnerung sollte allerdings so weit von einer Palästinapolitik getrennt werden, dass sie einen unabhängigen Umgang mit den legitimen Interessen der palästinensischen Gesellschaft ermöglicht.
Derzeit sind allerdings sowohl die israelische wie die deutsche Politik weit davon entfernt. Es ist schon erstaunlich, dass die deutsche Politik die eigenen, ohne Unterlass mit höchster Emphase beschworenen Werte Lügen straft, wenn es um Israel geht. Nichts, weder die zahllosen Resolutionen der UNO noch die horrenden Opfer der Palästinenser, haben zu einer Korrektur der Politik geführt. Es ist deshalb auch höchst unwahrscheinlich, dass die palästinensische BDS-Bewegung zu einer raschen Veränderung der Politik führen wird. Sie ist jedoch das einzig verbliebene Mittel des Widerstandes, um Gerechtigkeit einzufordern. Die überwältigende Stimmenmehrheit, die regelmäßig in der UNO-Generalversammlung bei Resolutionen zur Verurteilung der israelischen Besatzungspolitik zusammenkommt, hat Israel bisher nicht bewegen können. Kein Staat ist derzeit zu Sanktionen bereit, die sonst ohne Zögern gegen den Iran, Syrien, Nordkorea, Venezuela oder Kuba verhängt werden.
Was aber können wir dazu beitragen, dass diese seit nun über 50 Jahre offene Wunde der Besatzung geschlossen und Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Niemand ist verpflichtet, sich der palästinensischen BDS-Bewegung anzuschließen. Selbst wer sich dazu entschließt, muss sich fragen, ob das genügt und welche Alternativen es gibt. Das ist keine Frage der Resignation. Es gibt viele Möglichkeiten der Solidarität mit dem Widerstand.
1934 schrieb Bertolt Brecht in Berlin sein »Lob der Dialektik«. Stellen Sie sich vor, er hätte es gestern in Jerusalem geschrieben:
»Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
Die Gewalt versichert: So wie es ist, bleibt es.
Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden.
Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut:
Jetzt beginne ich erst.
Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:
Was wir wollen, geht niemals.
Wer noch lebt, sage nicht niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben
Werden die Beherrschten sprechen
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.«
Der Text ist ein Extrakt einer Rede, die der Autor Ende Mai als Eröffnungsvortrag einer Konferenz des »Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern« (BIP) gehalten hat. Der vollständige Wortlaut findet sich unter: www.norman-paech.de.