Immer, wenn die jeweiligen Büchner-Preisträger bekannt gegeben wurden, war ich traurig, weil mein Favorit Christoph Hein es nicht geworden war. Sein umfangreiches Werk verdient meiner Ansicht nach die hohe Auszeichnung mehr als die Bücher der Autoren, die in den letzten Jahren den Preis erhalten haben.
In diesem Jahr also Emine Sevgi Özdamar, und die Lektüre ihres jüngsten Buches »Ein von Schatten begrenzter Raum« versöhnt mich ein bisschen (wenn auch nicht ganz!) mit der Jury. Nicht nur, dass Emine Sevgi Özdamar eine Frau (erst die Zwölfte!) ist, sie ist auch die erste Preisträgerin überhaupt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, macht die diesjährige Entscheidung bedeutend – vor allem geht es doch um Literatur, und da überzeugt die Autorin auf eindrucksvolle Weise. Das Buch ist eine Wucht, hat Charme, ist eigenständig und originell, bilderreich und welthaltig. Es verblüfft und unterhält die Leser immer aufs Neue. Eben große Literatur.
Geboren wurde Emine Sevgi Özdamar 1946 in Malatya/Türkei. Sie erlebte ihre Kindheit in Istanbul. Bereits mit 12 Jahren stand sie auf der Bühne und wollte seitdem nur Schauspielerin werden. Doch vorher arbeitete sie ein halbes Jahr als Gastarbeiterin in einer Elektrofabrik in Deutschland. Dem folgte die Schauspielschule in Istanbul, sie spielte Peter Weiss und Brecht war eine engagierte Studentin, die gegen den Kolonialismus und Imperialismus im eigenen Land aufbegehrte und nach dem Militärputsch nicht mehr sicher war. Sie ging nach Deutschland, arbeitete bei Benno Besson und Matthias Langhoff, war zwischenzeitlich in Paris und Avignon, dann in Bochum bei Claus Peymann und in Gastspielen anderer berühmter Regisseure. In der Türkei hatte sie Medea und die Corday gespielt, in Deutschland wurde sie »berühmt« in Rollen türkischer Putzfrauen. Aber sie setzte sich durch und überzeugte, denn ihrer Kreativität waren keine Grenzen gesetzt: Ob Handpuppen oder Collagen zur jeweiligen Aufführung – immer setzte sich Özdamar mit der anstehenden Aufgabe auf originelle Art auseinander.
1982 erschien ihr erstes schriftstellerisches Werk – die sozialkritische Theaterkomödie »Karagöz in Alemania«. Für einen Text aus dem 1992 veröffentlichten Roman »Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus« erhielt sie 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis. In weiteren Romanen – »Die Brücke vom Goldenen Horn« (1998), »Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding-Pankow 1976/77« (2003) – verarbeitete sie jeweils Stationen ihres Lebens. Immer blieb sie ihrem Stil, der genauen Darstellung der Umwelt, gemischt mit der fantasievollen Schilderung des subjektiven Erlebens treu. Sie erzählt scheinbar ungehemmt, manchmal ausschweifend.
Nach längerer Pause erschien im vergangenen Jahr »Ein von Schatten begrenzter Raum«, eine Autobiographie, freilich in der Art Özdamars. Da reden Wände, und Krähen beraten. Träume nehmen großen Platz ein, und die Autorin streitet mit sich selbst. Fremdsein wird hinterfragt und widerlegt. Auf die Haltung zum Leben kommt es an, und da entwirft Özdamar die große Utopie gelebter Poesie. Sich selbst schildert sie als ständig Lernende, Beobachtende. Die Theater sind Stätten des Suchens und Findens, des freudvollen Miteinanders, letztendlich steht die Vernunft auf dem Plan. Gedichte unterstützen die Bestrebungen. Sie beschreibt die Solidarität und Zärtlichkeit der Theaterleute untereinander, wie viele Kollegen und Freunde gaben ihr Obdach und Hilfe. Das Lebensgefühl triumphiert, weder bloß in Berlin, Istanbul oder Paris, sondern in den Freunden, in den Büchern und Texten und in den Kämpfen der Zeit zuhause zu sein, darin zu wohnen. Immer ist sie sich bewusst, dass das eine Zwischenzeit ist, und »draußen« oder »später« wieder die alltägliche Gewalt, gar Kriege dominieren. Aber jetzt, gerade jetzt genießt sie die Freundschaften, die gegenseitige Hilfe, die Lust am Schöpferischen und die Lebenslust. Sie erlebt, verteilt und erhält Freundlichkeit und Verständnis, und fast könnte man meinen, dass eine solche Existenz lebbar wäre, gäbe es nicht die Schatten, die diesen Raum begrenzen. Özdamar weiß darum, sie bezieht die ganze Welt in ihren literarischen Kosmos ein. Ein großes Buch!
Emine Sevgi Özdamar: »Ein von Schatten begrenzter Raum«, Suhrkamp Verlag, 800 S., 28 €.