Frauke M. war eine intelligente, ehrgeizige Schülerin. Wenn sie in manchen Fächern, etwa in Chemie, nur eine »Zwei« bekam, traten ihr Tränen in die Augen. Später hat sie in diesem Fach promoviert.
Ich war ihr Lehrer, eine Zeitlang in Religion, vor allem aber in Literatur. Sie konnte fantasievoll Erzählungen schreiben. Nach dem Abi heiratete sie einen anderen Schüler aus ihrer Jahrgangsstufe, Sven Petry, der heute ein exzellenter Theologe ist, und trat zur Überraschung vieler in die AfD ein. Dort wurde sie letztlich Vorsitzende. Das war nicht der Weg, den ich mir für meine Schüler wünsche.
In einem Interview für die Zeit habe ich sie, neben meiner Kritik an ihrer Partei, dennoch gelobt als eine intelligente Frau.
2016 kam es dann zu einer folgenschweren Pressekonferenz in Berlin. Die AfD hatte bei zwei Landtagswahlen leider gut abgeschnitten und war mit vielen Abgeordneten in die Landesparlamente eingezogen. Frauke wurde zu diesem Erfolg und zur Politik der AfD befragt und sagte u. a., dass die Ethnisierung der Gewalt in manchen Städten zu »No-Go-Areas« geführt habe. Die Frage eines Journalisten, ob sie solche Bereiche kenne, bejahte sie und nannte als Beispiel die Städte Kamen (wo ich wohne) und Bergkamen (wo sie zur Schule gegangen ist). Das machte mich wütend, denn von »No-Go-Areas« in meinem direkten Umfeld hatte ich noch nie etwas bemerkt. Aber ich war vorsichtig und rief, bevor ich darauf reagierte, zuerst mal meinen ehemaligen Schüler Mike an, der Bezirkspolizist in Bergkamen ist, und fragte ihn, was daran sei. Mike, stellte sich heraus, war genauso wütend wie ich.
»Herr Peuckmann«, rief er, »ich gehe in Uniform und allein in jede Ecke der Stadt, es ist mir noch nie etwas passiert. Keine Gewalt, nicht mal beschimpft werde ich. Alles ist hier völlig ungefährlich. Das ist eine üble Lüge.«
Sie hatte also nicht nur mich provoziert, sondern auch noch den Bergkamener Bezirkspolizisten beleidigt. Sie hatte so getan, als würde Mike seine Arbeit nicht erledigen können.
Ich setzte mich an meinen Computer und schrieb einen Text für Facebook, bestritt die Aussage von den »No-Go-Areas« und hielt ihr vor: anderen Leuten Lügenpresse vorwerfen und selber lügen, wenn es dem eigenen menschenverachtenden Weltbild nützt, das würde passen. Frauke sei zwar eine intelligente, aber nicht kluge Frau, denn zu Klugheit gehöre Moral, und die könne ich bei ihr nicht erkennen. Ich würde mich immer freuen, wenn ich ehemalige Schüler treffen würde, auf eine Begegnung mit Frauke würde ich verzichten. Das sei nicht mein Niveau.
So, das war eindeutig. Dann ging ich in die Stadt, in mein Lieblingscafé, um das Heimatblättchen zu lesen. Als ich nach gut einer Stunde zurückkam, empfing mich mein ältester Sohn stöhnend mit dem Satz: »Es ist gut, dass du kommst, Papa. Hier tobt der Bär. Gerade hat BBC London angerufen.«
Ich dachte, er macht einen Spaß, aber nein, es war wirklich so, BBC hatte angerufen. Und dann klingelte pausenlos das Telefon, alle großen Zeitungen riefen an, auch verschiedene Radiosender. Alle wollten ein Statement von mir, aber ich gab keines mehr. Ich hatte meine Meinung doch gesagt, man konnte es nachlesen, es gab nichts hinzuzufügen.
Anfangs hatte ich geglaubt, mit den Presseanfragen würde sich die Sache beruhigen. Aber dem war nicht so. Als ich bei Facebook nachschaute, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Hunderte Kommentare waren inzwischen abgegeben worden, unglaublich viele Likes hatte ich erhalten.
Am Ende, nach Wochen, hatten 1,2 Millionen Menschen meinen Facebook-Eintrag gelesen, ich hatte 21.000 Likes, aber auch unglaublich viele Hasskommentare. Ich erlebte einen Shitstorm, der sich gewaschen hatte und den ich niemandem wünsche. Es gibt kein Körperteil an mir, an dem ich nicht aufgehängt werden sollte, ich sei ein Versager, der seiner ehemaligen Schülerin nicht den Erfolg gönne, überhaupt sei ich dieses oder jenes. Vor allem mit Tieren wurde ich verglichen.
Gedroht wurde auch. Man würde mich schon erwischen und dann würde ich bezahlen müssen. Einer schrieb: Geh sterben, Opa. Sterben, dachte ich, ist ja in Ordnung, aber Opa ist eine Sauerei.
Ich hatte von Shitstorms gelesen, wie sie Leute ängstigen, selber einen zu erleben, ist aber noch was anderes. Ich zögerte tagelang, ins Internet zu gehen. Was würde da jetzt wieder an Hetze stehen? Die Zeitungsartikel waren eindeutig. Frauke Petri, Rüge von ihrem Lehrer, stand da. Aber auch in sogar seriösen Zeitungen fand ich den Kommentar, dass man als Lehrer so etwas nicht machen dürfe. Niemals dürfe ein Lehrer seine Schülerin derartig in aller Öffentlichkeit kritisieren. Dabei hatte ich ja nicht eine ehemalige Schülerin kritisiert, sondern eine AfD-Politikerin, die mal meine Schülerin gewesen war. Das ist ein Unterschied.
Als ich meinen jüngsten Sohn nach einigen Tagen der Beschimpfungen befragte, ob ich den Eintrag löschen sollte, winkte der ab: »Aber Papa, tu das nicht. Das ist doch lustig.«
Das war ein guter Hinweis, der mir half. Ich entwickelte eine Strategie, wie ich damit fertig werden konnte. Vieles nahm ich mit Humor, ich las auch nicht alles, die Beschimpfungen wiederholten sich, das war langweilig. Vor allem bauten mich die zustimmenden Kommentare auf, darunter auch viele von meinen Schülern: »So kennen wir Sie, Herr Peuckmann, sie haben immer mutig ihre Meinung gesagt.« Es tauchte sogar der Satz auf, dass sie stolz seien, so einen Lehrer gehabt zu haben. Das schmeichelte mir natürlich und wog Hunderte an Hasskommentaren auf.
Trotzdem, ab und an trat ich ans Fenster und schaute, ob sich dort unten Menschen versammelten. Es kam aber keiner. Ich begriff das System. Die Anonymität macht viele schwache und dümmliche Charaktere mutig, aber sich zeigen wollen sie nicht.
Ich wurde ruhiger und am Ende dachte ich wie mein jüngster Sohn: Das ist doch lustig.
Und der Zuspruch hat mich aufgebaut. Irgendwann in dieser Zeit traf ich Fraukes ehemals beste Freundin, mal hat Frauke zu Mittag bei ihren Eltern gegessen, mal war es umgekehrt. Als sie mich sah, kam sie, inzwischen Apothekerin in Würzburg, angelaufen, nahm mich in den Arm und drückte mich.
»Dass Sie das gemacht haben, Herr Peuckmann, wir haben uns alle gefreut.« Ja, an unserer Schule hatte Frauke keine Freunde mehr. Wir seien, schrieb die Zeit, ein »sozialdemokratisches Gymnasium«. Naja, so einfach ist es nicht, aber in der Tendenz ist schon etwas daran.
Ich ging irgendwann sonntags in einen Gottesdienst, der Pfarrer predigte über Mitmenschlichkeit und sah plötzlich mich an. »Heinrich, was du da gerade erlebst«, sagte er mitten in seiner Predigt, »das ist ungeheuerlich. Schrecklich, was du aushalten musst. Aber glaube mir, alle in unserer Gemeinde stehen hinter dir.« Die Gottesdienstbesucher drehten sich um zu mir, nickten, und es gab wirklich Applaus.
Deshalb bin ich im Rückblick gar nicht mehr so sicher, was ich damals erlebt habe. Einen Shitstorm mit Tausenden an Beschimpfungen, mit Drohungen, Beleidigungen sowieso, mit Tiefpunkten menschlichen Verhaltens, so dass man sich für diese Leute schämen muss.
Oder habe ich eine Welle an Zustimmung, an Bestätigung meines Weges erfahren, den ich immer gegangen bin. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr neigte ich dieser Bewertung zu.
Trotzdem, ich will es nicht kleinreden. Was ich erlebt habe, ging schon an die Substanz. Ein Dauerbombardement gegen meine Person! Ich hatte zu jener Zeit eine Lesung in einem Kulturcafé in Leipzig und gebe zu, dass ich mich vor Beginn in einiger Entfernung aufgestellt und beobachtet habe, wer dort hineinging oder sich davor versammelte. Es kam aber nur das französische Fernsehen, und ich begrüßte sie, indem ich meine Freude ausdrückte, dass sie über meinen neuen Roman berichten wollten.
Die beiden Reporter waren etwas irritiert, dann lachten sie. Nein, sie wollten ein Statement zu Frauke Petry. Ja, wer hätte das gedacht? Gut, es waren Wochen verstrichen seit meinem Post und ich gab einen Kommentar ab, in dem ich Frauke und die AfD deutlich kritisierte, in dem ich aber auch sagte, dass es wohl doch noch einen Unterschied zwischen Frauke und Marine Le Pen gebe. Gut, dass war vielleicht der alten, längst verflogenen Zuneigung zu meiner ehemaligen Schülerin geschuldet. Ich bin nachtragend, das stimmt, aber nur, wenn ich selber übel beleidigt und in meinem Stolz verletzt werde. Dann bin ich ein Elefant. Bei Frauke war es etwas anders.
Irgendwann, darüber habe ich mich gefreut, rief Fraukes Mann Sven an, von dem sie sich damals schon getrennt hatte. Nein, die Wende seiner Ex-Frau konnte auch Sven nicht richtig erklären.
Ich weiß noch, dass wir nur kurz über meinen Facebook-Eintrag geredet haben, den er richtig fand, dann trat wieder nach vorn, was uns in der Schule bewegt hatte. Das geistige Leben. Sven ist inzwischen Superintendent der evangelischen Kirche in der Nähe von Dresden, seine Doktorarbeit hat er über die Entwicklung des Gottesbegriffes während der Landnahme, also zur Mose-Zeit, geschrieben. Ein viel beachtetes Werk, ich bin stolz auf diesen ehemaligen Schüler.
Frauke selber hat sich übrigens niemals bei mir gemeldet. Muss auch nicht sein.