2019 veröffentlichte Thomas Ebermann das Buch »Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung« (siehe Ossietzky 11/2019). Es beruhte auf einem satirischen Vortragsprogramm, das er zusammen mit Thorsten Mense gestaltete und das seinerzeit die Säle füllte – ein großer Spaß über die damals grassierende Liebe zum Traulichen. Der Ton war typischer Ebermann: überlegener Spott.
Dann, 2020, kam Corona. Die Säle wurden geschlossen, das Lachen verstummte. Als ein Jahr später hierzu ein neues Buch von Thomas Ebermann angekündigt wurde, konnte man skeptisch sein: War das nicht ein zu ernstes Thema für Satire? Und welche Position war von dem Verfasser zu erwarten? Ein Freund staatlicher Zwänge war er nie gewesen. Würde er sich gegen diese zwecks Verteidigung der Freiheit (zum Beispiel auch der Demonstrationsfreiheit) zur Wehr setzen? Aber an der Seite der Corona-Leugner kann man sich Ebermann überhaupt nicht vorstellen.
Tatsächlich überrascht das Buch. Es ist tiefernst. Der Autor eifert nicht gegen den Lockdown. Im Gegenteil: Dieser geht ihm nicht weit genug. Er wiederholt nicht die zutreffende Kritik, die andernorts ja auch zu lesen ist, nämlich: Die staatlichen Maßnahmen waren auf zwei Zwecke abgestimmt. Erstens sollte das öffentliche Leben so weit eingeschränkt werden, dass die Kapazitäten des heruntergesparten Krankenhauswesens gerade noch ausreichten. Zweitens aber durfte die industrielle Produktion möglichst wenig gestört werden. So starben an Covid-19 Menschen, die jetzt noch leben könnten. Soweit und so bekannt und so traurig.
Ebermanns Kritik setzt eine Ebene tiefer an. Sie zielt auf den Imperativ, es sei recht bald wieder zu den Verhältnissen vor der Pandemie zurückzukehren. Alles müsse wieder so werden, wie es war. Dieser Normalzustand aber war für den Verfasser nie erstrebenswert. Er bedeutet Plackerei und Fremd- und Selbstunterdrückung der Bevölkerungsmehrheit. Ein solches oft gar noch als Glück empfundenes Elend ist dann vollendet, wenn es gar nicht mehr als Last wahrgenommen wird, sondern als Lust, häufig in der Kombination aus Arbeit und Konsum. Der zentrale Begriff zur Benennung dieses Zustandes ist: Entfremdung. Ebermann verwendet diesen Terminus von Hegel und Marx (er ist belesen) im Sinn der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, radikalisiert durch Herbert Marcuses »Große Weigerung«.
Corona ist für ihn eine »Störung« in einem »Betriebsablauf«, der ungut war und bleibt, auch wenn die Pandemie einmal beendet sein sollte. Dass Covid-19 mit allen geeigneten medizinischen Mitteln zu bekämpfen ist, gehört ebenfalls zu den Binsenweisheiten, die nicht mehr wiederholt werden müssen. Am Ende aber sollte nicht die Wiederherstellung des Status quo ante stehen – sondern was?
Hier, das ist aus diesem gedankenreichen Buch zu lernen, könnte das Nachdenken über den Zustand einer Gesellschaft beginnen, in der Entfremdung kein Normalzustand mehr ist. Über sie schrieb 1880 Paul Lafargue in seinem Manifest »Das Recht auf Faulheit« und viel später Theodor W. Adorno in seinem Aphorismus »Sur l’eau«. Zum Beispiel: Ziel sinnvollen Produzierens sei allein, »dass keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt.« Stattdessen: »Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuss selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten« (Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Adorno: Gesammelte Schriften, Band 4, S. 179). Das wäre, folgt man Thomas Ebermann, der wahre Lockdown, auch ohne Pandemie.
Thomas Ebermann: Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie. KVV konkret Hamburg 2021, 132 S., 19,50 €.