Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Gegen die Rückkehr zur Normalität

2019 ver­öf­fent­lich­te Tho­mas Eber­mann das Buch »Lin­ke Hei­mat­lie­be. Eine Ent­wur­ze­lung« (sie­he Ossietzky 11/​2019). Es beruh­te auf einem sati­ri­schen Vor­trags­pro­gramm, das er zusam­men mit Thor­sten Mense gestal­te­te und das sei­ner­zeit die Säle füll­te – ein gro­ßer Spaß über die damals gras­sie­ren­de Lie­be zum Trau­li­chen. Der Ton war typi­scher Eber­mann: über­le­ge­ner Spott.

Dann, 2020, kam Coro­na. Die Säle wur­den geschlos­sen, das Lachen ver­stumm­te. Als ein Jahr spä­ter hier­zu ein neu­es Buch von Tho­mas Eber­mann ange­kün­digt wur­de, konn­te man skep­tisch sein: War das nicht ein zu ern­stes The­ma für Sati­re? Und wel­che Posi­ti­on war von dem Ver­fas­ser zu erwar­ten? Ein Freund staat­li­cher Zwän­ge war er nie gewe­sen. Wür­de er sich gegen die­se zwecks Ver­tei­di­gung der Frei­heit (zum Bei­spiel auch der Demon­stra­ti­ons­frei­heit) zur Wehr set­zen? Aber an der Sei­te der Coro­na-Leug­ner kann man sich Eber­mann über­haupt nicht vorstellen.

Tat­säch­lich über­rascht das Buch. Es ist tief­ernst. Der Autor eifert nicht gegen den Lock­down. Im Gegen­teil: Die­ser geht ihm nicht weit genug. Er wie­der­holt nicht die zutref­fen­de Kri­tik, die andern­orts ja auch zu lesen ist, näm­lich: Die staat­li­chen Maß­nah­men waren auf zwei Zwecke abge­stimmt. Erstens soll­te das öffent­li­che Leben so weit ein­ge­schränkt wer­den, dass die Kapa­zi­tä­ten des her­un­ter­ge­spar­ten Kran­ken­haus­we­sens gera­de noch aus­reich­ten. Zwei­tens aber durf­te die indu­stri­el­le Pro­duk­ti­on mög­lichst wenig gestört wer­den. So star­ben an Covid-19 Men­schen, die jetzt noch leben könn­ten. Soweit und so bekannt und so traurig.

Eber­manns Kri­tik setzt eine Ebe­ne tie­fer an. Sie zielt auf den Impe­ra­tiv, es sei recht bald wie­der zu den Ver­hält­nis­sen vor der Pan­de­mie zurück­zu­keh­ren. Alles müs­se wie­der so wer­den, wie es war. Die­ser Nor­mal­zu­stand aber war für den Ver­fas­ser nie erstre­bens­wert. Er bedeu­tet Placke­rei und Fremd- und Selbst­un­ter­drückung der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit. Ein sol­ches oft gar noch als Glück emp­fun­de­nes Elend ist dann voll­endet, wenn es gar nicht mehr als Last wahr­ge­nom­men wird, son­dern als Lust, häu­fig in der Kom­bi­na­ti­on aus Arbeit und Kon­sum. Der zen­tra­le Begriff zur Benen­nung die­ses Zustan­des ist: Ent­frem­dung. Eber­mann ver­wen­det die­sen Ter­mi­nus von Hegel und Marx (er ist bele­sen) im Sinn der Kri­ti­schen Theo­rie der Frank­fur­ter Schu­le, radi­ka­li­siert durch Her­bert Mar­cuses »Gro­ße Weigerung«.

Coro­na ist für ihn eine »Stö­rung« in einem »Betriebs­ab­lauf«, der ungut war und bleibt, auch wenn die Pan­de­mie ein­mal been­det sein soll­te. Dass Covid-19 mit allen geeig­ne­ten medi­zi­ni­schen Mit­teln zu bekämp­fen ist, gehört eben­falls zu den Bin­sen­weis­hei­ten, die nicht mehr wie­der­holt wer­den müs­sen. Am Ende aber soll­te nicht die Wie­der­her­stel­lung des Sta­tus quo ante ste­hen – son­dern was?

Hier, das ist aus die­sem gedan­ken­rei­chen Buch zu ler­nen, könn­te das Nach­den­ken über den Zustand einer Gesell­schaft begin­nen, in der Ent­frem­dung kein Nor­mal­zu­stand mehr ist. Über sie schrieb 1880 Paul Lafar­gue in sei­nem Mani­fest »Das Recht auf Faul­heit« und viel spä­ter Theo­dor W. Ador­no in sei­nem Apho­ris­mus »Sur l’eau«. Zum Bei­spiel: Ziel sinn­vol­len Pro­du­zie­rens sei allein, »dass kei­ner mehr hun­gern soll. Alles ande­re setzt für einen Zustand, der nach mensch­li­chen Bedürf­nis­sen zu bestim­men wäre, ein mensch­li­ches Ver­hal­ten an, das am Modell der Pro­duk­ti­on als Selbst­zweck gebil­det ist. In das Wunsch­bild des unge­hemm­ten, kraft­strot­zen­den, schöp­fe­ri­schen Men­schen ist eben der Feti­schis­mus der Ware ein­ge­sickert, der in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft Hem­mung, Ohn­macht, die Ste­ri­li­tät des Immer­glei­chen mit sich führt.« Statt­des­sen: »Einer Mensch­heit, wel­che Not nicht mehr kennt, däm­mert gar etwas von dem Wahn­haf­ten, Ver­geb­li­chen all der Ver­an­stal­tun­gen, wel­che bis dahin getrof­fen wur­den, um der Not zu ent­ge­hen, und wel­che die Not mit dem Reich­tum erwei­tert repro­du­zier­ten. Genuss sel­ber wür­de davon berührt, so wie sein gegen­wär­ti­ges Sche­ma von der Betrieb­sam­keit, dem Pla­nen, sei­nen Wil­len haben, Unter­jo­chen nicht getrennt wer­den kann. Rien fai­re com­me une bête, auf dem Was­ser lie­gen und fried­lich in den Him­mel schau­en, ›Sein, sonst nichts, ohne alle wei­te­re Bestim­mung und Erfül­lung‹ könn­te an Stel­le von Pro­zess, Tun, Erfül­len tre­ten« (Mini­ma Mora­lia. Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben. In: Ador­no: Gesam­mel­te Schrif­ten, Band 4, S. 179). Das wäre, folgt man Tho­mas Eber­mann, der wah­re Lock­down, auch ohne Pandemie.

Tho­mas Eber­mann: Stö­rung im Betriebs­ab­lauf. Systemir­rele­van­te Betrach­tun­gen zur Pan­de­mie. KVV kon­kret Ham­burg 2021, 132 S., 19,50 €.